Demokratiefieber: Wie junge Politiker*innen für ihre Überzeugungen einstehen

Die politische Landschaft in Deutschland ist zunehmend von Gewalt und Einschüchterung geprägt – das betrifft nicht nur etablierte Politiker*innen. Auch Mitglieder von Jugendparteien werden öfter zur Zielscheibe. Dennoch setzen sie sich für die Demokratie ein.

Übergriffe im Wahlkampf, Pöbeleien, Bedrohungen: Immer öfter werden Politiker*innen in Deutschland attackiert. Die zunehmende Polarisierung und Eskalation in der politischen Debatte zeigt sich in konkreten Angriffen.

Einen alarmierenden Höhepunkt erreicht die politisch motivierte Kriminalität in Deutschland im Jahr 2023.  Besonders Angriffe auf Politiker*innen haben massiv zugenommen. Mit einem Anstieg von 25,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichneten die Landeskriminalämter insgesamt 3.112 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. Besonders besorgniserregend ist der Anstieg von Bedrohungen und Beleidigungen, die zunehmend im Internet verübt werden. Diese Entwicklung unterstreicht die wachsende Aggressivität und Verrohung der politischen Auseinandersetzung, die sich vor allem gegen Vertreter des Staates richtet. Von diesen Bedrohungen sind auch die Mitglieder von Jugendparteien betroffen. Drei junge Politiker aus Nordrhein-Westfalen erzählen von ihren Erfahrungen.

Tijen Durmus

Tijen Durmus (18) ist stellvertretende Vorsitzende bei den Jungsozialisten (Jusos) Dortmund.  Seit zwei Jahren ist sie Mitglied in der Partei.

Tijen Durmus ist stellvertretende Vorsitzende bei den Jusos Dortmund. Foto: Leonie Oltmann

Bei meiner ersten Flyer-Verteilaktion ist etwas passiert. Damals war ich 16 Jahre alt. Ich war aufgeregt und fand es ungewohnt, in einem SPD-T-Shirt fremden Menschen Flyer in die Hand zu drücken. Es war manchmal einfach unangenehm, denn nicht jede Person reagiert freundlich auf linke Parteien. Ich habe einen Mann gesehen, der sehr auffällig gekleidet war und eine aggressive Haltung ausstrahlte. Ich wollte mich aber nicht von meinen Vorurteilen leiten lassen und ihm trotzdem einen Flyer geben.

Meine Intuition hat in diesem Fall aber recht behalten. Ich bin auf den Mann zugegangen und drückte ihm einen Flyer für eine kommende Veranstaltung in die Hand. „Sie sind herzlich eingeladen!“, begrüßte ich ihn freundlich. Er fing an, verächtlich zu lachen und fragte mich laut, ob dies mein Ernst sei. Ich verstand sein Problem nicht und antwortete mit ruhiger Stimme „Ja, das ist mein Ernst.“ Daraufhin rastete er aus. Er ging einen Schritt auf mich zu und gestikulierte wild umher. Er fing an zu schreien, dass ich Schuld am Untergang der deutschen Wirtschaft sei. Die SPD sei eine verdreckte Ausländerpartei, die die deutschen Bürger*innen im Stich lasse. Zum Schluss beleidigte er mich, schmiss mir den Flyer aggressiv entgegen und ging weg.

Wir müssen unser Verhalten ändern

Der Mann war körperlich bedrohlich, aber was mich am meisten schockierte, waren die Passant*innen um uns herum. Sie haben entweder still zugeschaut oder gelacht. Manche schauten ihn zustimmend an. Das war für mich ein sehr prägendes Ereignis. Zwar nutzen Passant*innen nicht so häufig körperliche Gewalt, schrecken aber dafür nicht vor verbaler Gewalt zurück. Körperliche Gewalt gegenüber Politiker*innen war zu dem Zeitpunkt noch kein so großes Thema, wie bei den diesjährigen Europawahlen. Doch die Situation zeigt, dass verbale Gewalt schon immer ein Problem war. Durch zunehmende Radikalisierungen und Spaltungen ist die Stimmung in der Gesellschaft ist jetzt viel aufgeheizter.

Es wäre problematisch, Security-Personal einzusetzen, um uns zu schützen. Das würde den demokratischen Austausch behindern und eine Distanz zwischen Politiker*innen und Bürger*innen schaffen. Dennoch brauchen wir Schutzmaßnahmen, aber in einer anderen Form: Es ist wichtig, darauf zu achten, wo wir Wahlkampf machen, und sicherzustellen, dass wir nicht allein unterwegs sind. Ich verhalte mich insbesondere bei Wahlkampfveranstaltungen anders und bin vorsichtiger. Ich achte darauf, dass wir seltener allein gehen. Insbesondere die jungen, minderjährigen Neumitglieder sollen nirgendwo allein hingehen und Wahlkampf machen.

