“Beziehung? Nein danke!” – Wenn die Schutzmauer zu hoch ist


Die ersten Treffen laufen super und plötzlich Funkstille. Die Erklärung: „Beziehungen sind nicht so mein Ding.“ Doch obwohl viele junge Menschen Single sind, sind sie eins ganz sicher nicht – „beziehungsunfähig“. Beziehungsexperten und ein Student klären, was sich hinter dieser Ausrede versteckt.

Der Mensch muss als soziales Wesen Beziehungen zu anderen pflegen, um glücklich zu sein. Trotzdem sind viele junge Menschen Single. Kai ist einer von ihnen. Anders als viele versteckt er sich nicht hinter der Aussage beziehungsunfähig zu sein.

Kai erinnert sich an den Morgen nach einer Partynacht:
Die Bettdecke bewegt sich und die Matratze schwingt. Ich werde wach, sie steht auf. Ein Blick aufs Handy. 7:30 Uhr. Viel zu früh. Sie sammelt ihre Kleider auf, schlüpft hinein und schleicht zur Tür.
Ich schließe meine Augen wieder. Mir ist klar, dass sie jetzt geht und nach Hause fährt. „Tschüss“, sagt sie.  Nur kurz umgedreht, Tschüss gesagt und Ende – kein Abschiedskuss. Der Ablauf ist bereits vertraute Routine.

Kai macht gerade seinen Master als Wirtschaftsingenieur an der TU Dortmund und ist wie die Hälfte der unter 30-Jährigen in Deutschland Single. Das ergab vergangenes Jahr eine Studie zweier Online-Partnervermittlungen, bei der Alleinstehende in Deutschland zwischen 18 und 65 Jahren befragt wurden. Als Kai darauf angesprochen wird, wie es ihm momentan gefällt, Single zu sein, muss er lachen. „Sehr, sehr gut.“ Seinen vollständigen Namen möchte der 26-Jährige hier dennoch nicht lesen. Äußerlich kann man ihn durchaus als attraktiv beschreiben: sportliche Figur, dunkle Haare und 1,80 Meter groß. Er ist Single aus Überzeugung. Wann seine letzte Beziehung war, fällt Kai nicht sofort ein: „Ich weiß gar nicht, ob die letzte wirklich als Beziehung zählt, aber ich denke, meine letzte richtige ging so vor zweieinhalb Jahren zu Ende.“

„Da ist jemand, der will sich nicht binden“

Kai gehört zu den jungen Menschen, die es eher entspannt angehen lassen, was die Bindung zu einer Partnerin oder einem Partner angeht. Anstatt festen Beziehungen pflegen sie Freundschaften – Freundschaft Plus. Als beziehungsunfähig bezeichnet sich Kai jedoch nicht. Er sagt, er sei einfach in einer Phase, in der nur etwas „Lockeres“ zu ihm passt. Diplom-Sozialpädagoge und Mediator Joachim Zens sagt dazu: „Beziehungsunfähigkeit gibt es nicht. Beziehungskompetenz schon, und diese ist bei jungen Menschen, die sich selbst noch nicht so gut kennen, oftmals nicht besonders ausgeprägt.“ Single- und Paarcoach Eric Hegmann erklärt: „Jeder Mensch sehnt sich nach Bindung. Man kann nicht ohne zwischenmenschliche Beziehungen leben.“ Dazu gehören neben den Beziehungen zu Familie, Freundinnen und Freunden ab einem gewissen Alter auch körperliche und romantische Beziehungen.

Auch wenn er nachts Besuch hatte, beim Aufwachen ist Kai alleine

Dennoch tendieren jungen Menschen dazu, enge Paarbindungen zu umgehen. Das ergab eine weitere Studie einer Online-Partnervermittlung 2017. Befragt wurden über Tausend Singles in Deutschland unter 30 Jahren. Über 64 Prozent von ihnen gaben an, häufig auf Männer oder Frauen zu treffen, die sich in einer Partnerschaft nicht festlegen wollen. Warum aber Beziehungen meiden, wenn sie doch so wichtig sind?

„Wenn wir heute über Beziehungsunfähigkeit sprechen, dann meinen wir damit: Da ist jemand, der will sich nicht binden. Und dann ist man beim Thema Bindungsangst und muss sich angucken, woher diese kommt“, erklärt Hegmann. Der Experte berät seit 15 Jahren Singles und Paare und teilt die Gesellschaft in drei Gruppen: 60 Prozent der Bevölkerung haben ein sicheres Bindungsverhalten, etwa 20 Prozent ein ängstliches und weitere 20 Prozent ein vermeidendes. Welches Bindungsverhalten jeder einzelne Mensch entwickelt, lässt sich auf Erfahrungen in der frühen Kindheit zurückführen. „Ab dem Moment, in dem der Mensch auf die Welt kommt, ist er auf Unterstützung und somit auf Bindungen zu anderen Menschen angewiesen“, erklärt Hegmann. Je nachdem wie fürsorglich oder fordernd das Verhältnis von einem Baby zu seinen Eltern ist, entwickele es Verhaltensmuster, die im Laufe des Lebens verinnerlicht werden. „Erwachsene verhalten sich in ihrem Wunsch nach Bindung genauso, wie sie als Babys geprägt wurden: sicher, ängstlich oder vermeidend.“

Kindheit beeinflusst Beziehungsverhalten

Für Hegmann spiegeln sich diese drei Gruppen in den aktuellen Single- und Paarzahlen wieder: Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ist in Beziehungen. „Der Rest kämpft sich immer hin und her“, erklärt er. Je nachdem, welcher Bindungstyp man sei, habe man es mit Beziehungen also einfacher oder schwerer. Typ Ängstlich, dessen Verhalten durch Verlustangst gesteuert wird, und Typ Vermeidend, der unter Bindungsängsten leidet, haben besonders Probleme, Beziehungen zu führen, erläutert Hegmann. Sowohl die Verlustangst, als auch die Bindungsangst entwickle sich aufgrund eines verletzten Selbstwertes: „Ist der Selbstwert stark, ist das Bindungsverhalten sicher. Ist der Selbstwert verletzt, ist das Bindungsverhalten entweder ängstlich, also um den Partner bemüht, oder vermeidend, also nur auf sich selbst verlassend.“ Eine allgemeine Zuordnung der Geschlechter zu einem bestimmten Typ lasse sich, laut Hegmann, nicht vornehmen. Frauen und Männern zeigen gleichermaßen beide Verhaltensweisen auf. 

