Die Dortmunder Nordstadt galt lange als Problemviertel. Doch seit ein paar Jahren verändert sich ihr Image. Engagierte Anwohner*innen und die Stadt haben Projekte angestoßen, die die Nordstadt sicherer, schöner und beliebter machen sollen. Eine Bestandsaufnahme.
Von den Wohnhäusern blättert an einigen Stellen graue Farbe ab. Plastiktüten liegen auf dem Bürgersteig und flattern im Wind. Eine Gruppe von Jugendlichen diskutiert lauthals auf verschiedenen Sprachen. An einer Ecke riecht es süßlich nach Baklava. Von der U-Bahnhaltestelle Münsterstraße sind es zu Fuß nur drei Minuten in die Fritz-Reuter-Straße. Ohne den Rahmen aus Efeu, eine kleine Holztafel und das Logo über der Eingangstür würde hier, mitten in der Dortmunder Nordstadt, das Café zunächst gar nicht auffallen.
Tatis Café eröffnete Anfang September 2021. An dieser Neueröffnung war einiges ungewöhnlich. Denn es sollte mehr als bloß ein Ort für einen Kaffee mit Freund*innen oder das Mittagessen mit Kolleg*innen werden – sondern Treffpunkt, Beratungsstelle, „Ort des Wachstums und des Wandels“, sagt Inhaberin Assia Fillal. Als junge, muslimische Frau habe sie besonders viel unerbetene Kritik an ihrem Vorhaben bekommen. „Jeder weiß am Anfang alles besser als du“, erzählt sie. Doch ihre Standhaftigkeit hat sich ausgezahlt: Für ihren innovativen Ansatz hat Assia 2021 den Gründungswettbewerb „Geschmackstalente“ der Wirtschaftsförderung Dortmund gewonnen.
Zehn Prozent aller Dortmunder*innen, also etwa 60.000 Menschen, wohnen in dem Bezirk. Die Nordstadt sich aus den Bereichen rund um den Borsigplatz, den Nordmarkt und den Dortmunder Hafen zusammensetzt. Nach Sonnenuntergang allein in der Nordstadt spazieren gehen? Für viele unvorstellbar. „Viele Mitschüler*innen von mir durften sich früher gar nicht nördlich von der Innenstadt allein bewegen, von ihren Eltern aus. Das fand ich schon ein bisschen übertrieben“, sagt Emilia*, eine Studentin aus Dortmund.
„Aber ich muss auch zugeben, als ich selbst ein halbes Jahr lang in der Nordstadt gewohnt habe, habe ich mich auch oft unwohl gefühlt, weil ich oft angesprochen wurde und mir jemand mal einfach so Drogen angeboten hat.“ Dabei geht die Gewaltkriminalität nach Angaben der Polizei Dortmund in diesem Stadtteil seit Jahren kontinuierlich zurück, heißt es in einer Mitteilung der polizeilichen Pressestelle vom 09.11.2020. Allein zwischen Januar 2019 und April 2020 sei sie in der Nordstadt um 13 Prozent gesunken, die Gesamtkriminalität ist mit einem Zuwachs von 0,07 Prozent von 2019 bis 2020 kaum angestiegen. Maßnahmen wie die temporäre Videoüberwachung an der Brückstraße, der Münsterstraße und am Mehmet-Kubasik-Platz von Mai bis Oktober 2021 hätten weiter zur Verringerung der Straßenkriminalität beigetragen.
Assia Filal hat sich bewusst diesen Standort für Tatis Café ausgesucht. Sie selbst hat in der Nordstadt einen Teil ihrer Jugend verbracht und nach dem Abitur Psychologie studiert. Während eines Auslandssemesters in Südengland hat sie die Liebe zum Backen, vor allem zu aufwendig dekorierten Cupcakes, entdeckt. Nach dem Studium hat sie einige Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet. Irgendwann wollte sie ihren Traum vom eigenen Café umsetzen – aber eins war ihr dabei besonders wichtig: „Ich wusste, wenn ich ein Café eröffne, muss ich die soziale Komponente, die ich in meinem vorherigen Beruf hatte, in Form eines gemeinnützigen Vereins beibehalten, denn das ist für mich als Psychologin fast schon lebensnotwendig“, sagt sie schmunzelnd.
