Klebeaktionen, riesige Demos und Waldbesetzungen: Die vorigen Jahre haben gezeigt, wie politisch unter 30-Jährige sein können. Parteien aber haben immer größere Schwierigkeiten, junge Menschen zu begeistern. Nela und Emma engagieren sich jeden Tag politisch – auf zwei verschiedene Arten.
Mitten in der Fußgängerzone von Iserlohn, an einem sonnigen Donnerstagnachmittag, sind die Tische bereitgestellt und der Pavillon aufgebaut. Die Decken auf den Tischen und der Pavillon sind rot, die Fahnen am Pavillon auch und die Postkarten und Flyer ebenso. Nela Kurschinski steht mit einem Stapel Postkarten und Flyer unterm Pavillon. Mit den Infomaterialien geht die 17-Jährige selbstbewusst auf vorbeilaufende Menschen zu. Es sind noch genau drei Tage bis zu den Europawahlen und Nela macht mit ihren Kolleg*innen Werbung für die SPD. Denn sie ist Mitglied bei der Jugendorganisation der Partei – den jungen Sozialist*innen oder auch kurz Jusos genannt.
Viele unter 30-Jährige sind politisch – aber nicht in den Parteien
Laut einer Studie des deutschen Jugendinstituts sind nicht einmal zwei Prozent der 16- bis 29-Jährigen Mitglied in einer Partei. Das Durchschnittsalter bei der SPD liegt bei 60 Jahren – genauso bei CDU und CSU. Die Grünen sind mit 48 Jahren noch am jüngsten. Klar ist: Die allermeisten jungen Menschen fühlen sich zu den Parteien nicht hingezogen.
Das sagt auch Norbert Kersting. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Münster und forscht seit Jahren zum Thema Wahlverhalten mit dem Schwerpunkt Kommunal- und Regionalpolitik. „Parteien wollen immer gleich vereinnahmen für ein längerfristiges Engagement“, sagt Kersting. Und dazu seien fast alle Altersgruppen nicht mehr so einfach bereit. „Die Menschen sind gerne bei einem kurzfristigen Engagement dabei, auch mal bei einer Demonstration oder Aktion. Aber nicht mehr über einen längeren Zeitraum, da wollen sie sich lieber Freiräume bewahren.“
Diese Freiräume haben noch eine andere wichtige Bedeutung im politischen Aktivismus. Denn die „Organisationen von unten“, wie Kersting sie nennt, „haben was, bei dem ich selbst noch etwas entwickeln kann und mich nicht so einer Parteiräson unterordnen muss“. Kersting betont, dass dies wichtig für demokratische Partizipationsprozesse sei und sagt auch: „Die Jugend ist nicht unpolitisch – im Gegenteil. Wir sehen, dass Jugendliche weiterhin politisches Interesse haben. Aber das läuft nicht mehr über Parteien und die alten Organisationen. Da baut sich etwas Neues auf.“
Neue politische Wege
Ende Gelände, Fridays for Future oder die letzte Generation, das sind solche Bewegungen, die „von unten kommen“. Und auch auf lokaler Ebene gibt es in vielen Städten politische Partizipationsmöglichkeiten außerhalb der etablierten Parteien. In Dortmund hat Ende 2023 der Unionssalon im Westen der Stadt eröffnet. Ein „Raum für Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe & deinen täglichen Kaffee“, wie es auf Instagram heißt. Mit aufgebaut und eröffnet hat den Raum die Feministische Initiative Ruhr.
