Das Leben von Profiballetttänzer*innen startet oft weit weg von zuhause. Für den Vertrag in einem Ensemble trainieren sie täglich und stellen das Privatleben hinten an. Drei Balletttänzer*innen haben es geschafft und berichten von ihren Erfahrungen.
Sie wartet gespannt vor ihrem Telefon auf ein Klingeln. Ein Klingeln, das ihr Leben für immer verändern wird. Ein Klingeln, das sie von ihren Eltern, ihren Freund*innen und ihrer Heimat trennen wird. Ein Klingeln, das tatsächlich ertönt. Sae Tamura ist sechzehn Jahre alt, als sie fürs Ballett allein von Japan nach Europa zieht. Ihre Eltern sieht sie seither zweimal im Jahr. Einmal in der Sommerpause, einmal in der Winterpause. Das ist nicht immer leicht – und doch lebt Tamura ihren Traum als Profiballetttänzerin in Deutschland.
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„Maestro“, ruft die Trainerin und klatscht in die Hände. Schon erklingen von dem schwarzen Flügel aus der Ecke des Ballettsaals leise Klänge klassischer Musik. Graziös, anmutig und mit weichen, entspannten Gesichtszügen vollbringen die etwa 30 Tänzer*innen aus dem Ensemble des Theaters Dortmund ihre Abfolgen. Die Konzentration ist dennoch deutlich zu spüren. Niemand lacht, niemand redet.
Langsam stolziert die Trainerin an den Ballettstangen entlang durch die Tanzreihen, verbessert hier und da etwas an der Haltung, tätschelt hier und da einem*einer Tänzer*in die Schulter. Weiter geht es mit einer längeren Schrittfolge, die die Trainerin vortanzt. Die Tänzer*innen schauen zu und beherrschen sie sofort. Ihre Füße bewegen sich in verschiedenen Tempi in unterschiedliche Richtungen: mal nach vorne, mal nach hinten, zur Seite oder in die Diagonale.
Im letzten Drittel der Stunde rollen die Tänzer*innen die Ballettstangen an die Seite und ziehen ihre Spitzenschuhe an. Sie sammeln sich in Reihen am Ende des Ballettsaals und der Maestro stimmt einen flotten Takt an. Gruppenweise drehen die Tänzer*innen Pirouetten in Richtung Spiegelfront. Auf ihren Gesichtern hat sich ein leichter Schweißfilm gebildet und es blitzt Enttäuschung auf, wenn eine Abfolge nicht perfekt sitzt.
Als Kind raus in die Welt, um den Traum zu leben
Seit ihrem vierten Lebensjahr tanzt Sae Tamura Ballett, ein typisches Startalter für Tänzer*innen aus der Branche. Während andere Kinder im Sandkasten sitzen, steht sie mit Schläppchen im Tanzsaal. Anstatt auf eine Ballettakademie ist Tamura in Japan zunächst auf eine öffentliche Schule gegangen, nicht unüblich für Tänzer*innen. „Ich war von morgens bis nachmittags in der Schule und bin danach bis 22 Uhr in der Ballettschule gewesen. Das war verrückt. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe“, sagt sie.
Um ihren Traum einer professionellen Ballettkarriere zu erreichen, geht es für Tamura, ähnlich wie für viele andere Tänzer*innen zwischen 13 und 18 Jahren, weit weg von zuhause. Der alles verändernde Anruf führte sie zunächst in ein Internat nach Wien, bevor sie später einen Vertrag am Theater Dortmund erhielt.
„Ich lag viel weinend in Bett“
Ihre Eltern haben sie in den ersten Wochen ihrer Reise begleitet, bis sie sich eingelebt hat. Dann war sie auf sich allein gestellt. „Ich wurde mit vier deutschsprachigen Mädchen in ein Zimmer eingeteilt. Für mich war die deutsche Sprache nur eine Ansammlung von Tönen. Ich lag viel weinend im Bett“, erinnert sich die heute 33-Jährige. Mit der Zeit habe sie sich an die Situation gewöhnt, heute spricht sie deutsch.
Genau wie Tamura haben auch ihre Kolleg*innen Liberty Fergus und Samuel Bassler ihre Heimat für ihre Tanzkarriere aufgegeben. Sie alle sind Teil des Ballettensembles am Theater Dortmund. Liberty Fergus ist 20 Jahre alt und kommt direkt aus ihrer Tanzausbildung in London. Samuel Bassler ist 21 Jahre alt und stammt aus München. Er ist bereits seit ein paar Jahren im Ensemble in Dortmund.
