Lücke im Lehrplan: Das Thema Sexualerziehung fehlt an Unis und Schulen

In der Lehramts-Ausbildung kommt das Thema Sexualität oft zu kurz. Das Themenfeld ist breit gefächert – dem wird die dürftige Vorbereitung angehender Lehrer*innen nicht gerecht. Das sorgt bei ihnen für Unsicherheit und hat Nachteile für die Schüler*innen.

Sexualerziehung ist ein vernachlässigtes Thema in der Ausbildung für Pädagog*innen. 2019 gaben 93 Prozent der befragten Lehrkräfte und Lehramtsstudierenden in einer Untersuchung der Universität Leipzig und der Hochschule Merseburg an, dass Inhalte zur sexuellen Bildung in ihrem Studium nicht ausreichend vorkamen. Bei 64 Prozent der Studierenden enthielt das Studium gar keine Inhalte. Das sorgt laut der Untersuchung dafür, dass Lehrkräfte sich nicht ausreichend auf die Thematik vorbereitet fühlen. Die fehlende Vorbereitung wiederum könne für Unsicherheit bei den Lehrenden sorgen, sodass sie sich unwohl damit fühlen würden, das Thema Sexualität im Unterricht aufzugreifen.

Paul Schröder wünscht sich mehr Inhalte zur Sexualerziehung im Studium. Foto: Judith Odenthal

Paul Schröder ist 26 Jahre alt und studiert Sonderpädagogik in den Fächern Deutsch und Sachunterricht. Er ist im achten Semester des Bachelor-Studiengangs an der Technischen Universität Dortmund. Bisher hatte er keine Inhalte zur Sexualerziehung. Bis zum Bachelor-Abschluss sind auch keine mehr geplant, sagt er und kommentiert: „Ich finde das fragwürdig. Einen Teil, der fester Bestandteil des Sachunterrichtes und so wichtig ist, einfach wegzulassen: Das ist eigentlich nicht haltbar.“

Rudimentäre Aufklärung wirkt sich direkt auf Schüler*innen aus

Besonders vernachlässigt wird der Bereich der sexualisierten Gewalt. Das könne gravierende Auswirkungen auf die Lebensrealität von Schüler*innen haben, sagt Professor Heinz-Jürgen Voß. Er hat an der Befragung aus Merseburg mitgewirkt. Die eigenen Genitalien benennen können, Berührungen verstehen, über Sexualität offen sprechen können – das sei unverzichtbar, um sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu verhindern und aufzudecken, erklärt der Sexualwissenschaftler. Trotzdem gaben in der Befragung fast 90 Prozent der Lehramtsstudierenden an, dass die Prävention sexualisierter Gewalt in ihrem Studium kein Thema war.

Schüler Luca bestätigt, dass ihm die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt im Unterricht fehlt. Er besucht die zwölfte Klasse und hatte während seiner Schulzeit dreimal Sexualkundeunterricht. „Besonders in den frühen Klassen sollte man darüber reden. Meistens wissen kleine Kinder gar nicht, was ein sexueller Übergriff ist.“

Auch geschlechtliche Vielfalt und unterschiedliche sexuelle Orientierungen sind in der Lehre kaum präsent. Das Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit, früher Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, stellte im Jahr 2019 fest, dass nur 47 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren im Unterricht das Thema Homosexualität behandelt haben. Jedoch deckt Homosexualität allein nicht den Bereich verschiedener sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten ab. Aufklärung über Diversität im Bereich der Sexualität sei wichtig, um Akzeptanz und Gleichbehandlung zu fördern, bestätigt auch Professor Voß. In der Oberstufe outete sich eine Mitschülerin von Luca als trans*. „Es hat fast bis zum Ende der Schulzeit gedauert, weil sie so viel Angst davor hatte. Nach dem Outing hatten alle unglaublich viele Fragen“, erzählt der Schüler.

Sexualerziehung gehört fest in den Lehrplan

Dass Schulen verpflichtet sind, an der Sexualerziehung junger Menschen mitzuwirken, ist seit Oktober 1968 in den „Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen“ der Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland festgehalten. Wie genau sie diese Erziehung gestalten, ist den Schulen zu großen Teilen selbst überlassen – viele Anregungen finden sich aber schon in den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz. Demnach soll Sexualerziehung interdisziplinär sein, also in mehreren Unterrichtsfächern stattfinden. Das bleibt in der Praxis häufig auf der Strecke: Im Biologieunterricht findet „Sexualkundeunterricht“ statt, andere Fächer tangieren das Themenfeld Sexualität kaum. Dabei steht bereits in den Empfehlungen aus dem Jahr 1968, dass zum Beispiel auch künstlerisch-kreative Fächer „ein vertieftes Verständnis der menschlichen Sexualität“ fördern können.

Als Antwort auf die Lücken im Lehrplan rief die Hochschule Merseburg unter Leitung von Professor Voß das Projekt „Sexuelle Bildung fürs Lehramt“, kurz SeBiLe, ins Leben. Das Projekt verlief in zwei Phasen: Die erste fokussierte sich besonders auf die Prävention sexualisierter Gewalt. Die zweite, SeBiLe 2.0, greift Fragen zur Sexualität auf einem breiten Spektrum auf und beschäftigt sich unter anderem mit Diversität, Sexualität und Behinderung und Pornografie. Als Ergebnis von SeBiLe 2.0 veröffentlichte die Hochschule im Jahr 2023 ein Curriculum, das dort ansetzen soll, wo die Lehramtsausbildung Fragen offenlässt. Das Curriculum ist online einsehbar und eignet sich auch für die Universität, an der es Dozent*innen zur Lehre verwenden können.  Zurzeit wird es unter anderem an der FU Berlin, der Universität Koblenz und der Universität in Leipzig genutzt. Der Erfolg des Projekts erstreckt sich mittlerweile auch über Landesgrenzen: Sowohl die Universität in Graz als auch die Pädagogische Hochschule Steiermark in Österreich beziehen das Curriculum mit in die Lehre ein. Außerdem wird nun eine angepasste Version für die Schweiz entwickelt. Das Feedback bezeichnet Professor Voß bisher als „durchweg positiv“.

 

 

Beitragsbild: pexels.com/cottonbro studio

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