Warum Theater cooler als Kino ist – und andersherum

Popcorn im roten Kinostuhl oder lieber Fantasiereise im großen Saal? Die Wahl zwischen Theater und Kino ist alles andere als einfach. Zur Wiedereröffnung des Dortmunder Schauspielhauses diskutieren unsere Autoren – und sprechen mit Kino- und Theatermitarbeitern, die von ihrem Bereich überzeugt sind.


Auf der großen Spiegelwand kleben bunte Post-Its. „Verantwortung“ steht da, „Selbstbestimmung“, aber auch „Autounfall vs. Panzer“. Vor dieser Wand sitzen einige Menschen zwischen 16 und 24 Jahren auf dem dunklen Teppichboden in einem Kreis und sprechen über das Gefühl, nach den Ferien wieder in die Schule oder Uni zu gehen. Im Hintergrund läuft laute Popmusik. Plötzlich springen alle auf und beginnen im Takt der Musik ihre Arme zu lockern und mit den Schultern zu kreisen. Später krabbeln sie über den Boden oder laufen wirr durcheinander.

Dass sich so viele junge Menschen im Foyer des Schauspielhauses Dortmund tummeln, ist wohl eher eine Seltenheit. Zumindest klischeehaft ist Theater weniger interessant für diese Altersgruppe. Wenn nicht gerade mal Schulklassen von einem engagierten Lehrer ins Schauspielhaus gescheucht werden, dann liegt der Altersdurchschnitt des Publikums in der Vorstellung vieler eher jenseits der 40. Aber ist Theater wirklich nur was für Rentner und übermotivierte Deutschlehrer?

Die Theaterpädagogin des Schauspielhauses Dortmund Sarah Jasinszczak leitet die Theaterpartisanen, die Jugendgruppe des Theaters, regt die Gespräche der jungen Leute an und führt die Probe. Außerdem arbeitet sie viel mit Schulklassen zusammen und gibt Seminare an der Uni. Und auch sie merkt, dass sich das Interesse der Jugend am Theater stark verändert hat.

 

 

Das Depot in der Dortmunder Nordstadt ist das perfekte Postkartenmotiv für modernen Ruhrpott-Industrie-Charme. Die ehemalige Straßenbahnwerkstatt beherbergt heute mehrere kleine Kulturbetriebe, deren Türen von der großen, grauen Lagerhalle abgehen: ein Theater, Ateliers, eine Galerie, die Redaktion der Nordstadtblogger und ein Kino. Vor der Tür des SweetSixteen-Kinos stehen drei rote Samtsessel und ein Baugerüst. Peter Fotheringham, der Besitzer des Programmkinos, steht darauf und wechselt eine Lampe aus. Denn er und seine Lebensgefährtin Suse Solbach machen hier alles selbst: vom Abkleben der Fenster, damit es im Kinosaal dunkel genug ist, über die Dekoration und die Auswahl der Filme, bis hin zum allabendlichen Verkauf von Eintrittskarten, Snacks und Getränken. Sie haben das SweetSixteen als Gegenentwurf zu konventionellen Kinos gegründet: Hier suchen sie Filme nach künstlerisch-ästhetischen Standards aus, nicht nach kommerziellen. Im Gegensatz zum Schauspielhaus kann Fotheringham sich hier nicht über einen Mangel an junger Kundschaft beschweren.

 

Dass das SweetSixteen so viele junge Kunden habe, mag vor allem erstaunlich wirken, weil diese mit ganz anderen Medien aufgewachsen sind. Netflix und Amazon Prime bieten eine unbegrenzte Auswahl an Filme für monatlich weniger Geld als zwei Kinobesuche. Warum soll man dann nicht günstiger mehr Filme gemütlich zu Hause auf dem Sofa gucken? Wozu überhaupt noch ins Kino gehen?

 

Ein dunkler Raum, in dem man darin versinken kann, was vorne passiert, in dem man seine Fantasie benutzen und abseits vom Alltag in andere Welten eintauchen kann– für manche ist das das Kino, für andere kann es aber auch das Theater sein.

 

Doch Theater ist nicht nur eine Flucht vor dem Alltag. Für Theaterpädagogin Sarah Jasinszczak erfüllt es noch eine andere wichtige Funktion. Es ist der Grund, warum Schulklassen regelmäßig zu Aufführungen gebracht werden und warum Theater ihrer Meinung nach gerade für junge Leute besonders wichtig und interessant ist.

