Olympia und der Endspurt: Werden die besten Ergebnisse zum Schluss erzielt?

Acht Läuferinnen stehen auf einer roten Laufstrecke an der Startlinie.

Der Endspurt – nicht nur im Sport, auch beispielsweise beim Schreiben einer Bachelorarbeit steht er für: Jetzt ist es kurz vor Ende, streng dich noch einmal an, hol alles raus, was möglich ist! Ein Blick auf die Leichtathletik zeigt zahlreiche Disziplinen, in denen Sportler*innen mehrere Versuche wagen dürfen. Werden die besten Ergebnisse im letzten Versuch erzielt? Eine Datenanalyse.

Es war eines der Highlights der Olympischen Spiele in Tokyo: Die Athletin Malaika Mihambo kämpft, sie liegt zwei Zentimeter hinter dem besten Ergebnis ihrer Kontrahentinnen – und holt nach zwei Fehlversuchen dann doch noch die Goldmedaille im Weitsprung für Deutschland.

Es ist die erste Olympia-Medaille für die 27-Jährige aus Heidelberg und markiert vorerst den sportlichen Höhepunkt ihrer Karriere, nachdem sie in den beiden Jahren zuvor in Folge bereits als deutsche Sportlerin des Jahres ausgezeichnet wurde.

Mihambo sagt in der NDR Sportclub Doku „Mein langer Anlauf zum Gold“ über sich selbst: „Ich bin schon jemand, der im letzten Versuch, ob das jetzt der dritte ist oder der sechste, immer nochmal einen rausholen kann.“

Das hat sie in Tokyo bewiesen. Sie hat es mit ihren ersten drei Sprüngen unter die besten acht geschafft und durfte im Endkampf dann noch dreimal antreten. Zwei Versuche verschenkt sie, aber der dritte sitzt und sie springt auf den ersten Platz. Sie schafft es als eine von zwei Athletinnen in diesem Wettkampf, sich spät noch einmal zu verbessern. Die meisten anderen haben bereits im zweiten oder dritten Versuch alles gegeben.

Analyse der Daten von sechs Disziplinen

Ging es anderen Sportler*innen bei Olympia 2020 ähnlich? Diese Datenanalyse untersucht die Finalkämpfe der besten acht Sportler*innen in sechs Leichtathletikdisziplinen, in denen sie mehrere Versuche haben, Bestleistungen zu erzielen: Diskuswurf, Hammerwurf, Kugelstoßen, Speerwurf, Dreisprung und Weitsprung.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Wettkämpfe in Vor- und Endkampf eingeteilt werden. Nach den ersten drei Versuchen dürfen die besten acht (vor 1968 die besten sechs) Athlet*innen nochmal drei Versuche abliefern. Psychologisch ist der dritte Versuch also ebenfalls ein „letzter Versuch“, wie der sechste: Sind die Wettkämpfenden nicht gut genug, ist der dritte ihr letzter Versuch. Ein Blick über alle diese Disziplinen zeigt: Im dritten und sechsten Versuch haben die Athlet*innen am häufigsten ihre beste Wertung erzielt.

Dieses Muster lässt sich in dieser Grafik gut erkennen: Eine*r von vier Athlet*innen erzielt das beste Ergebnis im dritten Versuch, das ist im Vorkampf und über alle Versuche der größte Anteil. Der dritte Endkampfversuch ist ebenfalls der, in dem die meisten Athlet*innen noch einmal alles geben und eine Bestleistung erreichen.

Betrachtet man alle Olympischen Spiele, für die konsistent Ergebnisse einzelner Versuche vorliegen, ergibt sich ein leicht verändertes Bild. Im Vorkampf und insgesamt haben die Wettkämpfenden historisch mit 21 Prozent meistens im ersten Versuch die beste Leistung erbracht.

Eine mögliche Erklärung: Die Ausdauer der Sportler*innen bei den frühen Olympischen Wettkämpfen könnte niedriger gewesen sein als in jüngerer Zeit. Mit fortschreitender Professionalisierung der Sportszene dürften die Trainer*innen auch mehr Wert auf kontinuierliche Höchstleistung gelegt haben.

Ein Blick auf die detailliertere Aufschlüsselung der Daten offenbart unterschiedliche Muster, je nach betrachteter Disziplin. Die Hammerwerfer*innen zeigen die extremste Entwicklung im Vorkampf: Während nur 11 Prozent ihre Bestleistung direkt beim ersten Mal abrufen, schaffen im dritten Versuch 25 Prozent einen persönlichen Höchstwert.

