Das Public Viewing hat seinen Ursprung in Dortmund und ein Mann hat entscheidend dazu beigetragen: Gerd Kolbe. Wie der ehemalige BVB-Pressesprecher das geschafft hat und mit der Idee sogar die FIFA überzeugte.
Es ist ein bewölkter Dienstag. Ungemütlich, windig und mit Aussicht auf Regen. Der ehemalige Pressesprecher des BVB, Gerd Kolbe, steht auf dem Friedensplatz an der Friedenssäule. Im Trockenen im Rathaus erzählt er die Geschichte eines Mannes, der sein ganzes Leben für den BVB und die Stadt Dortmund gearbeitet hat: Im Presse- und Informationsamt, als BVB-Pressesprecher und als WM-Beauftragter der Stadt. Dieses Jahr feiert er seinen 80. Geburtstag.
Wie beginnt Gerd Kolbes Beziehung zum BVB? „Ich stamme aus Ueckermünde am Stettiner Haff. Meine Eltern sind 1946 vertrieben worden. Wir sind über Itzehoe nach Dortmund gekommen. Am 19. Mai 1953, das war der Donnerstag vor Pfingsten. Wir wohnten ungefähr fünf, sechs, sieben Minuten Fußweg von der Westfalenhalle entfernt und maximal acht Minuten von der Roten Erde“, erzählt Kolbe. Kaum einen Tag in der neuen Heimat, sagt sein Vater, dass die Familie jetzt in Dortmund zu Hause sei. Dazu gehört auch das Erkunden der Stadt. Er schlägt für Pfingstsonntag vor, in einen Tierpark zu gehen, der neu eröffnet. Kolbes Vater erwähnt auch, dass ein Vorrundenspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft stattfindet.
Er führt ein, dass jeder in der Familie eine Stimme hat, um für den Sonntagsausflug abzustimmen. „2:1 ging diese Abstimmung aus für Borussia Dortmund. Meine Mutter haben wir damit getröstet, dass es auch noch einen Pfingstmontag gibt. Dann habe ich an diesem Pfingstsonntag das allererste BVB-Spiel gesehen, gegen den Hamburger SV. Ich habe einige der größten BVB-Spieler aller Zeiten erlebt“, sagt Kolbe. Besonders begeistert hat ihn Max Michallek. „Max Michallek ist vielleicht der bedeutendste Fußballer, den der BVB jemals selbst hervorgebracht hat.“
Kolbes Weg zum BVB-Pressesprecher
72 Jahre lang ist Kolbe nun BVB-Fan. Als kleines Kind will er Sportreporter werden. Denn er bewundert die Journalisten, die damals über die WM 1954 berichten. „Das bin ich jetzt nicht geworden, aber auf gewissen Nebengebieten habe ich mich dann fröhlich getummelt.“ Er fängt mit 14 Jahren als Verwaltungslehrling im Sportamt der Stadt Dortmund an. Schon damals mit Fußballbezug, denn der damalige Mittelstürmer des BVB, Alfred Kelbassa, ist sein Ausbilder.

Nach einigen Stationen in der Verwaltung geht es für ihn ins Presseamt der Stadt. Pressesprecher des BVB wird er mit 30 Jahren durch Erich Rüttel, damals Sport- und Personaldezernent und einer der treibenden Kräfte beim Bau des Westfalenstadions. Er fragt Kolbe, ob der nicht Lust hätte, die Aufgabe ehrenamtlich zu übernehmen. „Es war bekannt, dass ich diese Fußball- oder diese Sportaffinität hatte. Also habe ich gesagt: Warum nicht? Das wäre nicht schlecht, würde auch zu dem passen, was ich hier bei der Stadt mache als Teil meiner Öffentlichkeitsarbeit“, erklärt er.
Mit den Leuten dort kommt er in seiner Zeit immer gut zurecht. Seine Devise damals: „Der Pressesprecher hat eine dienende Aufgabe. Er stellt sich in den Dienst einer bestimmten Sache, in dem Falle des BVB, aber auch in den Dienst der Persönlichkeiten, die den Verein präsentieren. Da hat man eine gewisse Flexibilität zu zeigen und sich anzupassen. Ich habe das immer mit Fröhlichkeit gemacht und habe die Menschen so auf meine Seite gebracht.“ Gerd Kolbe führt Trainergespräche am Donnerstag ein, in denen der Trainer mit Pressevertreter*innen einen Ausblick auf das kommende Spiel gibt. Und er gründet das Vereinsecho BVB Aktuell: ein Heft mit den wichtigsten Informationen zum Spiel, was zu den Heimspielen herausgegeben wird.