Angst haben die Vorfälle mir nicht gemacht. Ich bin generell kein ängstlicher Mensch. Stattdessen haben sie in mir eine enorme Wut entfacht. Ich habe mich gefragt, wie jemand es wagen kann, solche Gräueltaten zu begehen und wie sehr jemand seine eigene Demokratie, seine eigenen demokratischen Rechte und Privilegien, verachten muss, um so etwas zu tun. Trotz dieser Wut war mir bewusst, dass bei diesen Menschen in der Sozialisierung und Politisierung einiges schiefgelaufen sein muss. Eine so ausgeprägte Gewaltbereitschaft entsteht nicht aus dem Nichts.

Actionheldin sein

Es macht mich wütend, dass Rechtsextremismus, Linken-Feindlichkeit und der Verlust der demokratischen Debattenkultur mittlerweile so normalisiert werden. Statt Probleme durch den Dialog zu lösen und konkrete Kritik zu äußern, scheint die Antwort vieler darin zu liegen, anderen wortwörtlich ins Gesicht zu schlagen. Das empfinde ich als einen bedauerlichen Verlust unserer demokratischen Debattenkultur. Ich sorge mich um die politische Zukunft Deutschlands. Es wirkt auf mich, als hätten wir nichts aus der Geschichte gelernt: Gewalt, Faschismus und antidemokratisches Verhalten haben früher auch zu nichts Gutem geführt.

Meine Motivation ist auf jeden Fall gestiegen. Ich empfinde eine tiefe Solidarität mit allen, die sich trotz solcher Vorfälle weiterhin für eine soziale und menschenfreundliche Politik engagieren. Zum Beispiel der Angriff auf den SPD- Europaabgeordneten Matthias Ecke hat mich dazu animiert, weiterzumachen. Er wurde von vier Personen niedergeschlagen, als der in Dresden Plakate aufhängte, und erlitt mehrere Knochenbrüche im Gesicht. Ereignisse wie diese haben mich auch deshalb stark motiviert, weil viele neue Mitglieder zu uns gestoßen sind, die etwas verändern und bewegen wollten.

Besonders während des Europawahlkampfs sind neue Mitglieder mit viel Enthusiasmus und Motivation zu uns gekommen. Sie haben klargemacht, dass sie diese Entwicklung nicht akzeptieren wollen und dass sie verhindern möchten, dass Deutschland und Europa in die falschen Hände geraten. In solchen Momenten entsteht ein starkes Gefühl der Gemeinschaft. Als Partei fühlen wir uns enger miteinander verbunden. Es fühlt sich fast so an, als wären wir die Held*innen in einem Actionfilm. Wir kämpfen gemeinsam, um die politische Zukunft Deutschlands zu retten.

Nina Wolff

Nina Wolff (25) ist Vorsitzende der Jungsozialisten (Jusos) Rhein-Erft. Seit sieben Jahren engagiert sie sich in der Jugendpartei.

Nina Wolff ist Vorsitzende der Jusos Rhein-Erft. Foto: Nina Wolff

Noch vor zwei Jahren habe ich es absolut absurd gefunden, dass wir beim Aufhängen von Plakaten bedroht oder körperlich angegriffen werden könnten. Aber zum Beispiel beim Europawahlkampf wurde eine Freundin von mir angespuckt. Auch ich persönlich musste solche Erfahrungen machen. Ich war Sprecherin auf einer Demo gegen Rechts und hatte danach ein Treffen mit einer jüdischen Familie. An dem Wochenende danach bemerkte ich während einer Fahrt ungewöhnliche Geräusche am Auto. Als ich daraufhin in die Werkstatt fuhr, stellte sich heraus, dass die Schrauben an den Rädern abgedreht worden waren. In der Autowerkstatt sagte der Mitarbeiter, das hätte bitter ausgehen können.

Das Wochenende darauf war ich mit demselben Auto unterwegs zu einer Juso-Veranstaltung. Das Auto war also voll mit Jusos. Auf einmal stieg überall am Auto Rauch auf. Ich bin rechts an die Seite gefahren und habe meinen Vater angerufen. Das Auto wurde kurz danach von Mitarbeitern einer Autowerkstatt abgeholt. „Zum Glück haben Sie das Auto nicht nochmal angemacht. Wahrscheinlich wäre es in die Luft geflogen“, erklärte mir der Mitarbeiter. Was genau mit dem Auto los war, konnte mir der Mitarbeiter nicht sagen. Ob es sich bei der Rauchbildung um Fremdeinwirkung gehandelt hat, ist nicht sicher. Doch bei den aufgedrehten Schrauben hat auf jeden Fall jemand nachgeholfen.

Beide Male stand das Auto in der Nacht davor vor meiner Haustür. Danach installierten wir Kameras. Bis jetzt ist noch nicht wieder etwas passiert. Ich habe Anzeige erstattet, aber die Verfahren wurden eingestellt. Es war nicht herauszufinden, wer es getan haben könnte. In beiden Fällen wurden die Taten als voraussichtlich politisch motivierte von der Polizei festgehalten.