Zeitgleich mit dem Café hat Assia den Verein „Nordstamm e.V.“ gegründet. Dafür mietet sie auch die Wohnung direkt neben dem Café. Dort soll es in Zukunft Nachhilfe, offene Sprechstunden in Kooperation mit dem Jobcenter und verschiedene Workshops geben. „Das Angebot soll über eine psychologische Beratung hinausgehen. Es umfasst alle Facetten, die ein Mensch braucht, um wieder stabilisiert zu werden – aber auch, um selbst zu partizipieren.“
Von der Nachbarschaft zur Machbarschaft
Auch die „Machbarschaft Borsig11 e.V.“ möchte die Bewohner*innen der Nordstadt zum Mitmachen anregen und Teilhabe fördern. an. Anders als Tatis Café und „Nordstamm e.V.“ ist der Verein schon seit über zehn Jahren im Viertel etabliert. Die Vereinsmitglieder initiieren vor allem um den Borsigplatz herum kreative und soziale Projekte und Events. Eins davon sind die „Nordstadt-Sessions“: Sie finden seit 2018 jeden zweiten Freitag um 19 Uhr auf der kleinen Bühne im „Chancen-Café 103“ statt, das die Machbarschaft Borsig11 betreibt.
Zwischenzeitlich mit Publikum, dann – aufgrund der Pandemie – wieder ausschließlich als Livestream auf Facebook. Die Nordstadt-Sessions sollen genauso vielfältig sein wie die der Stadtteil selbst, schreibt der Verein auf seiner Website. An diesem speziellen Freitagabend Ende November gehört die Bühne Tarik Thabit, Volker Sipplie und Jens Pollheide. Sie treten mit Schlagzeug, Bass und Qanun auf, einem orientalischen Instrument mit 81 Saiten. Östliche Klänge erklingen bei etwa 300 Zuschauer*innen zu Hause.
Eines der Gründungs- und heutigen Vorstandsmitglieder des Vereins ist Volker Pohlüke. Als das Ruhgebiet 2010 Kulturhauptstadtjahr war, zog er für das Projekt „2-3 Straßen“ nach Dortmund. Und zwar direkt an den Borsigplatz. Was für andere nicht vorstellbar ist, suchte er ganz bewusst. Das Projekt war vorbei, doch Volker Pohlüke wollte nicht mehr weg. „Die Nordstadt ist Brennpunkt und Schmelztiegel zugleich“, findet er. Und den wollte er von da an gemeinsam mit den zehn anderen Gründer*innen des Vereins weiter formen.
Das Ziel dabei sei es, die Kreativität der Menschen und zudem deren Selbstbestimmung zu fördern. Deshalb organisiert die Machbarschaft Borsig11 auch nur Projekte, die eben die Nordstädter*innen selbst ansprechen, statt ausschließlich Menschen von außerhalb anzuziehen. Bei der Entwicklung des Viertels könne es nicht um Gentrifizierung und Verdrängung, sondern nur um gemeinsames Wachstum gehen, findet Pohlüke.
„Uns war es wichtig, den Menschen zum Beispiel zu zeigen: du wohnst nicht in Scharnhorst, du wohnst im grünsten Stadtbezirk Dortmunds“
Aber auch „mehr und mehr Studierende haben das Quartier erobert, und die bringen mehr Leben in den Stadtteil. Das war sehr wichtig, denn die Bereitschaft sich zu engagieren ist damit höher geworden.“ Die Stadt Dortmund habe sich aber auch mächtig ins Zeug gelegt. Es sei viel Geld über das Quartiersmanagement in die Nordstadt geflossen. Die Wirkung zeige sich jetzt: „Die Vorurteile gegenüber der Nordstadt wurden zumindest reduziert, auch wenn sie immer noch da sind – man traut sich jetzt wenigstens hierher“, sagt Volker Pohlüke.
Über Projekte mit Kindern und Jugendlichen, zum Beispiel der „Youngsters Akademie“, hat der Verein auch verstärkt Zugang zu Familien mit Migrationshintergrund gefunden. Das sei gar nicht so leicht gewesen, weil viele eher skeptisch und zurückhaltend seien. Die Situation habe sich insgesamt verbessert, „aber es gibt noch viel zu tun“, sagt Pohlüke. Vom Nordmarkt bis zum Hafen gebe es deutlich mehr Gastronomie- und Kulturangebote und Gründerzentren, man solle seiner Meinung nach aber den Bereich um den Borsigplatz herum nicht vernachlässigen.