Verlaufen und doch am richtigen Ort
Aktuell ist Gerd Kolbe der Archivar und Leiter der AG Tradition beim BVB. Dies wird er durch den Gang in den falschen Raum bei einer Vorstandssitzung 1976. „Eines Tages wusste ich nicht, wo die Toilette war, habe jemanden gefragt und bin in einem Ablageraum gelandet. Da waren alte Wimpel und Pokale gestapelt. Ich habe zu dem damaligen Präsidenten Heinz Günter gesagt: ,Ich habe was Tolles gesehen, in so einem Raum.‘ Da sagte der: ,Brauchen wir nicht, soll in der nächsten Woche abgeholt werden von der Müllabfuhr.‘ Und ich habe dann gesagt: ,Kann doch nicht sein. Wenn die wegmüssen, nehme ich die lieber.‘ Das war der Ausgangspunkt der Sammlung.“
Darauf aufbauend hat Kolbe zeitweise 30.000 Exponate bei sich zuhause. Diese bilden den Grundstein für das 2009 eröffnete Borusseum. „Als ich diese Sachen irgendwann an den BVB abgab, hat meine Frau dem lieben Gott auf Knien gedankt – endlich Platz in der Hütte“, sagt Kolbe und lacht. „Mich interessiert die Historie einfach. Für den BVB war es eine glückliche Fügung und mir hat es Spaß gemacht.“
Aufarbeitung der BVB-Historie
Die Tätigkeit als Archivar ist für ihn ein Hobby, das immer mehr zu seiner Haupttätigkeit wird. „Die Historie war Borussia Dortmund damals nicht wichtig. Dass Franz Jacobi den BVB gegründet hatte, wurde gerade noch zur Kenntnis genommen, mehr aber auch nicht. Das hat mich persönlich ein bisschen geschmerzt. Daher habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Menschen, die für die Geschichte des Vereins wichtig sind, wieder in den Blick zu nehmen. Das halte ich für angemessen und wichtig“, erklärt Kolbe.
Er sorgt außerdem rund um die Jahrtausendwende dafür, dass der BVB sich als erster Verein in Deutschland mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzt. Anlass waren rechte Aufmärsche zu der Zeit. Als damaliger Pressesprecher der Stadt Dortmund initiiert Kolbe mit dem BVB-Präsidenten Gerd Niebaum und dem Oberbürgermeister Gerhard Langemeier einen Runden Tisch gegen rechts. Die Aufarbeitungen sind mittlerweile als Buch erschienen.
Wie der Grundstein zum Public Viewing gelegt wurde
Auch an der Gründung der Fantreffs ist Gerd Kolbe beteiligt. „Eines guten Tages ging bei mir im Presseamt die Tür auf und jemand in einer Polizeiuniform stellte sich vor: ,Mein Name ist Bernhard Leidiger, ich bin Polizeidirektor hier in Dortmund und ich habe eine Idee. Borussia spielt im UEFA-Cup gegen Celtic Glasgow und mein Gedanke ist, etwas zu kreieren, was deeskalierend wirken kann. Wir holen die Fans beider Vereine zusammen, auf dem Friedensplatz, auf dem alten Markt, auf dem Europaplatz und machen mit denen eine schöne Feier. Wir fangen um 12 Uhr an, das Spiel ist um 20 Uhr. Wir machen das bis 18 Uhr und dann gehen die ins Stadion. Dann sind sie schon ein bisschen müde, wenn sie den Weg antreten. Was halten Sie davon?‘“

Kolbe ist begeistert: „Leidiger sagte einen schönen Satz: ,Der DFB ist dagegen, die UEFA ist dagegen, die FIFA ist auch dagegen.‘ Weil die eine strikte Fantrennung haben wollten. Die Fans zusammen zu holen war aus ihrer Sicht grober Unsinn.“ Kolbe geht zum Oberstadtdirektor, der die Idee wider allen Zweifel absegnet. 1987 gibt es den ersten Fantreff, mit Musik und Essen. „Die Fans sind unheimlich friedlich miteinander umgegangen“, erinnert sich Kolbe. „1989 haben wir dann die erste Übertragung eines Spiels gemacht. Das ist der Ausgangspunkt für die Public Viewings weltweit.“
Dortmund als Vorbild für Fantreffs bei der WM
Aufgrund der guten Erfahrungen schlägt Kolbe als WM-Beauftragter der Stadt das Konzept auch der FIFA für die WM 2006 vor: „Die lehnte das zunächst rigoros ab, stellte dann aber fest, dass die Nachfrage nach Karten viel zu hoch war in Relation zu den bereitgestellten Karten. Nachdem die Presse herausfand, dass die FIFA die Karten für ihre Sponsoren zusammenhielt, griff sie die Idee wieder auf. Spaßeshalber gesagt: Ich bin das personifizierte Sommermärchen“, sagt Kolbe und lacht.