Aus Versehen weitermachen

Dazu kommt der Hass im Netz. Auf TikTok stelle ich mittlerweile die Kommentare aus. Ich habe gar nicht mehr die Zeit, auf all das zu reagieren. Gang und gäbe sind für mich blaue Herzen und Kommentare wie „links-grün versiffte Feministin“. Solche Beleidigungen machen mir nichts mehr aus. Nur wenn Gewaltandrohungen dahinterstecken, muss ich manchmal schlucken.

Schlimm wird es, wenn sowas kommt wie: „Wenn ihr auf mein Grundstück treten würdet, dann hätte ich endlich mal jemanden zum Anschießen.“ Oder: „Wenn ihr an meiner Haustür klopft, solltet ihr euch schnell vom Acker machen, sonst endet das Böse.“ Am Anfang hat mich das eingeschüchtert. Ich habe mir gedacht: Warum machst du das eigentlich? Ist es das wert? Als eine AfD-Großveranstaltung bei uns angemeldet wurde, habe ich keine Sekunde gezögert – wir mussten gegenprotestierten. Ich habe alle Parteien angerufen und erst im Nachhinein gemerkt – ich habe genau das Gegenteil von dem gemacht, was ich mit mir selbst diskutiert habe: Ich habe wieder eine öffentliche Aktion organisiert.

Schokolade oder harte Worte

Ich weiß gar nicht, wie ich mit dem ganzen Stress umgehe. Aber für die Wut und Angst habe ich ein Ventil gefunden: Ich gehe einmal im Monat in die Sauna und reflektiere den vergangenen Monat: Wie geht es mir emotional? Wie geht es mir psychisch? Woran muss ich arbeiten?

Die grundsätzliche Stimmung in Bezug auf die Wahlkampfstände wird immer härter. Wenn ich überlege, wie das bei der Bundestagswahl, bei der Landtagswahl und zuletzt bei der Europawahl war, ist das auf jeden Fall eine Steigerung. Aber eine Steigerung in zwei Extreme. Ich habe vorher nie erlebt, dass ich an Wahlkampfständen angeschrien wurde, aber ich habe es vorher auch nie erlebt, dass jemand mit einer Merci-Schokolade aus dem Supermarkt kommt und „Danke“ sagt. Und jetzt passiert beides.

Anna Heimann

Anna Heimann (17) ist Kreisvorsitzende der Jungen Liberalen (JuLis) Bonn und Beisitzerin im Landesvorstand Nordrhein-Westfalen. Anfang 2022 ist sie erst den Jungen Liberalen beigetreten. Ein halbes Jahr später dann auch den Freien Demokarten.

Anna Heimann ist Kreisvorsitzende der JuLis Bonn. Foto: Anna Heimann

Bisher musste ich glücklicherweise noch keine Erfahrungen mit Übergriffen machen. Aber ich habe von Leuten gehört, denen sowas passiert ist: Drohbriefe wurden verschickt, Häuser mit Eiern beworfen, Menschen angespuckt. Die Vorstellung, dass jemand angegriffen wird, weil er ein Plakat aufhängt, Flyer verteilt oder sich anderweitig politisch engagiert, ist wirklich erschreckend und macht auch Angst.

Aber gerade diese Angriffe zeigen, wie wichtig es ist, sich trotzdem zu engagieren. Es ist entscheidend, dass Menschen unsere demokratischen Werte vertreten und immer wieder den Diskurs und die konstruktive Debatte über solche Angriffe stellen. Diese Angriffe sensibilisieren. Es ist klar, dass es solche Vorfälle gibt und immer etwas passieren kann. Das ist kein neues Phänomen. Die Ausprägung ist nur viel stärker geworden.

Bauchschmerzen gehören dazu

Richtig auf solche Angriffe vorbereitet werden wir nicht. Vielleicht auch, weil die Partei keine Angst schüren möchte. Natürlich beunruhigt es, aber ich finde es sehr viel wichtiger, dass solche Vorfälle nicht einzelne Personen davon abhalten, sich zu engagieren. Meine Motivation und den Drang, etwas zu verändern, steigen vielmehr durch solche Vorfälle. Wir dürfen uns keine Angst machen lassen, denn das wollen diese Menschen erreichen. Wir dürfen uns nicht zurückziehen und solchen Leuten das Feld überlassen.

Meine Freunde sagen, das ist mutig. Ich sage, es ist wichtig. Ich kann nachvollziehen, wenn junge Leute wegen solcher Angriffe ein mulmiges Gefühl haben. Es ist eine sehr traurige Entwicklung. Wir brauchen viel mehr Menschen, die sich engagieren. Besonders junge Menschen. In den meisten Parteien ist der Altersdurchschnitt sehr hoch. Da braucht es junge Menschen, die eine wertvolle Perspektive einbringen.

 

 

Beitragsbild: Adobe Stock/Andrew Norris

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