Viel Training, wenig Freizeit
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Alle paar Sekunden wird die Türklinke gedrückt. Junge Menschen mit Musikkoffern und Sporttaschen eilen am Pförtner mit einem freundlichen „Morgen“ vorbei. Zehn Minuten vor Trainingsbeginn herrscht reges Treiben im Foyer des Theaters.
Im Ballettsaal bereiten sich die Tänzer*innen auf das nächste Training vor. Die einen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden, die anderen beginnen sich zu dehnen, stimulieren ihre Füße mit kleinen Gummibällen oder kleben sich Pflaster an die Zehen. Um Punkt 10 Uhr betritt die Trainerin den Raum und beginnt die Stunde.
Der Alltag der Profi-Balletttänzer*innen ist durchgetaktet. Sie müssen strikte Zeitabläufe und Regenerationszeiten einhalten. Zwischen den Proben gibt es nur kurze Pausen. Die Tänzer*innen dürfen auf keinen Fall kalt werden, um sich nicht zu verletzen.
Der eigene Körper als Überlebensgarantie
„Ich glaube, wenn wir ehrlich zu uns sind, opfert jeder von uns in vielen Lebensbereichen ein Stück von sich fürs Ballett“, sagt Sae Tamura. Viel Zeit für Freunde bleibe da nicht. In ihrer Kindheit sei das hart gewesen. Heute nehme sie das nicht mehr als Opfer wahr. „Es wird zur Routine, dass wir einen sehr großen Teil unserer Freizeit in unseren Körper und unsere Fitness investieren. Das machen wir gerne“, sagt auch Samuel Bassler.
Als Tänzer*innen müssen sie jederzeit auf ihre Körper Acht geben, denn diese sind die Überlebensgarantie in der Ballettwelt. „Wir sind Menschen mit einem sehr hohen Energielevel. Wir brauchen das hohe Trainingspensum, um uns auszupowern“, sagt Liberty Fergus. Das Privatleben sei zwar auf ein Minimum reduziert, aber auch nach einem langen Trainingstag hätten sie noch die Energie, mit Freunden auszugehen. Die meiste Zeit würden sie dennoch in der Tänzer*innen-Bubble verbringen. „Für mich ist das Ensemble meine zweite Familie geworden, wir unterstützen uns alle sehr“, schwärmt Sae Tamura.
Leistungsdruck als ständiger Begleiter
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Drei Jahre. So lange sind die Tänzer*innen im Hauptensemble am Theater Dortmund unter Vertrag. Danach müssen sie jedes Jahr aufs Neue darum bangen, ob ihr Vertrag verlängert wird. „Das ist schrecklich“, sagt Sae Tamura und lacht gequält.
Die ständige Ungewissheit bedeutet für die Tänzer*innen, dass sie permanent unter Beobachtung stehen, sich permanent beweisen müssen. Die Trainer*innen sehen alles. Wer sich nicht genug anstrengt, fliegt raus.
„Mir macht mein eigener Leistungsdruck mehr zu schaffen als der von anderen“, sagt Samuel Bassler. Die Meinung anderer könne für ihn nie so wichtig sein wie seine eigene. „Auch wenn mich das in schlechten Zeiten zerfrisst, rettet der Druck mich auch und macht mich als Mensch stärker.“ Für Bassler sei der Leistungsdruck etwas Positives, er möchte ihn sogar spüren. „Er bringt mich dazu, alles in die Kunstform und den Moment zu geben.“
Die eigene Selbstblockade lösen
Es gebe Tänzer*innen, die auf einem sehr hohen Level arbeiten würden und ihre Leistung kurz vor dem entscheidenden Moment nicht abrufen könnten. „Ich versuche immer, innerlich bis „drei“ zu zählen und es dann einfach zu machen“, sagt Bassler. Es solle zur Gewohnheit werden, die Dinge nicht zu überdenken. „Selbst wenn etwas richtig Schlimmes dabei herumkommt, ist es immer besser, da durchzugehen, als es sein zu lassen“, sagt er.