Emma Haas ist eine der Frauen in der Gruppe. Die 20-Jährige heißt eigentlich anders, auf ihren Wunsch hin hat die Redaktion ihren Namen hier geändert. Emma war schon mit 14 Jahren in der Klimabewegung aktiv – bei FFF und Waldbesetzungen mit Ende Gelände. Sich einer Partei anschließen, wollte sie aber nie: „Für mich hat der Eintritt in eine Partei mit Resignation zu tun. Wenn ich sage: Ich kann mein eigenes, übergeordnetes Ziel nicht erreichen und deswegen gehe ich jetzt diesen Kompromiss ein.“
Für sie und ihre Gruppe ist klar, dass es einen Systemwechsel geben müsse, um langfristige, tiefgreifende Veränderungen zu bewirken und für die eigenen Werte einzustehen. Sie betont: „Um wirklich etwas an Armutsverhältnissen zu ändern oder um wirklich was im Leben von Frauen zu verändern, braucht es ein anderes System. Kapitalismus ist keine Option. Und das kann über Parteipolitik nicht gelingen, weil die sich selbst im System bewegt.“ Trotzdem findet Emma es legitim, wenn junge Menschen sagen, sie machen Parteipolitik. Denn auch politische Reformen sind ihrer Meinung nach wichtig und verständlich. Und: „Natürlich macht es einen Unterschied, wie viele kluge und wertetreue Leute in der Politik sind. Gerade wenn ich mir die AfD anschaue.“
Nachbarschaft und Aktivismus
Heute findet im Unionssalon ein Filmabend statt. Mit der Amnesty-Hochschulgruppe wird der Film gezeigt: „Ein Traum von Revolution – als die Revolution in Nicaragua siegt, beginnt die Welt zu träumen“. Der Raum ist lichtdurchflutet. In der Mitte steht eine kleine Leinwand, drei Stuhlreihen sind aufgebaut. Etwa 15 Personen sind gekommen. Ein Gast will sich an der kleinen Theke ein Getränk holen und fragt nach dem Preis. „Zwei Euro ist die Empfehlung. Du kannst aber auch mehr oder weniger zahlen. Zahle das, was du kannst“, erhält er als Antwort. Wegen der Hitze ist während der Filmvorstellung die Tür auf, vom benachbarten Spielplatz sind Kinderlachen und Geschrei zu hören.
Der Unionssalon bietet neben kulturellen Angeboten zum Beispiel auch Sozialberatung an. Es sei ein Programm von der Nachbarschaft für die Nachbarschaft, betont Emma. Dass der Unionssalon dabei von der ganzen Nachbarschaft angenommen wird, ist eines ihrer politischen Ziele: „Ich finde es extrem wichtig, sich als politische Person nicht zu isolieren. Als Gruppe haben wir auch den Anspruch, gesamtgesellschaftlich etwas zu verändern und in die Gesellschaft einzuwirken. Aber wenn wir nur in unserer Bubble bleiben, dann kann das nicht klappen. Deswegen haben wir bei FemIn den Anspruch, mit allen Leuten ins Gespräch zu kommen und uns solidarisch zusammenzutun.“ Heute sind die Altersgruppen sehr gemischt. Nach dem Film erzählen einige von ihrer eigenen Zeit in Nicaragua und tauschen sich über die heute dort etablierte Diktatur aus.
Die EU-Wahl: eine Wahl zum Experimentieren?
Am SPD-Stand in Iserlohn will Nela am Donnerstag vor der Wahl junge Menschen zur Wahl animieren. Denn bei dieser Europawahl sind zum ersten Mal Personen ab 16 Jahren stimmberechtigt. Ob sie ihre Stimme dabei der SPD geben oder nicht, ist Nela erst einmal egal: „Wichtig ist nur, dass sie nicht die AfD wählen.“ Sie redet mit Menschen, verteilt viele Flyer und noch mehr Gummibärchen. Und: Sie wirkt, als würde sie den Menschen zuhören, stellt ihnen Fragen und lässt sie antworten. Beim Abbau sagt Nela: „Wir haben heute einige Menschen erreicht. Vor allem junge Personen auf dem Heimweg nach der Schule.“ Sie wirkt zufrieden, macht sich aber trotzdem keine allzu großen Hoffnungen auf einen überraschenden Wahlsieg.