 

Weil sie so überzeugt davon ist, dass Theater diese Wirkung auf junge Menschen hat, macht Sarah Jasinczczak ihre Arbeit mit Leidenschaft. Oft arbeitet sie mit Schulklassen oder anderen Gruppen junger Menschen zusammen, übt mit ihnen Stücke ein, macht Sprechtrainings, gibt Workshops und hilft den Teilnehmern, über sich hinauszuwachsen. Der Umgang mit Menschen begeistert sie dabei besonders.

 

Im Kino sind die Schauspieler jedoch nur auf der Leinwand. Die Arbeit mit Menschen kann Peter Fotheringham also nur aus dem Gespräch mit seinen Kunden ziehen. Doch auch für ihn ist das einer der schönsten Teile seiner Arbeit.

 

Dass Leute auch gerne mal ein bisschen weiter fahren, um sich im SweetSixteen einen Film anzugucken, mag vielleicht zunächst einmal komisch erscheinen. Doch mit all ihrer Eigenarbeit und ihrem Engagement haben Peter Fotheringham und Suse Solbach ein Programmkino geschaffen, das sich mit den urigen, gemütlichen Sofas, dem alten Filmprojektor, auf dem mittlerweile Zimmerpflanzen stehen, und den selbstbemalten Schildern stark von konventionellen Kinos abhebt. Doch die größte und beliebteste Besonderheit ist wohl eine andere: Hund Henry.

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Kino oder Theater, wo sollte man nun besser seine Zeit verbringen? Wo kann man besser auf Traumreise gehen? In welchem dunklen Raum kann man nun besser ganz und gar in der Geschichte versinken, die einem gerade gezeigt wird? Für Peter Fotheringham gar keine Frage: Seine Leidenschaft galt schon immer den Filmen.

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Sarah Jasinczczak sieht das natürlich anders. Für sie ist und bleibt das Schauspiel die bessere Form. Und deswegen setzt sie sich lieber in einen Theatersaal als in rote Plüschsessel.

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Sowohl Peter Fotheringham als auch Sarah Jasinczczak arbeiten mit viel Begeisterung und Engagement für ihre Kunstform – ob Theater oder Film, im Schauspielhaus oder Kino, ob vor einer mit Post-Its beklebten Spiegelwand oder auf einem Baugerüst.

Kommentar: Frisches Popcorn in virtuellen Welten
Von Daniel Weber: Der Duft von frischem Popcorn steigt auf, während das knallige Aufpoppen der Körner die Geräuschkulisse beim Ticketkauf bildet. Dicke, weiche Teppiche dämpfen den Schritt und führen sanft leitend zum Kinosaal. Oh, was für ein Glück! Im Vorführraum warten niedrige, ganz ordentlich gepolsterte und mit rotem Samt überzogene Sessel darauf, dass man sich ihnen hingibt und glückselig in ihren Tiefen versinkt. In diesen ersten Momenten purer Kino-Ekstase schlägt man den Blick mit trägen Augen auf und richtet ihn auf die riesige Leinwand, die irgendwo ganz, ganz weit vorne aufragt. Man schiebt sich ein wenig Popcorn in den Mund; die Körner zerbröseln krachend und hinterlassen einen wunderbar süßen Geschmack. So kann Glück aussehen. „Wo bin ich? Und wer bin ich?“, frage ich mich jedes Mal, wenn ich einen guten Film im Kino gesehen habe. Nach der Vorstellung schäle ich mich langsam aus meinem Sitz und taumle nach draußen ins Helle. Das ist es, was ich an Filmhäusern am meisten genieße: Ich verliere völlig das Gefühl für Raum und Zeit. Es ist diese Immersion, das völlige Eintauchen in andere Welten und das Kennenlernen von Leuten, von deren Innenleben man sonst nie etwas mitbekommen hätte. Ich trete heraus auf die Straße und wundere mich, dass es schon dunkel und der Gehweg nass ist. Die Außenwelt hat meine Abwesenheit für einen Sonnenuntergang und einen Wolkenbruch genutzt. Im Inneren war ich nämlich Teil einer ganz eigenen, der Wirklichkeit ein wenig entrückten Sphäre. Zwischen fremden Menschen in meinen Sessel gekuschelt wurde ich zum Teil einer sehr privaten, fast schon exklusiven Gemeinschaft, die das Interesse an diesem einen Film und seinem Thema zusammengeführt hat. Für etwa 90 Minuten saßen wir gemeinsam in einem Raum und durchlebten die gleichen Filmmomente. Mal ergriffen, mal belustigt, mal traurig teilten wir die Emotionen, die das cineastische Stück in uns hervorrief. Dadurch, dass ich den Reaktionen der anderen Besucher ausgesetzt war, musste ich mich auch mit meinen eigenen Empfindungen auseinandersetzen. Reagiere ich wie die meisten anderen? Reagiere ich anders? Habe ich andere Maßstäbe, an denen ich die „emotionalen“ Momente in Filmen messe? Beim Rausgehen schaue ich mir den kleinen Papierschnipsel an, der meine Eintrittskarte für die heutige Vorstellung war. Er ist gerade einmal so groß wie zwei Münzen und doch in der Lage, mich in eine ganz andere Lage zu versetzen. So teuer war diese kurze Reise gar nicht: Gerade einmal sechs Euro habe ich bezahlt – und auch die 1,50 Euro für die Limo finde ich echt fair. Ein Kinobesuch muss nicht immer super teuer sein. Wenn ich über zehn Euro bezahle, fühle ich mich zurecht wie im falschen Film. Wenn man aber etwas recherchiert und Glück hat, findet man die urigen Kino-Perlen zwischen den großen, kommerziellen Ketten. Da fühlt sich Kino nicht mehr wie Luxus an – und in der Regel unterstützt man damit dann auch noch kleine Programmkinos und die lokale Filmszene.