Nordwärts warten Kunstorte
Auch das Quartiersmanagement der Stadt bemüht sich seit Jahren, die Nordstadt attraktiver und sicherer zu machen. Allein in das Zehn-Jahres-Projekt „nordwärts“ fließen seit 2015 jährlich rund drei Millionen Euro. Es soll die Vorzüge der nördlichen Stadtteile hervorheben. Dadurch sollen die Bewohner*innen ihr Viertel neu kennenlernen und die Nordstadt insgesamt mehr Wertschätzung und Aufwertung erfahren, heißt es auf der Website des Projekts „Uns war es wichtig, den Menschen zum Beispiel zu zeigen: du wohnst nicht in Scharnhorst, du wohnst im grünsten Stadtbezirk Dortmunds“, sagt Michaela Bonan, Leiterin der Koordinierungsstelle von “nordwärts“.
Über 15.000 engagierte Dortmunder*innen haben bereits 200 Teilprojekte realisiert. Darunter zum Beispiel die „Kunstorte“ – besonders schöne Orte, die Kunst- und Medienpädagogin Simone Sonnentag familiengerecht, das heißt auch für die Kleinsten verständlich und spannend, in Videos vorstellt. In den Videos zeigt sie auch verschiedene Kunsttechniken und regt die Zuschauer*Innen zum Nachmachen an.
Das ehrenamtliche Engagement sei insgesamt in der Nordstadt enorm angestiegen, sagt Bonan. Es gebe allerdings keine Statistik darüber, welche Gesellschaftsgruppen vorrangig an Projekten und Events teilnehmen. Es sei also unklar, inwiefern eher privilegierte Menschen die Chance ergreifen, die Nordstadt aus einem anderen Blickwinkel kennenzulernen. Aber: Die Angebote seien immer niedrigschwellig und würden möglichst „barrierefrei“ kommuniziert. Aktuell laufen auch bei „nordwärts“ alle Angebote digital. Doch die Leiterin der Koordinierungsstelle bleibt zuversichtlich: „Wir lassen uns davon nicht beirren“. Für 2022 sei bereits einiges geplant, unter anderem ein Tag der offenen Tür im Zentrum für ethnische Ökonomie.
Je bunter, desto besser
Seit Jahresbeginn ist die Fassade um Tür und Fenster von Tatis Café voll bunter Motive: Blumen, Pilze, eine Europaflagge, aber auch der Schriftzug „Willkommen“ sowie viele Namen zieren jetzt die Wand. Kurz vor Weihnachten haben sich hier mehr als 20 Schüler*innen aus der Nordstadt unter der Anleitung des Jugendamtes verewigt. Assia packt gerade mehrere Kartons aus. „Ich hab´ ganz viel neues Spielzeug für den Familienraum bestellt“, erzählt sie stolz. Sie läuft geschäftig durch das Café.
„Die Nordstadt ist einfach in geworden. Ich denke in vier, fünf Jahren werden wir hier noch mehr Cafés sehen.“
Mal steht sie hinter der Theke, mal bedient sie mit. Dabei kommt sie ganz natürlich mit den Kund*innen ins Gespräch. Es wirkt, als würden sich alle hier schon ewig kennen. Abwechselnd ist kindliches Gelächter und Geschrei zu hören. Ein älterer Herr läuft gebeugt, aber schnellen Schrittes zur Theke und setzt sich an einen freien Tisch. Er begrüßt Assia, dann heißt es in liebevoll-schroffem Ton: „Mach´ mir mal ´ne Waffel.“ Sie nickt die Bestellung des Stammkunden lächelnd ab, kurze Zeit später duftet es nach frischem Waffelteig.
Langsam wird es dunkel in Dortmund. Tatis Café erhellt die Fritz-Reuter-Straße. „Die Nordstadt ist einfach in geworden. Ich denke in vier, fünf Jahren werden wir hier noch mehr Cafés sehen.“ Assia Filal ist zuversichtlich, wenn es um die Zukunft des Viertels geht. „Hier wird noch vieles entstehen. Da sind so viele einzelne Menschen, die versuchen, etwas zu verändern. Aber wir müssen uns jetzt zusammentun und das weiterentwickeln.“
*Der Name wurde auf Wunsch von der Redaktion geändert
Beitragsbild: Leonie Ndoukoun
Ein Superprojekt! Man kann allen Beteiligten nur ” Weiter so” und viel Erfolg wünschen. Bei nächster Gelegenheit werde ich dort sein und mir alles ansehen.
Wahnsinn! Da will ich auch hin!