
Von schiefen Bordsteinkanten bis zum abgestellten E-Scooter: Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, hat immer wieder mit Hindernissen zu tun. Beim Mobilitätstraining lernen Rollstuhlfahrer*innen, wie sie eigenständig ihren Alltag bestreiten können.
Samstagmorgen, kurz nach 9 Uhr. Popmusik schallt durch eine Sporthalle im Dortmunder Osten. Die Halle wirkt modern, die Wände sind weiß und schnörkellos. Helles Licht fällt durch die großen Fenster und durchflutet das Gebäude. Hier und dort stehen ein paar Personen zusammen und unterhalten sich. Andere wuseln noch umher. Aus dem kleinen Vorraum strömt ein verlockender Duft von frisch gebrühtem Kaffee und knusprigen Keksen. Ein liebevoll eingerichteter Verpflegungsstand lädt die Besucher*innen ein, sich noch schnell zu stärken, bevor es losgeht.
Fünf Teilnehmer*innen im Rollstuhl haben sich an diesem Wochenende zum Workshop angemeldet. Sie wollen lernen, wie sie mit dem Rollstuhl sicherer und eigenständiger den Alltag bestreiten können. Barrieren und Hindernisse gibt es für sie in unseren Städten nämlich zuhauf: Bordsteinkanten und Treppenstufen, Leih-E-Scooter, die im Weg stehen, Kopfsteinpflaster. Fußgänger*innen nehmen diese Hürden meistens überhaupt nicht als solche wahr. Für Rollstuhlfahrer*innen aber können solche Stellen unüberwindbar sein.
Mit dem Rollstuhl den Alltag meistern

Foto: Alexandra Hansen
Eine der Teilnehmer*innen ist Alexandra Hansen. Sie streicht sich immer wieder ihre braunen Locken aus dem Gesicht, auf ihren Lippen liegt stets ein leichtes Lächeln. Die 55-Jährige ist seit 2020 vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. Sie erzählt: „Vom Sanitätshaus bekommt man den Rollstuhl nur hingestellt. Aber wie man das Hilfsmittel benutzt, das muss man sich selber aneignen.“ Deswegen nimmt Alexandra regelmäßig an Mobilitätstrainings teil, so wie an diesem Wochenende in Dortmund. Der Workshop wird von der Reha- und Behindertensport-Gemeinschaft Dortmund (RBG) veranstaltet. An drei Wochenenden im Jahr lernen die Rollstuhlfahrer*innen Techniken, um verschiedene Situationen im Alltag zu meistern. An diesem Wochenende geht es darum, wie sie mit dem Rollstuhl besser im ÖPNV zurechtkommen können.
Los geht es in der Sporthalle. Petra Opitz, Geschäftsführerin der RBG Dortmund und Organisatorin des Workshops, begrüßt die Teilnehmer*innen. Dieses Wochenende sei eine großartige Möglichkeit, um mehr Selbstbeständigkeit mit dem Hilfsmittel Rollstuhl zu bekommen. Petra weist aber auch darauf hin, dass die nächsten zwei Tage anstrengend sein werden, und bittet alle, regelmäßig Pausen zu machen.
Ein Balanceakt

In der Halle bereiten die Helfer*innen des Vereins die ersten Aufwärmübungen vor. Auf ihren Pullovern steht das Motto des Vereins: „Nichts hindert Dich!“ Die Helfer*innen legen die typischen blauen Turnmatten auf dem Boden aus. Die Rollstuhlfahrer*innen sollen jetzt auf die Matten fahren. Die Kante, die sie dafür überwinden müssen, ist gute zehn Zentimeter hoch. Mit dem Rollstuhl kann das eine ziemliche Herausforderung sein.
Auch Alexandra übt das sogenannte „Kippeln“. Sie fährt langsam an die Kante heran und verlagert ihr Gewicht so, dass die vorderen kleinen Lenkräder am Rollstuhl ein Stück in der Luft schweben. Sie muss jetzt ihr Gleichgewicht auf den großen Rädern halten. Ein Balanceakt, denn lehnt sie sich zu weit zurück, kann sie hintenüberkippen, bleibt sie zu weit vorn, kann sie die Vorderräder nicht anheben. Hat sie den richtigen Balancepunkt gefunden, muss sie vorsichtig nach vorne rollen, um die kleinen Lenkräder auf der Matte abzusetzen, bevor sie ihr Gewicht nach vorne verlagern und den Rollstuhl nachziehen kann. Auch beim Herunterfahren von der Matte muss Alexandra wieder auf ihren Rädern balancieren und langsam über die Kante fahren, um nicht vorn- oder hintenüber zu kippen.
