Tradition schafft Emotionen: Die Faszination Wattenscheid 09

Das Erste, was ich vom altehrwürdigen und so geschichtsträchtigen Stadion erblicke, ist einer der vier Flutlichtmasten. Er überragt die Bäume, die am Ende der langen und engen Straße durch das Wohngebiet ein kleines Waldstück vermuten lassen. Die stählerne Konstruktion schimmert leicht im Sonnenlicht und schon von Weitem erzeugt sie einen Charme, der an eine alte und für mich nur aus Erzählungen meines Vaters bekannte Zeit erinnert. Je länger ich die Straße hügelabwärts laufe, vorbei an in gleichmäßigen Abständen stehenden Straßenlaternen, vorbei an geparkten Autos, vorbei an Mehrfamilienhäusern und kleinen Vorgärten, desto mehr steigt die Spannung in mir.

Eine gute halbe Stunde zuvor: Noch bei grau-nassem Wetter steige ich in Dortmund in den Bus. Meine Stimmung ist nicht zuletzt auch wegen des Wetters etwas verhalten. Dazu noch der für ein Fußballspiel in meinem Gefühl ungewöhnliche Rahmen mit einem Spiel an einem Montag. Im Zug dann die erste Begegnung mit einer Person, die ganz offensichtlich das gleiche Ziel hat wie ich. Der schwarz-weiß gestreifte Schal ist mir auch über die Distanz einer halben Abteillänge aufgefallen. Wie vermutet, verlassen wir beide an derselben Haltestelle den Zug: Wattenscheid-Höntrop.

Das Umfeld wandelt sich im Bus

An der kleinen Bushaltestelle unter der stählernen Eisenbahnbrücke warten zwei Personen auf den Bus. Eigentlich hat nichts darauf hingedeutet, dass nur ein paar Kilometer entfernt, die SG Wattenscheid 09 ihr letztes Saisonspiel bestreiten wird. Alles spricht für tristen Oberliga-Alltag – dabei könnte der traditionsreiche Verein mit einem Heimsieg aufsteigen. Der Bus ist da. Wir steigen ein.

Ich verfolge ein Gespräch zwischen Enkeln und ihrer Oma. „Früher waren wir in der Regionalliga“, schnappe ich auf. Die ältere Dame spricht weiter: „Ich war schon mal im Stadion, das ist aber schon Jahre her.“ Von Haltestelle zu Haltestelle merke ich, wie sich das Umfeld im Bus wandelt. Immer mehr Fans steigen zu. Egal ob jung, ob alt, die schwarz-weißen Vereinsfarben sind überall in meinem Blickfeld. „Wir müssen nur gewinnen“, höre ich von irgendwo hinter mir. Bei der Fahrt durch ländlich wirkende Straßen, vorbei am Gelände der ehemaligen Zeche Holland durch verschiedene Wohngebiete dominiert nur ein Thema: Fußball. Alle haben ganz offensichtlich nur ein Ziel: das Lohrheidestadion.

Angekommen an der Haltestelle folge ich intuitiv den anderen Menschen, um den richtigen und schnellsten Weg zum Stadion zu finden. Es geht ein kurzes Stück die Straße hoch und dann links die Straße runter durchs Wohngebiet.

Zurück auf der Straße hügelabwärts zum Stadion

Je länger ich den trikottragenden und schalbekleideten Menschen vor mir folge, desto näher komme ich der Baumkette. Die Flutlichtmasten sind nicht mehr zu sehen, es geht um eine Kurve. Als ich am Ende der Straße angekommen bin und quasi frontal auf ein etwas in die Jahre gekommenes Stadion-Informationsschild zulaufe, erblicke ich rechts davon die anderen Flutlichtmasten. Durch einen Zaun ergattere ich den ersten Blick ins weite, aber kleine Rund. Besonders ins Auge fällt die rote Laufbahn, die den Fußballrasen umschlingt und die Tribünen gefühlt nach Außen drückt. Ich bin am Stadion an der Lohrheide angekommen.

Vor den wenigen und nicht mehr wirklich zeitgemäß wirkenden Eingängen mitsamt Kassenhäuschen bilden sich lange Schlangen. Immer mehr Menschen strömen heran. Große Vorfreude ist zu spüren. Irgendwie wirkt in diesem Ambiente alles wie eine Reise in die Vergangenheit. Hinter dem Eingang klappern Kinder mit Spendendosen. Sie sammeln für die Jugendabteilung der SGW. Es riecht nach Zigaretten, Bratwurst und Bier – vielleicht riecht es einfach nach echtem traditionsreichem Fußball.

Ich stelle mich in die Schlange von Fans, zeige mein Ticket vor und gehe den Steinen nach zu mutmaßen schon vor längerer Zeit gepflasterten Weg links der verglasten Seite der Haupttribüne entlang. In diesem Moment möchte so viel aufsaugen wie nur möglich. Ein wenig überfordert bleibe ich oberhalb des Stehplatzbereiches hinter dem Tor stehen. Rechts von mir kann ich jetzt ganz die große Osttribüne bestaunen, links gegenüber die Gegengerade, auf der schon der harte Kern sehnsüchtig dem Anpfiff entgegenfiebert. Hinter mir die Anzeigetafel. Menschen drängeln sich an mir vorbei. Über die Lautsprecher dröhnen die Klänge des Vereinslieds. „S-G-Wattenscheid Null Neun“ – damit weiß spätestens jetzt jeder, wo er hier gerade ist. Für mich heißt es erstmal Sitzplatz suchen.