Ein paar Tage später sind die Ergebnisse der Europawahl klar und zeigen das, was Nela schon befürchtet hatte: Etwa zwei Prozent verliert die SPD im Vergleich zur Europawahl 2019, die Ampelregierung insgesamt elf Prozent. Die AfD gewinnt fünf dazu, unter den 16- bis 24-Jährigen sogar ganze elf Prozent. Norbert Kersting sagt dazu: „Das liegt auf der einen Seite daran, dass das eine Europawahl ist. Das ist immer eine Wahl gegen die Regierung in Berlin.“ Außerdem sei die Europawahl auch schon immer eine experimentelle Wahl gewesen: Durch die große Anzahl an Kleinstparteien gäbe es aktuell auch viele Alternativen zu den etablierten Parteien der Bundestagswahl. Viele hätten dadurch das Gefühl, sich ausprobieren zu können.
Ist das Vertrauen in die Demokratie noch da?
Für Kersting gibt es jedoch einen anderen beunruhigenden Trend: „In der gesamten deutschen Bevölkerung gibt es in den vorigen Jahren ein abnehmendes Vertrauen in große Organisationen. Dazu gehören neben Kirchen oder Gewerkschaften auch die Parteien.“ Er mahnt deswegen zur Vorsicht. Der Grund: „Diese großen Organisationen sind wichtig für das Zusammenleben.“ Der Vertrauensverlust zeigt sich auch bei jungen Menschen. Im Frühjahr 2024 hat die Bertelsmann Stiftung eine Studie mit Umfragen bei 18- bis 30-Jährigen veröffentlicht. Das Ergebnis: In Deutschland haben junge Menschen zwar Vertrauen in die Demokratie, gleichzeitig misstrauen aber viele der Regierung und dem Parlament.
Nela ist keine davon, sie hat Vertrauen in Institutionen wie Regierung und Parlament. Sie weiß aber auch, dass es vielen anders geht: „Ich denke, dass junge Menschen dann erreicht werden, wenn ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Ideen und Visionen ernst genommen werden. Aber da reicht es nicht, Planspiele anzubieten oder auf TikTok zu sein, sondern es braucht ernsthafte Beschlüsse.“
Junge Stimmen in der Lokalpolitik
Selbst Entscheidungen treffen und die eigenen Visionen und Ideen einbringen, das macht Nela unter anderem bei den Jusos. In der Ortsgruppe in Menden treffen sie sich meistens einmal im Monat. Die Jüngste von ihnen ist 16 Jahre alt, der Älteste 28. Der Raum in der Mendener Innenstadt ist klein, hat aber genügend Platz für einen Stuhlkreis und im hinteren Bereich ein kleines Badezimmer. An der Wand hängen auf großen Plakaten in schwarz-weiß die Fotos der SPD-Größen Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Willy Brandt. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, steht unter dem Bild von Brandt. Auf einem Whiteboard hat jemand mit schwarzem Stift geschrieben: „Für Solidarität, Demokratie, Antifaschismus, Internationalismus, Feminismus“.
Als die ersten aus der Gruppe eintreffen, nehmen sie sich erst einmal eine Flasche aus dem Kasten mit Limos und machen es sich auf den Stühlen bequem. Heute treffen sie sich das erste Mal nach der Europawahl. Ganz oben auf der Liste: „Rekapitulationen EU-Wahl (weinen)“. Auf dem Treffen planen die Mitglieder konkrete Aktionen. Aber vor allem machen sie eines: Sie stellen viele Anträge – für einen neuen Konsumraum in der Stadt oder kostenlose Menstruationsartikel in allen Schulen.
Alles eine Frage des Systems?
Genau so hat sich Nela ihren politischen Aktivismus vorgestellt. Denn was sie am meisten nervt, sind Menschen, die sich über die Politik beschweren, aber selbst nichts machen. Schon in der Grundschule wollte Nela deswegen anfangen, politisch aktiv zu werden. Sie begann viel zu lesen. „Sowas wie den Kinderspiegel“, erzählt sie. Dann trat ihr Vater in die SPD ein und nahm Nela mit zu Wahlkampfständen. Heute setzt sie sich vor allem für Antifaschismus, Klimaschutz und Feminismus ein. Emma erzählt etwas Ähnliches. Für sie sind der Rechtsruck, der Klimawandel und Antifeminismus aktuell die wichtigsten Themen. Nur wie die beiden diese angehen, unterscheidet sich.