“Keine Option, nur im Pflegesessel zu sitzen”
Da im Alltag nicht alle Bordsteine abgesenkt und leicht befahrbar sind, sollen Übungen wie diese simulieren, wie Rollstuhlfahrer*innen die Bordsteinkanten befahren können. Im Workshop erlernen die Rollstuhlfahrer*innen dafür die richtige Technik.
Alexandra sind Mobilitätstrainings sehr wichtig. Dadurch lernt sie, wie sie eigenständiger und aktiver an der Gesellschaft teilhaben kann: „Es ist für mich keine Option, zuhause zu bleiben und im Pflegesessel zu sitzen. Ich möchte weiterhin meinen Alltag so selbstständig wie möglich erledigen können.“ Dafür sei der Rollstuhl unverzichtbar. „Es ist für mich das Hilfsmittel, das mir quasi meine Beine ersetzt, das die Gehfähigkeit kompensieren soll. Deswegen muss ich bestmöglich mit dem Rollstuhl umgehen können.“
Inklusion ist Menschenrecht
Laut einer Übersicht des Bundestages sind Schätzungen zufolge gut 1,5 Millionen Menschen in Deutschland auf einen Rollstuhl angewiesen. Das Statistische Bundesamt erfasst zwar alle Fälle von Schwerbehinderungen in Deutschland, genaue Zahlen zur Rollstuhlnutzung werden aber nicht gesondert erhoben. Viele Rollstuhlfahrer*innen wünschen sich vor allem mehr Teilhabe – und weniger bauliche Barrieren.
Busfahren: Hürden im Alltag
Zurück beim Mobilitätsworkshop in Dortmund: Die Gruppe hat sich mittlerweile an einer Bushaltestelle in Dortmund versammelt. Regen hat eingesetzt und die Teilnehmer*innen drängen sich unter eine große, gläserne Überdachung. Ein paar Passant*innen werfen der Gruppe interessierte Blicke zu. Hier sollen die Rollstuhlfahrer*innen lernen, wie sie sicher mit Bus und Bahn fahren. Dafür arbeitet der Verein mit DSW21 zusammen, die den ÖPNV in Dortmund betreiben. Es steht ein Bus zum Üben bereit. Zwei Busfahrer, die sich mit der richtigen Nutzung des ÖPNV auskennen, geben den Teilnehmer*innen Tipps zum Einsteigen und Mitfahren im Rollstuhl.
Schnell erfährt die Gruppe: Es muss viel berücksichtigt werden. Das fängt dabei an, dass oft nur ein Rollstuhl im Bus mitgenommen werden kann. Ist der Platz belegt, müssen Rollstuhlfahrer*innen auf den nächsten Bus warten. Eine weitere Herausforderung ist der Einstieg. Dafür muss der*die Busfahrer*in an der hinteren Tür eine Rampe ausklappen, sodass Rollstuhlfahrer*innen den Höhenunterschied zwischen Gehsteig und Bus überwinden können.
Gut festhalten, bitte!
Einmal in den Bus eingestiegen, müssen Rollstuhlfahrer*innen die richtige Position für die Mitfahrt einnehmen. Das sollen die Teilnehmer*innen jetzt üben: zum vorgesehenen Rollstuhlplatz fahren, entgegen der Fahrtrichtung „einparken“, Bremse einlegen und – wichtig – festhalten.
Als einer der Busfahrer von der nächsten Herausforderung erzählt, geht ein gespanntes Raunen durch die Runde. Der Bus soll eine kleine Runde fahren, auf einige Stundenkilometer beschleunigen und dann eine Gefahrenbremsung einlegen. Die Gruppe soll erleben, welche Kraft bei einer solchen Bremsung wirkt – insbesondere im Rollstuhl. Nicht jede*r ist sich sicher, ob er*sie sich diese Übung zutraut.