Auch Sae Tamura empfindet Leistungsdruck, kurz bevor sie die Bühne betritt. „Sobald ich auf der Bühne stehe, versuche ich, mich zu fokussieren und die Musik zu fühlen, ganz in der Rolle zu sein.“ Bei technischen Parts werde sie trotzdem etwas nervös, hat aber folgenden Tipp: „Du musst dir selbst vertrauen und es einfach tun.“
Nicht jede*r ist für das Ballett gemacht
Xing Peng Wang, Ballettintendant und Choreograph am Theater Dortmund, verfolgt bei der Auswahl des Ensembles seine eigene Strategie. Grundsätzlich müssten die Tänzer*innen dem Leistungsdruck standhalten können. Psychologische Betreuungsangebote gebe es am Theater nicht. „Nicht jede Tänzer*in passt zum professionellen Weg der Kompanie“, sagt Wang. Wenn die Technik, die Kunst oder das Alter nicht stimmen würden, dann müssten Tänzer*innen gehen.
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Bei der Rollenvergabe versucht Wang trotzdem, die Tänzer*innen langsam an den Leistungsdruck heranzuführen. „Wenn ich sehe, jemand hat Potential, dann plane ich die Tänzer*in zunächst für die Viert-, Dritt- oder Zweitbesetzung einer Rolle ein. Wenn sie ihr künstlerisches Potential erkennen, dann können sie Soli tanzen“, erklärt er.
Im Theater Dortmund laufen die Tänzer*innen zügig zur Probe des aktuellen Ballettstücks. Der Zugang zur Bühne ist noch mit einem Absperrband abgeriegelt. Mehrere Helfer*innen rollen die Elemente des Bühnenbilds herein und fahren passende Leinwände von der Decke. Währenddessen sammeln sich die Tänzer*innen neben der Hauptbühne. Am Bühnenrand sind verschiedene Eingänge markiert, durch die sie zu ihren Positionen auf der Bühne gelangen. Der Ballettmeister steht mit einem Mikrofon im Publikum und gibt Anweisungen. Akt für Akt proben die Tänzer*innen das Stück.
Die Freude überwiegt den Schmerz
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Alle drei Tänzer*innen haben zwar ihr Hobby zum Beruf gemacht, sehen darin aber weitaus mehr als das. Auch nach 13 Jahren am Theater Dortmund steht für Sae Tamura fest: „Das Ballett ist in erster Linie meine Leidenschaft und wird es auch immer bleiben. Ich bin dankbar, dass ich es als Beruf ausüben kann.“ Denn das Gefühl beim Ballett sei ein ganz besonderes: „Ich liebe die Verbindung zwischen der Musik und dem Tanzen“, schwärmt die Tänzerin. „Durch unseren Körper, unsere Bewegungen, können wir die Musik sichtbar machen.“
Dem schließt sich auch Samuel Bassler an. Er beschreibt das Gefühl beim Tanzen wie einen Zwang, den sein Körper verspüre, sobald er die Musik wahrnimmt. „Ich kann einen Teil meines Lebens auf der Bühne durchleben, ohne ihn jemals gelebt zu haben“, sagt Bassler.
Daran, aufzugeben, hat noch keine*r der Tänzer*innen gedacht. Ihr Körper sei für Tamura wie ein Instrument. Manchmal fühle sie sich super und manchmal nicht. Trotzdem müsse sie sich sammeln und abliefern. „Ich stelle mir immer vor, dass das Publikum anreist und es ihr erstes und auch letztes Ballett sein könnte“, sagt sie. „Wir möchten mit ihnen eine Erinnerung schaffen, die sie nie vergessen.“
Eine volle Palette Emotionen
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Was dazukommt: Auch nach mehreren Jahren ist das Balletttanzen unglaublich schmerzhaft. „Der Schmerz hört leider nicht auf“, sagt Liberty Fergus. Trotzdem sei er nie so groß gewesen, dass sie hätte aufhören wollen. „Ballett gibt mir so viel mehr Freude als Schmerz. Deswegen mache ich weiter. Da braucht es nur diesen einen besonderen Moment in den Proben zu geben, in dem etwas Klick macht und alles plötzlich Sinn ergibt. Das ist den körperlichen und mentalen Schmerz wert“, sagt sie und strahlt.
