Aus 100 Jahren Lebensgeschichte kann Kurt Tittgen erzählen – und tut das auch sehr gern. Seine Strategie bis zum 101. Geburtstag? Struktur und immer das nächste Stück Kuchen vor Augen.
Es ist ein kalter, dunkler Donnerstagmorgen im Januar. Ein typischer Wintertag, die Straßen sind noch leer. Kurt Tittgen sitzt im Warmen. In seinem Rollstuhl an der Tür seines Zimmers. Er ist bereit zum Frühstück. Er trägt ein lockeres Polo-Shirt und eine bequeme Hose – sorgfältig ausgewählt, wie jeden Morgen. Seine kurzen, hellgrauen Haare sind gekämmt und eine schwarze, markante Brille rundet sein Gesicht ab.
„Das kann ich alles noch selbst, nich. Dafür brauch ich doch niemanden”, sagt er und lacht herzlich.
Es ist kurz nach 7 Uhr, als Kurt sich auf den Weg zum Frühstückssaal macht. Er könnte sich abholen lassen, die Pfleger*innen des Fliedner-Dorfes in Mülheim an der Ruhr würden ihn begleiten – aber das kommt für ihn nicht in Frage. „Ne, das muss doch noch net sein”, sagt der 100-Jährige. „Kaffee ja – und natürlich Milch.“ Die Mitarbeiterin schenkt ihm beides ein. Mit einem Schmunzeln bedankt sich Kurt.
Kurts Jugend
Nach dem Frühstück verbringt Kurt die Zeit bis zum Mittagessen mit einer Tageszeitung und seinem Wellensittich Bubby. „Meinem Sohn Wolfgang habe ich damals gesagt: Ich gehe nur in ein Heim, wenn ich Bubby mitnehmen darf, Sky schauen kann und weiterhin meine Tageszeitung bekomme”, sagt er zufrieden.

Aufgewachsen ist Kurt im Arbeitermillieu. „Nur 50 Quadratmeter für ganze vier Personen. Ja, so war dat damals”, erinnert er sich, während er vor seiner Tageszeitung sitzt. Er und sein älterer Bruder Werner verbrachten die meiste Zeit draußen, beim Fußballspielen auf den Straßen Mülheims.
Bis 1933. „Als Hitler an die Macht kam – Adolf Hitler – ja, da mussten mein Bruder und ich dann zur Hitlerjugend.” Er schaut ernst zum Fenster raus. „Dat fand ich zuerst nicht schlecht – wir mussten ja auch dazu gehören.” Politik spielte bei ihm Zuhause keine Rolle. Deshalb war es für ihn normal: morgens zur Schule und nachmittags zur Hitlerjugend. Nach der Volksschule begann er mit 14 Jahren eine Lehre als Elektriker. Lange konnte Kurt nach seinem Abschluss diesen Beruf nicht ausüben. Der Zweite Weltkrieg begann.
Seine Jahre im U-Boot
1941 wurde Kurt mit 17 Jahren zum Wehrdienst eingezogen. „Davor war ich zu jung“, sagt er nüchtern, als er Bubbys kleinen Wassernapf auffüllt. „Ich konnte dann nicht mehr sagen: Ich will dat nicht. Dat durfte ich nicht”, sagt er aufgewühlt. Für die Grundausbildung musste er von Mülheim an der Ruhr nach Kiel ziehen. Danach wurde er als Verantwortlicher für die E-Maschine, das Herz des U-Bootes, eingesetzt.
Sein Gesicht wird ernst, als er in Gedanken 84 Jahre in die Vergangenheit reist. „Dat kann sich keiner vorstellen – dat kann sich keiner vorstellen”, sagt er leise. „Wenn – wenn die Wasserbomben kamen, die wollten uns zerplatzen – dat ist so schlimm – dat kann sich keiner vorstellen.”
Er lebte mit den anderen Besatzungsmitgliedern in einem Metallrohr unter Wasser, eng zusammengepfercht. Es gab keinen echten Tag-Nacht-Rhythmus. „Wenn wir frische Luft brauchten, dann mussten wir auftauchen. Darauf mussten wir warten.“ Warten. Langeweile und Angst. „Ich hatte solch ne Angst vor dem ersten Feindkontakt. Jedet Mal aufs Neue”, erinnert er sich mit unruhigen Händen. „Dat muss man sich erstmal vorstellen. Da sterben auf einmal so viele Menschen.” Er starrt auf die Uhr an der Wand.
„Eigentlich wär ich nicht mehr hier, nich.”
„Sie gaben uns Vitamine – Vitamin C – für unsere Zähne”, erinnert er sich mit zusammengekniffenen Augen. Trotzdem wurde Kurt krank und musste das U-Boot verlassen. Er blieb an Land, um gesund zu werden. Das U-Boot, auf dem er noch vor ein paar Tagen lebte, wurde von Kriegsgegnern zerbombt. Alle seine Kameraden starben.