Als Teil des Unionssalons eröffnete die Gruppe um Emma auch einen Frauenraum, die Lyra. Hier wollen sie Feminismus leben und solidarische Strukturen unter Frauen schaffen. Emma erzählt, dass der Frauenraum mittlerweile auch Frauen aktiviert, die nichts mit linker Politik zu tun hätten. „Sie kommen einfach aus dem Viertel und schauen mit ihren Kindern rein.“ In der Lyra lädt die Gruppe beispielsweise zum Frauenfrühstück ein oder zum gemeinsamen Grillen. Beim Essen kommen die Frauen dann über Jobprobleme oder die schwierige Wohnungssuche ins Gespräch.
Neben der Nachbarschaftsarbeit im Unionssalon und Lyra bringt sich FemIn auch in politischen Diskussionen ein. Auf Instagram zeigen sie Videos von Demos und Redebeiträgen am Internationalen Frauen*kampftag, Fotos von einer Mahnwache, nachdem im Unionsviertel eine Frau sexuell missbraucht wurde oder Einladungen zu einer Podiumsdiskussion zum Beispiel mit der Juso-Ortsgruppe aus Witten. „Wir haben einen revolutionären Schwerpunkt. Das bedeutet, dass wir zumindest das Wirtschaftssystem verändern wollen.“ Emma sagt klar, dass sie zwar den Kapitalismus abschaffen wolle. Sie sei aber nicht antidemokratisch. Demokratische Strukturen und revolutionäre Veränderungen sind für sie miteinander vereinbar. „Ich denke, dass fast alle Alternativen demokratischer sind als eine Demokratie, die von Lobbys bestimmt wird.“
Politische Zukunftsvisionen
Nela sieht das anders. Sie ist aktiv im Vorstand der Schüler*innenvertretung, Vorstand der Jusos im Märkischen Kreis, der Jusos Menden und im Vorstand der SPD Menden. Obwohl Nela betont, dass sie radikale Veränderungen wichtig findet und von revolutionären Gruppen viele Standpunkte teilt, sagt sie: „Ich verändere das System gerne von innen heraus, anstatt es aufzulösen. Veränderung ist total wichtig, aber es hätte nicht in mein Weltbild gepasst, demokratische Strukturen aufzulösen.“
Unter anderem deswegen hat Nela mit 16 Jahren die Mendener Jusos gegründet. Sie würde gern Karriere in der Politik machen – vielleicht später auf Bundesebene arbeiten und die Politik verändern. Denn Nela kritisiert die SPD durchaus, zum Beispiel in ihrer Migrationspolitik oder wenn einige Mitglieder die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern. Für sie ist klar, dass sich die Politik ändern muss. Sie fordert mehr Investitionen in die Bildung, Einführung einer Grundsicherung oder Stärkung von Ehrenämtern. Und: „Politik muss ehrlicher und aktivistischer werden.“ Aktionen, wie die der Letzten Generation findet sie oft sehr legitim.
Nächstes Jahr möchte sich Nela vielleicht für den Stadtrat aufstellen lassen. Bis dahin stehen in ihrer Ortsgruppe wahrscheinlich noch einige Anträge und Aktionen bevor. Doch manchmal, wie heute nach dem Treffen, wollen die Mitglieder einfach etwas zusammen unternehmen: Sie gehen gemeinsam zum Mendener Public Viewing. Für Emma geht es in Dortmund weiter. Sie und FemIn versuchen den Unionssalon und die Frauentreffen zu vergrößern und zu verselbständigen. Ihr größter Wunsch für die Zukunft: Dass der Raum irgendwann komplett von den Nachbar*innen bespielt und übernommen wird.
Beitragsbild (Collage) und Fotos Unionssalon: Ilka Gartner
Fotos Jusos Menden: Celia Homann