Als Alexandra an der Reihe ist, fährt sie sicher über die ausgefahrene Rampe in den Bus, dreht sich um die eigene Achse und stellt sich entgegen der Fahrtrichtung auf den Rollstuhlplatz. Der Bus beschleunigt und Alexandra umgreift die Stange neben ihr immer fester. Mit einem Mal geht ein heftiger Ruck durch den ganzen Bus. Weil Alexandra sich gut festhält, alle Gegenstände verstaut und sie den Rollstuhl sicher abgestellt hat, ist bei dieser Bremsung nichts passiert. Trotzdem ist sie überrascht: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, was bei einer kurzen Notbremsung für eine Dynamik entsteht und welche Gefahr davon ausgeht!“
“Ich fühle mich da ausgegrenzt”

Dass Rollstuhlfahrer*innen eigenständig mit dem Bus fahren können, ist ein Beispiel für Teilhabe im Alltag. Neben der richtigen Technik und Mobilitätstrainings wie bei der RBG Dortmund braucht es dafür auch barrierefreie Infrastruktur. Problematisch sind beispielsweise ältere Bus- und Bahnhaltestellen, an denen die Bordsteine so flach sind, dass Rollstuhlnutzende nicht vernünftig einsteigen können. Alexandra erzählt, dass sie im Alltag immer wieder vor Barrieren steht – wegen der Infrastruktur, aber auch wegen des fehlenden Verständnisses mancher Mitmenschen. Manchmal seien zum Beispiel die kleinen Fugen zwischen Wegeplatten so tief, dass sich die Lenkräder des Rollstuhls verkeilen können – eine Sache, auf die Menschen ohne Behinderung vermutlich gar nicht achten.
So etwas mache sie manchmal richtig sauer: „Ich fühle mich da ausgegrenzt und nicht gesehen mit meinem Bedarf – auch weil man meinen Bedarf gar nicht ermittelt.“ Teilweise habe sie das Gefühl, dass Behindertenparkplätze, Rampen und Co. nur fürs Label oder zur Erfüllung von Vorgaben eingerichtet werden, ohne den tatsächlichen Bedarf von Rollstuhlfahrer*innen zu berücksichtigen. Es gebe also strukturelle Probleme, sagt Alexandra. Aber: „Ich bin weit davon entfernt, komplett frustriert zu sein, denn an der Stelle würde ich den strukturellen Problemen nachgeben und nur noch zuhause bleiben.“ Das komme für sie nicht infrage.
Vorsicht an der Bahnsteigkante!
Beim Mobilitätstraining hat sich die Gruppe mittlerweile an einer Straßenbahnhaltestelle versammelt und um die Mitte des Bahnsteigs herum einen Kreis gebildet. Thema jetzt: Einsteigen in die U-Bahn. Am Gleis herrscht geschäftiges Treiben, ein paar Passant*innen fragen, was die Gruppe hier mache. Auf dem äußeren Gleis wartet eine Bahn, die für den Workshop bereitgestellt worden ist.
Die größte Herausforderung beim Einstieg ist der Höhenunterschied zwischen Zug und Bahnsteigkante. Fußgänger*innen bemerken den oft gar nicht, für Rollstuhlfahrer*innen kann er aber eine unüberwindbare Barriere sein. Einer der Helfer des Vereins zeigt, wie der Einstieg in die U-Bahn gelingt. Erneut müsse das „Kippeln“ angewendet werden, erklärt er. Dasselbe gilt für den Ausstieg. Wer dabei nicht aufmerksam ist, kann schnell das Gleichgewicht verlieren und entweder nach hinten kippen oder mit den Lenkrädern auf den Boden schlagen.
Neben der Technik geht es auch darum, wie Rollstuhlnutzende auf sich und ihre Bedürfnisse aufmerksam machen können. Alexandra meint später: „Das ist ein mega wichtiger anderer Teil des Workshops: Wie kommuniziere ich, was ich brauche?“ Nicht immer seien Mitmenschen verständnisvoll und proaktiv.