Für Basslers Freunde sei seine Liebe zum Ballett, gerade als Mann, zu Beginn teilweise befremdlich gewesen. Vor allem in Deutschland habe der Tänzer das Gefühl, dass Kunstformen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden und vor allem die Kunst des Balletts einen femininen Unterton hat. „Natürlich habe ich ein paar komische Blicke bekommen, als ich meine Tanzkarriere begonnen habe. Da war aber auch viel Bewunderung und Respekt“, sagt Bassler. „Für mich ist es schön, mit einer sehr femininen und einer sehr maskulinen Seite von mir selbst in Berührung zu sein, dasselbe gilt auch für Frauen.“ Er habe beim Tanzen eine volle Palette seines emotionalen Spektrums, seiner Identität, für sich entdeckt.
Danke, der nächste bitte!
Der internationale Tanzmarkt ist hart. Gerade in Deutschland gibt es viel Konkurrenz aus dem Ausland, die viel auf sich nimmt, um ihrem Traum einer Profikarriere ein Stück näher zu kommen. Zu den Zielen einer solchen Karriere gehört eine Anstellung an einem Theater, denn sie garantiert den jungen Tänzer*innen einen stabilen Lohn. Um das zu erreichen, müssen sie zunächst an einem Vortanzen teilnehmen und sich qualifizieren. Dazu gibt es Webseiten mit Listen von Kompanien, die auf der Suche nach jungen Tänzer*innen sind. „Man sendet seinen Lebenslauf und Videovariationen von sich ein und wartet darauf, eingeladen zu werden“, erklärt Sae Tamura.
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Allein das gestalte sich als sehr schwierig. Denn für die Aufnahme von Tamuras aktuellem Ensemble seien damals so viele Tänzer*innen da gewesen, dass sie zunächst in mehrere Gruppen eingeteilt worden seien. Dann hätten die Mädchen an einer normalen Unterrichtsstunde teilgenommen und auf einen Vertrag gehofft. „In den ersten 30 Minuten sind die Trainer*innen zweimal durch die Reihen gegangen und haben Mädchen aussortiert. Danach ging es noch weiter“, erinnert sich Tamura. Die Geste des „Auf die Schulter Tippens“ in Kombination mit einem betonten „Thank you“ bedeute für die Tänzerinnen das Aus. „Das ist sehr taff. Die Mädchen lassen alles liegen und reisen von überall auf der Welt nur für dieses eine Vortanzen, diese eine Chance, an“, sagt Tamura. Dann zu gehen, sei frustrierend – und auch eine Frage der finanziellen Möglichkeiten.
Das Leben im Hier und Jetzt schätzen
Vor allem im professionellen Bereich hätten es weibliche Tänzerinnen oft schwerer auf dem Markt, weil sie sich in deutlicher Überzahl auf die freien Plätze im Ensemble bewerben, sagt Samuel Bassler.
Diese Situation kennt auch Liberty Fergus. Anstatt immer höher und weiter zu wollen, habe die 18-Jährige für ihre Zukunft etwas gelernt: „Ich möchte künstlerisch erfüllt sein, wo auch immer ich bin. Dass ich in meinem Inneren glücklich bin, ist für mich am wichtigsten“, sagt sie. Sie wolle sich nicht in Träumen der Zukunft verlieren, sondern sich im „Hier und Jetzt“ weiteren Herausforderungen stellen und neue Rollen ausprobieren. „Wenn ich technisch und künstlerisch so stark werde, wie es für mich geht und weiter an mir arbeite, dann wird mich der richtige Platz finden“, sagt sie.
Zukunftsängste: Mit Mitte 30 ist die Tanzkarriere vorbei
Mit Mitte 30 ist die Karriere eines*einer Tänzer*in meist vorbei. Der Körper ist kaputt, die Tänzer*innen werden langsamer in den Bewegungen, die Sprünge sind nicht mehr so hoch. Mit ihren 33 Jahren befindet sich Sae Tamura vermutlich bald am Ende ihrer Karriere als Profiballetttänzerin. Als ehemalige Profitänzerin bleiben ihr Jobs als Choreographin, Trainerin oder im Bereich der Lehre. Der Gedanke an ein Leben nach ihrer Profitanzkarriere sei beängstigend. „Wir haben diese Karriere so lange aufgebaut. Diese Identität hinter sich zu lassen, ist hart.“ Solange sie kann, möchte sie weiter tanzen. Denn: Ohne Ballett kann sie nicht sein.
Die Interviews mit Liberty Fergus und Sae Tamura wurden auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.
Beitragsbild: Sae Tamura