Danach diente Kurt zwei weitere Jahre Deutschland im Nordmeer bei Norwegen. Bis 1945 dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein letztes Mal sollten die deutschen U-Boote Deutschland vor der Normandie verteidigen. Der D-Day sollte verhindert werden. Doch Kurt und die Besatzung seines U-Bootes kamen nicht so weit – zum Glück. Sie gingen in Deutschland lebend von Bord.
Dann war alles vorbei. Der damals 21-jährige Kurt wurde im Emsland in britische Gefangenschaft genommen, wo er wartete, während sich die Welt um ihn herum neu ordnete. Er erinnert sich: „Wir wurden gut behandelt, nicht unwürdig.” Nach einem Jahr durfte er nach Mülheim zurückkehren – zu seiner Familie. Sein Bruder Werner kam erst 1949 aus der russischen Kriegsgefangenschaft frei.
Kurt schaut ernst hinab auf die Tageszeitung. Er hat erlebt, was Kriege und Krisen bedeuten. Für ihn ist deshalb klar: „Natürlich gehe ich wählen – dat ist Pflicht!” Eines ist für ihn sicher: „Nicht rechts.” Damit so etwas, wie 1933 nicht noch einmal passiert.
Ein neues Leben nach dem Krieg
Es ist Viertel vor 12, als Kurt Tittgen wieder seinen Rollstuhl in Richtung Speisesaal lenkt. Jetzt steht sein Mittagessen an. Während sich Kurt Titten durch den Gang lenkt, denkt er an die Mittagessen mit seiner Frau Ilse – damals.
Er schmunzelt bei dem Gedanken. Es war 1946, als er lIse das erste Mal sah. „Wir haben uns in einer Gaststätte kennengelernt. Wir haben zusammen getanzt”, erzählt er mit glänzenden Augen. Sie wohnte in der Nähe der Gaststätte und die Tanzabende waren für beide ein kleines Stück Normalität in einer noch zerstörten Welt. Um Ilse zu beeindrucken, lieh Kurt sich heimlich alte Platten von seinem Bruder Werner, zu denen sie dann tanzten.
Doch ihre junge Liebe standen einige Hindernisse im Weg. Ilse war 17, Kurt 21 – und damit gerade erst volljährig. Ilses Vater war der Vorsitzender des Fußballvereins TuS Union 09 Mülheim und sehr streng. Um Ilse heiraten zu dürfen, musste Kurt in den Verein wechseln. „Ja, dat war damals so”, sagt er und lacht herzlich. Am 10. Juli 1948 heirateten die beiden. Ein Jahr später kam ihr Sohn Wolfgang zur Welt.
Zu sechst auf engem Raum
Es war schwer als kleine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu dritt zogen sie zu Kurts Eltern und seinem Bruder Werner. Wieder in die 50-Quadratmeter-Wohnung, in der Kurt aufgewachsen ist. So lebten sie zu sechst auf engem Raum. „Wolfgangs Zimmer war die Küche”, erinnert sich Kurt. Nachdem sein Bruder Werner auch geheiratet hatte und in eine eigene Wohnung zog, wurde es etwas entspannter.
„Ich bin dankbar für meinen Sohn Wolfgang.” Vor allem nach dem Tod seiner Frau Ilse 2019 waren Wolfgang und seine Frau Beate eine große Stütze für ihn. So konnte er bis letztes Jahr allein wohnen. „Allein einkaufen. Dat ging nicht mehr. Das hat Wolfgang gemacht”, erzählte er stolz. Aber den Rest, den konnte Kurt allein: „Gekocht habe ich immer, nich. Nein, das musste Beate nicht machen!” Er putzt sich den Mund mit der weißen Serviette ab und löst die Bremsen seines Rollstuhls.
Eine Liebe in Schwarz-Gelb
Nach dem Mittagessen setzt sich Kurt in seinen Sessel. „Ne, einen Mittagsschlaf brauch ich nicht.” Trotzdem fallen ihm die Augen manchmal zu, während im Hintergrund das Sportprogramm auf Sky läuft. Ein Leben ohne Fußball? Unvorstellbar für den Mülheimer.
„Ich war schon immer ein Fußballfan”, sagt er. Erst waren es nur die Mülheimer Vereine, die ihn begeisterten. Doch dann spielte Borussia Dortmund in Mülheim. Seitdem hat er kein einziges Spiel mehr verpasst.