Der ganz normale Wahnsinn
Am nächsten Tag treffen sich die Teilnehmer*innen des Workshops wieder in der Halle. Es wartet eine besondere Tour auf die Gruppe: rund 800 Meter zu einer Straßenbahnstation. Die Strecke soll simulieren, welchen Hindernissen Rollstuhlfahrer*innen an einem ganz normalen Tag begegnen. Alexandra meint, dass Fußgänger*innen diese Hindernisse selbstverständlich umgehen können. Im Rollstuhl aber sei ein solcher Weg oft anstrengend: „Schiefe Bordsteine, hohe Bordsteine, niedrige Bordsteine, Kanten, Platten, die schief verlegt sind, plötzlich war zwischen den Platten nur noch Sand.“
Manchmal hilft auch die beste Routine nichts. Mitten auf einem schiefen Gehweg ist ein Leih-E-Scooter abgestellt worden. Mit einem Rollstuhl ist kein Vorbeikommen möglich. Die Teilnehmer*innen müssen über die Straße ausweichen – und ärgern sich darüber.
Mit dem Rollstuhl auf die Rolltreppe?
Wenig später sammelt sich die Gruppe auf dem Gleis der unterirdischen Straßenbahnhaltestelle. Hier sollen die Rollstuhlfahrer*innen üben, wie sie eine Rolltreppe nutzen können. Denn nicht immer sind Aufzüge intakt.
Alexandra kennt stressige Situationen an Bahnstationen aus ihrem Alltag. Sie nutzt regelmäßig eine Haltestelle, an der es nach einer Rolltreppe kurz vor dem Gleis drei Treppenstufen gebe. Diese Stufen kommt sie nicht herunter. „Da hat man sich in der Planung keine Gedanken gemacht“, vermutet sie.
Alexandras Schockmoment

In manchen Fällen ist die Rolltreppe die einzige Möglichkeit, weiterzukommen. Die Teilnehmer*innen müssen jetzt mit dem Rollstuhl langsam auf die Rolltreppe zufahren, sich mit beiden Händen am Handlauf festhalten und nach vorne lehnen. Wichtig ist, dass die Räder genau zwischen den Stufen eingeklemmt sind. Wollen Rollstuhlfahrer*innen mit einer Rolltreppe nach unten fahren, müssen sie rückwärts heranfahren. Außerdem sollte eine Begleitperson dabei sein.
Es ist die letzte Übung an diesem Wochenende – und für viele die anspruchsvollste. Nicht alle trauen sich die Fahrt auf der Rolltreppe zu. Als Alexandra an der Reihe ist, gibt es einen Schockmoment. Der kleine elektrische Antrieb, der an ihrem Rollstuhl angebracht ist, verkeilt sich auf der Rolltreppe und schiebt ihren Rollstuhl in die Höhe. Alexandras Gesicht erstarrt vor Schreck, sie umklammert den Handlauf. Nur weil ein Helfer aus dem Team bei der Fahrt hinter ihr steht und den Rollstuhl festhalten kann, kippt sie nicht hintenüber. Im Nachhinein sagt sie: „Ich wäre nicht in der Lage gewesen, mich aus dieser Situation zu retten. Das hätte garantiert zu einer Verletzung geführt.“ Trotzdem möchte sie weiterhin üben, wie man Rolltreppen nutzt.
“Gibt Sicherheit und Mut”
Alexandra blickt positiv auf den Workshop zurück: „Ich nehme mit, dass es Spaß macht, mobiler und sicherer zu werden. Die vielen Gespräche, die man mit den anderen Teilnehmer*innen und dem Trainierteam führt, geben Sicherheit und Mut.“ Von ihren Mitmenschen wünscht sie sich etwas mehr Aufmerksamkeit im Alltag, wenn sie zum Beispiel ihr Fahrrad oder ihren E-Scooter abstellen. Sie glaubt: „Wenn alle ein bisschen netter zueinander sind und ein bisschen aufmerksamer, dann kann das ganz gut gelingen. Es passiert zwar jeden Tag etwas, worüber man sich ärgern kann, aber es passieren auch jeden Tag viele Dinge, wo man sich freut und dankbar ist.“
Beitragsbild: Philipp Scharfschwerdt