Beim Speerwurf sieht es genau andersherum aus: Ganze 28 Prozent beginnen den Wettkampf mit einer Höchstleistung, danach nimmt der Anteil stetig ab. Tendenziell verlangt der Hammerwurf mehr Technik und Speerwurf mehr Kraft: Das heißt beim Speerwurf fließt die Hauptanstrengung in den ersten Versuch, während die Hammerwerfer*innen mit jedem Versuch noch ihre Wurftechnik verbessern.

Kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern

Frauen und Männer ähneln sich stark; die Leistungsunterschiede im Endkampf von zehn bis 16 Prozent bei den Frauen sind etwas stärker ausgeprägt als bei den Männern von zwölf bis 15 Prozent. Generell werden im Endkampf seltener Bestleistungen erzielt als im Vorkampf.

Hier nicht dargestellt sind die Athlet*innen, die es nicht unter die besten acht geschafft und somit nur drei Versuche bekommen haben: Mit 33, 30 und 37 Prozent im ersten, zweiten und dritten Versuch ist hier wieder zu beobachten, dass der potentiell letzte Versuch häufig der beste war.

Einen Erklärungsansatz für den geringeren Anteil von Bestversuchen im Endkampf bietet der Blick auf die Fehlversuche. Athlet*innen können durch Fehler wie versehentliches Übertreten des Brettes beim Weitsprung oder auch absichtlich ungültige Versuche erzeugen.

Diese Fehlversuche verteilen sich vor allem auf die späteren Versuche: Nur jede zehnte ungültige Wertung passiert im ersten Versuch. Im vierten, fünften und sechsten Versuch kommt das doppelt so oft vor.

Die Konzentration lässt womöglich mit Fortschreiten des Wettkampfs nach, ebenso wie die körperliche Kraft. Es ist auch vorstellbar, dass die Wettkämpfenden ihre Körper schonen, sobald sie eine zufriedenstellende Leistung erbracht haben, um keine Verletzung zu riskieren. Auch möglich: Zum Schluss riskieren die Sportler*innen mehr, um ihre bisherige Bestleistung noch zu übertreffen.

Lässt sich „Endspurt“ auch anders definieren? Statt der Betrachtung, wann der eine, beste Versuch erzielt wird, lohnt sich ein Blick darauf, ob die Wettkämpfenden ihre Leistung über den Verlauf des Wettkampfes steigern konnten.

Steigerung über fast alle Disziplinen

Beim Speerwurf ist auch hier zu sehen, dass die Leistung im Mittel nach dem ersten Versuch abfällt. Für das Mittel wird hier der Median verwendet, da er weniger durch Ausreißer wie besonders starke Leistungen verzerrt ist als der Durchschnitt.

In fast allen anderen Disziplinen ist zu erkennen, dass sich die Athlet*innen steigern konnten: Nur im Diskus bei den Frauen und Dreisprung bei den Männern fiel das letzte Ergebnis schlechter aus als das erste.

Der Mythos vom Endspurt ist auch im Sport vorhanden, zumindest bei den untersuchten Leichtathletikdisziplinen der Olympischen Spiele. Es gibt je nach Disziplin jedoch unterschiedliche Muster, die sich auf die unterschiedlichen technischen und körperlichen Anforderungen zurückführen lassen könnten und nicht immer einem Endspurt entsprechen. Eine Leistungssteigerung im Verlauf des Wettkampfs im Vergleich zum ersten Versuchsergebnis lässt sich ebenfalls als Endspurt interpretieren. Diese Verbesserung trat im Mittel bei fast allen Disziplinen auf.

Mit dem Endspurt geht allerdings auch ein höheres Risiko für einen Fehlversuch einher: Wenn die Athlet*innen noch einmal alles herausholen wollen, kann das auch daneben gehen. Malaika Mihambo will sich nicht nur darauf verlassen, dass sie im letzten Versuch „immer nochmal einen rausholen kann“, sagt sie in der NDR-Dokumentation „Mein langer Anlauf zum Gold“: „Das ist gut zu wissen, aber ich möchte mich nicht darauf ausruhen, sondern versuche schon möglichst in den ersten Versuchen eine gute Weite zu erreichen.“

Beitragsbild: Matt Lee/Unsplash

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