Kommentar: Fantasiereise im Theaterstuhl
von Lisa Oppermann: „Ich liebe es, Theater zu spielen. Es ist so viel realistischer als das Leben“, sagte der irische Dramatiker Oscar Wilde einmal. Das ist natürlich sehr spitz formuliert. Aber einen wahren Kern hat es schon. Denn Theater kann etwas, das keine andere Kunstform in dem Maße beherrscht: es kann das perfekte Maß an Abstraktion liefern. Im Kino sieht man, wie die Welt sein sollte. Alles ist immer schön ausgeleuchtet, alles passend arrangiert, immer mit passender Hintergrundmusik unterlegt, damit auch der letzte Zuschauer noch versteht, was genau er jetzt fühlen soll. Filme sind einfach. Einfach, weil sie immer alles zeigen und keinen Raum für Fantasie lassen können. Theater ist anders. Wenn ein Stück im brasilianischen Regenwald spielt, dann wird gar nicht erst versucht, den Zuschauern vorzugaukeln, dass die Schauspieler wirklich dort sind. Es wird an das Vorstellungsvermögen appelliert, an die intellektuellen Fähigkeiten, die ein jeder von uns im Alter von vier Jahren entwickelt haben sollte. Ein paar Blätter, ein bisschen grünes Licht repräsentieren einen Urwald, eine blaue Folie auf dem Boden ist klar als See zu erkennen – und nichts davon versucht, eins zu eins die Realität abzubilden. Und gerade deswegen ist es so real. Denn im Theater gibt es nicht die Mogelpackung, die uns Filmstudios präsentieren. Uns wird nicht vorgemacht, dass die Bühne die Welt ist. Stattdessen gibt es hier eine Abstraktion, die den Zuschauer fordert und ihn zum kritischen Denken und zur Fantasie anregt. Gerade Themen, die uns in der realen Welt vielleicht unwichtig oder zu komplex erscheinen, können wir manchmal nur auf diesem Level verstehen. Jemand, der sich mit der Hungerkrise im Jemen nicht beschäftigen will, der wird sich kaum eine Dokumentation oder ein Drama zu diesem Thema angucken. Wenn ein Theaterstück, das vordergründig von etwas ganz anderem handelt, diese Problematik thematisiert, dann taucht das Thema aber vielleicht doch einmal im Kopf dieser Person auf. Das ist es, was Abstraktion schaffen kann und Filme nicht. Im Theater können wir unsere eigenen Überzeugungen überdenken, müssen es manchmal sogar. Manchmal werden wir umgestimmt und manchmal bleiben wir auch bei unserer ursprünglichen Meinung. Aber das Entscheidende ist, dass wirklich gutes Theater so sehr zum kritischen Denken anregt wie kein Film es je könnte. Selbstverständlich muss nicht immer alles kritisch zerdacht werden. Selbstverständlich gibt es viele großartige Filme und selbstverständlich ist es auch vollkommen in Ordnung, wenn man es einfach nur einfach haben will. Aber jedem, der manchmal lieber denkt als einfache Antworten hinzunehmen, der sich ab und zu gerne in Fantasie und Vorstellungskraft üben und die Welt aus einer neuen Perspektive verstehen will, kann man wohl eher einen Besuch im Schauspielhaus empfehlen. Denn auf seine eigene, abstrakte Art ist es wirklich realistischer als das Leben. Und realistischer als das Kino allemal.

Fotos: Lisa Oppermann und Daniel Weber

Teaser- und Beitragsbild: pixabay/HolgersFotografie, lizensiert nach CC

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