Das Spiel beginnt mit 15 Minuten Verspätung. Zu groß ist der Ansturm vor dieser für den Verein so entscheidenden Party um den Aufstieg in die Regionalliga gewesen. Unter einem Meer aus kleinen schwarz-weißen Fähnchen betreten die Spieler das Feld. Während das Vereinslied verstummt und die letzten Pyrofackeln auf der Gegengerade abbrennen, pfeift der Schiedsrichter die Begegnung an.

Bedingungslose Unterstützung und Emotionen soweit das Auge reicht

In den folgenden 90 Minuten ist es viel weniger das Spiel, was mich mit seinem doch eher überschaubaren Niveau in seinen Bann zieht. Vielmehr sind es die Leute, die Fans, die mich mit ihrer bedingungslosen Unterstützung und emotionalen Art faszinieren. „Der braucht einfach zu viele Chancen“, hadert ein Fan einige Reihen vor mir, nachdem die Nummer neun der SG Mitte der ersten Hälfte wiederholt Großchancen ungenutzt lässt. Zwar liegt der Wattenscheider Führungstreffer in der Luft, doch die erste Halbzeit endet torlos. Darüber wird in der Halbzeit standesgemäß bei einem kühlen Bier gefachsimpelt.

Kurz nach der Pause ist es dann so weit: Durch einen berechtigten Elfmeter geht Wattenscheid mit 1:0 in Führung. Riesenjubel auf den Rängen, die Tormelodie setzt ein und dröhnt über die Lautsprecher. Der Traum vom Aufstieg ist zum Greifen nah. Die Stimmung ist spätestens jetzt oben auf. Die Zuschauerzahl wird verkündet: 6.342 – eine Zahl, die mich beeindruckt.

Mit dem Fangesang „kämpfen bis zum Ende“ geht es in die letzten zehn Minuten. Immer noch hält die knappe Führung. Fünf Minuten vor Schluss dann die Vorentscheidung: Der eingewechselte Wattenscheider Stürmer, der von allen wohl aufgrund seiner Statur nur „Bulle“ genannt wird, luchst dem herausgeeilten gegnerischen Keeper den Ball ab und schiebt aus gut 20 Metern flach ein. Schier endlose Sekunden braucht der Ball, bis er über die Torlinie rollt.

Was folgt, ist ekstatischer Jubel. Niemanden hält es mehr auf den grün-gräulichen Sitzschalen. Überglücklich liegen sich die Menschen vor mir in den Armen. Eine unkoordinierte La-Ola-Welle bricht sich seinen Weg durch das Stadion. Vom Stimmungszentrum auf der Gegengerade wird „Nie mehr Oberliga“ angestimmt.

Wattenscheid 09 zurück in der Regionalliga

Und dann ist es so weit: Der Schiedsrichter pfeift die Partie ab, die SG Wattenscheid ist zurück in der vierten Liga. Unter frenetischem Jubel stürmen die Fans den Platz. Ganz vorneweg sind es Kinder, die den Rasen zuerst erobern und ihre Helden feiern. Egal wohin ich gucke, überall herrscht grenzenlose Freude. Spieler und Fans liegen sich mit Tränen in den Augen in den Armen. Erinnerungsfotos werden geschossen. Auf dem Feld stellen kleine Kinder die entscheidenden Szenen des Spiels nach. Unter Souvenirsammlern sind es die Eckfahnen, die heiß begehrt sind. Ich bin überwältigt von dieser grenzenlosen Freude und echten Nähe zwischen Mannschaft und Fans.

Auch auf dem Nachhauseweg ist das Erlebte für mich nicht komplett realisierbar. War das gerade wirklich ein Oberligaspiel? So viel Freude, Jubel und Begeisterung für einen Verein, der einst vier Jahre in der Bundesliga und über 20 Jahre in der zweiten Liga spielte und quasi in der Fußballversenkung verschwunden ist. Der Charme, das Ambiente, die Emotionen – ich bin überzeugt, dass dies alles nur bei einem Verein möglich ist, der eine solche bewegende Geschichte und lange Tradition hat, wie die SG Wattenscheid 09.

Fotos: Till Schacht

 

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Wer also “echten“ Fußball in geschichtsreicher Atmosphäre abseits des großen Kommerzes liebt, der ist bei einem Wattenscheider Heimspiel richtig.

Wo? Das Lohrheidestadion liegt im Norden Bochums im Stadtteil Wattenscheid.

Wie? Mit dem ÖPNV über Wattenscheid HBF bzw. die Haltestelle Wattenscheid-Höntrop und anschließendem Umstieg in den Bus ist das Stadion gut erreichbar. Alternativ ist auch eine Anreise mit dem eigenen Auto möglich. Parkplätze rund um das Stadion stehen allerdings nur bedingt zur Verfügung.

Wann? Normalerweise bestreitet die SGW innerhalb der Saison im Zweiwochenrhythmus ein Regionalliga-Spiel im heimischen Lohrheidestadion.

Wie viel? Stehplatz-Tickets gibt es für Studierende für 9 Euro, Sitzplätze kosten 13 Euro. Weitere Informationen gibt es hier.

 

 

Beitragsbild: Wattenscheid und das Lohrheidestadion – zwei Dinge, die einfach zusammen gehören. Foto: Till Schacht

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