Mit Wolfgang und seinem Enkel Fabian war er oft im Stadion, die Leidenschaft ist in der Familie. Nur Beate und Enkelin Kristina konnte er nicht überzeugen. „Die beiden sind Schalke-Fans, geborene Schalkerinnen!”, sagt er lachend.
Es gibt viele Spiele, die Kurt gesehen hat. Doch eins hat er nicht vergessen: „Dat Champions-League-Finale von 1997 ” Borussia Dortmund gegen Juventus Turin und Dortmund gewann. „Das entscheidende Tor schoss Lars Ricken – er ist heute der Geschäftsführer”, erklärt Kurt stolz.
Elektriker als Berufung
Es ist kurz vor drei, als sich im Heim der Geruch von Kaffee und frisch gebackenem Kuchen ausbreitet. Kurt ist auf dem Weg und lacht beschämt, als er zugibt: „Ich mag Kuchen sehr gerne.”
„Dat war immer so. Um drei gibt’s Kaffee und Kuchen”, lächelt der zierliche 100-Jährige. Früher – als er noch gearbeitet hat – gab es seine liebste Mahlzeit nur am Wochenende. Während er seinen Kaffee umrührt, denkt er an diese Zeit.
Nach dem Krieg wollte Kurt wieder als Elektriker arbeiten und ist einige Jahre für die englische Besatzung in Mülheim tätig. „Ich war da dat Mädchen für alles.“ Mit seinem Sohn Wolfgang fuhr er große Militärwagen, später wechselte er zu einem Haushaltswarenladen, in dem er Waschmaschinen verkaufte und installierte. „Da war ich überall unterwegs, immer beschäftigt.”
Ruhestand – nein, danke!
„Ich habe es geliebt nich – aber es ging auch um Geld, ja.”
Als Elektriker verdiente er nicht viel, aber genug, um seine kleine Familie zu versorgen. Als die Rente immer näher kam, stand für Kurt fest, dass er weiterarbeiten möchte. „Ich war ein Teil eines Familienunternehmens. Dat war wie meine zweite Familie.” Deshalb blieb er weitere zehn Jahre und lieferte einmal die Woche die Elektroteile aus. Heute – nochmal 20 Jahre später – hat er keinen Kontakt mehr zu seiner zweiten Familie: „Die Mitarbeiter, die Chefs – alle tot”, sagt Kurt bedrückt.

Er nutzte die neu gewonnene Zeit im Ruhestand für seine Familie und Freunde. „Viele Freunde hatten wir nicht – aber wir hatten uns”, sagt Kurt stolz. Das Ehepaar spielte Karten mit den Eltern der Schwiegertochter oder fuhr zusammen in den Urlaub. Ganz besonders wichtig war ihm die Zeit mit seinen Enkelkindern. Kurt holte die beiden aus der Schule ab. Mittags kam die Familie oft zum Essen zu Ilse und Kurt nach Hause: „Meine Frau stand dann ab morgens in der Küche und hat gekocht”, erinnert sich Kurt stolz.
Es ist kurz nach halb sechs, als Kurt in sein Butterbrot beißt. Ein ganzes Jahrhundert liegt hinter ihm. „Ich war immer zufrieden mit meinem Leben”, sagt er. „Nichts würde ich anders machen.”
Vor allem für seine Familie ist er dankbar. „Ich habe sogar zwei Urenkel – dat ist toll!”, erzählt er stolz. Ein Bild schmückt seine Wand: Kurt, Wolfgang, Fabian und Luca – einer der beiden Urenkel von ihm – vier Generationen.
101 – Das ist mein Ziel
Zurück in seinem Zimmer blickt er an die Wand. Dort hängt eine Urkunde. „Die hat mir die Mülheimer Bürgermeisterin geschenkt, als ich 100 wurde!”, sagt er stolz. „Ich wollte immer 100 werden.” Und alle aus seiner Familie wussten es: „Ich habe Fabian immer gefragt: Meinst du, ich schaffe das? Und Fabian hat immer geantwortet: Klar, Opa, du schaffst das!” Im August 2024 war es dann so weit: Kurt feierte seinen Geburtstag mit der ganzen Familie. Er überlegt kurz und zuckt leicht mit den Schultern, als er die Urkunde betrachtet: „Jetzt will ich 101 werden!” Er setzt sich in seinen Sessel und lehnt sich zufrieden zurück.
Die Uhr zeigt 21.45 Uhr. Der Western läuft noch, den sich Kurt vorhin im TV-Magazin rausgesucht hat. „Western mag ich sehr, die sind gut. Aber jetzt gehe ich schlafen. Kurt ist egal, dass der Film noch läuft. Auch wenn Dortmund spielt. Um 21.45 Uhr geht das Licht aus und Kurt ins Bett. Er freut sich auf morgen. Einen Tag näher an der 101.
Beitragsbild: Kurt Tittgen