Mit den WM-Beauftragten der anderen zwölf WM-Städte legt Gerd Kolbe sich damals weiter mit der FIFA an. Die FIFA will ausschließlich Produkte ihrer Sponsoren bei den Fantreffen verkaufen. Die Städte aber wollen ihre lokalen Getränke und Gerichte anbieten. „Oh, da war die Hölle los, da haben wir sie im Grunde gezwungen. Wir Zwölf haben mit einer Zunge gesprochen und bilaterale Verhandlungen dadurch ad acta gelegt. Die Sache ging fröhlich über die Bühne und die FIFA hat nachher auch noch eine Million zugegeben, damit wir die Fantreffs machen konnten“, berichtet Kolbe stolz.
An die WM 2006 hat er ansonsten nur gute Erinnerungen: „Wir hatten einen Monat lang jeden Tag Programm. Das war schon stark. Wir haben vor allem alle Spiele übertragen. Das war jeden Tag so, als wenn eine Meisterfeier wäre. Das war ein irres Ding.“ All die Fantreffen und Übertragungen finden auf dem Friedensplatz statt, der für Gerd Kolbe, abgesehen davon, dass er mal im Rathaus und im Presseamt gearbeitet hat, auch deshalb eine besondere Bedeutung hat.
Seine Erfahrung in Entertainment umgewandelt
Mittlerweile tritt Gerd Kolbe mit einigen Programmen auf. Dort trägt er u.a. Anekdoten vor. „Ich bin Geschichtenerzähler. Und der ehemalige Veranstaltungsleiter der Westfalenhalle, Jochen Meschke, hatte den Gedanken, wir könnten ja eine Revue machen. Mit Geschichten aus der Historie des BVB und mit Liedern von Kasche Kartner. Der hat ein ganzes Repertoire von BVB-Songs. Ich erzähle zehn, elf Geschichten und er singt immer, wenn ich aufhöre. So ergibt sich ein amüsanter Abend.“ Sein Duo-Partner, Matthias „Kasche“ Kartner, ist ein Dortmunder Musiker, der unter anderem die Version von „You’ll never walk alone“ gesungen hat. Der Song wird vor jedem BVB-Heimspiel gespielt.

Es geht Kolbe dabei vor allem darum, den Fans zu zeigen, dass der Verein noch mehr ist als seine Erfolge. Viel wichtiger seien die Geschichten rundherum. Die für ihn wichtigste Anekdote: „Wir hatten einen Trainer, der hieß Hermann Lindemann, der war unheimlich beliebt bei den Spielern, aber auch unheimlich eitel. Er hatte einen ziemlichen Augenfehler und hätte auf der Bank eigentlich immer eine Brille gebraucht, um überhaupt etwas zu sehen. Eitel wie er war, setzte er die Brille aber immer ab. Und das führte zu kuriosen Situationen. Wir spielen in Aachen. Aachen spielt in schwarz-gelb als Gastgeber, wir in weiß. Aachen geht in der siebten Minute in Führung und unser Trainer springt auf und jubelt fröhlich vor sich. Bis dann einer kam und sagte: ,Trainer, komm, war der Gegner.‘“
„Nach einem Spiel, das er wieder ohne Brille gesehen hatte, ging er in die Umkleidekabine, stellte sich vor den splitternackten Kapitän Wolfgang Paul, der gerade unter die Dusche wollte und sagte zu ihm anklagend und mit Vorwurf in der Stimme: ,Wolfgang Paul, warum ist dein direkter Gegenspieler in der 78. Minute völlig freistehend vor unserem Tor zum Schuss gekommen?‘ Daraufhin machte Wolfgang Paul einen kleinen Diener und sagte: ,Das war ein Elfmeter, Trainer.‘ Das ist grandios.“
Dankbar und zufrieden
Das Gefühl, irgendetwas verpasst oder nicht gemacht zu haben, hat der aktuelle BVB-Archivar nicht. „Ich habe unglaubliche Sachen machen dürfen. Ich hätte eigentlich für meinen Beruf Vergnügungssteuer zahlen müssen. Und wer das von sich sagen kann, der hat unheimliches Glück gehabt mit seinem Beruf und mit dem, was er machen durfte. Meisterfeiern für den BVB organisieren, Pressesprecher bei Borussia werden, die WM organisieren, Brasilien, Südafrika, die Ukraine und Rostow am Don zu beraten bei Fußballweltmeisterschaften. Das ist ein unheimliches Geschenk. Es gibt nichts, bei dem ich sagen würde: Das hätte ich auch noch gerne gemacht“, sagt Kolbe zufrieden.
Beitragsbild: Kevin Bindig