Im Grunde haben die meisten Singles laut Hegmann also Angst. Angst, sich im „Wir-Gefühl“ einer Beziehung zu verlieren oder davor, von der Partnerin oder dem Partner verlassen zu werden. „Die beiden so unterschiedlichen Gruppen treffen sehr häufig aufeinander und ziehen sich gegenseitig besonders an, weil sie sich in ihren Verhaltensweisen ergänzen“, sagt Singlescoach Hegmann. Der vermeidende Typ erhalte durch den ängstlichen Typ die nötige Anerkennung und der ängstliche Typ könne in seinen Bemühungen um Liebe aufgehen. Auch wenn diese Chemie anfangs sehr aufregend sei – gut tun sich diese zwei Beziehungstypen nicht, findet Hegmann. „Klar steigt dann die Anzahl frustrierter Singles.“

In der Praxis stellt Hegmann fest, dass Menschen mit einem sicheren Bindungsverhalten von anderen Bindungstypen als langweilig empfunden und deshalb oft übersehen werden. „Der niedrige Selbstwert redet den Betroffenen ein, dass mit der Person, die sich sofort für sie interessiert, irgendetwas nicht stimmen kann. Denn persönlich finden sie sich ja gar nicht so toll.“ Und dabei seien die Menschen mit dem sicheren Bindungsverhalten genau die richtigen Partner für sowohl die ängstlichen, als auch die vermeidenden Singles. Denn diese können ihre Ängste ausgleichen.

Kais Morgen schreitet voran:
Ich suche nach einem Glas Wasser. Ich versuche, den Kater loszuwerden, der sich bei mir einschleicht. 
Ich trage Boxershorts und T-Shirt. Noch benommen vor Müdigkeit schlurfe ich in die Küche. Dort sitzt meine Mitbewohnerin – das Make-up verschmiert, die Haare zerzaust. „Warum liegen deine Klamotten eigentlich in der Küche … und auf dem Balkon?“, fragt sie und schmunzelt.

Die Ausrede junger Menschen: Beziehungsunfähigkeit

Sex ja, aber eine Beziehung kommt für Kai nicht in Frage

„Beziehungen sind nicht so mein Ding“, „Ich will nur was Lockeres“ oder: „Wie wär‘s denn mit Freundschaft Plus?“ – all diese Sprüche seien letztendlich nur Ausreden junger Menschen, um engen Bindungen aus dem Weg zu gehen. Dieses Verhalten ist,  neben der Prägung in der Kindheit, negativen Erfragungen mit früheren romantischen Beziehungen geschuldet, erklärt Pädagoge Zens. Hegmann unterstützt die These: „Viele Singles wurden so verletzt, dass sie denken, nie wieder Vertrauen fassen zu können. Daher ziehen sie sich zurück und lassen niemanden mehr nah an sich heran. Schmerzhaften Trennung, Affäre oder Betrug können dazu führen, das Singles Schutzstrategien entwickeln, die sie vorher nicht hatten.“ Im Laufe unseres Lebens kann sich also unser Bindungsverhalten ändern – und sogar ins negativ entwickeln.

Wenn Kai über seine letzte Beziehung spricht, in die er tiefe Gefühle investierte, verändert sich seine Körperhaltung. „Ich sehe vieles einfach nicht mehr so rosarot“, sagt er schulterzuckend. Es ist ihm anzumerken, dass er sich seine nächsten Worte gut überlegt. „Es ist schon etwas länger her, aber ich war so verliebt und wurde bitterböse, also echt heftig, verarscht. Seitdem hatte ich auch keine Beziehung mehr, an der ich wirklich emotional dranhing.“ 

Kai gehört wohl zu der Gruppe, die ein vermeidendes Bindungsverhalten hat. Denkt er an Beziehungen, kommen ihm als erstes die Kompromisse in den Sinn, die man für die Partnerin oder den Partner eingehen muss. Er gibt zu: „Ich bin, was manche Dinge angeht, halt ein kleiner Egoist und stelle mich an die erste Stelle. Für eine Beziehung muss man zurückstecken und aufeinander achten. Ich will mich da gar nicht so einschränken lassen.“

Alles mit einem für immer – „Schwierig bis unmöglich“?

Die Statistik bestätigt: Bedingungslose Selbstverwirklichung hat für junge Menschen zurzeit höchste Priorität. Hegmann erzählt, dass junge Menschen gegenwärtig gesellschaftlich nicht mehr dazu gezwungen seien, in Beziehungen zu bleiben, die sie nicht erfüllen. Ganz anders als ihre Großeltern, auf denen der Druck der Gesellschaft lag, sich bereits sehr jung und vor allem nur auf einen Lebenspartner oder eine Partnerin einzulassen. „Damals haben sich Beziehungen ganz anders angefühlt und wurden anders eingegangen. Grund dafür ist, dass sich die Menschen Beziehungen auf Augenhöhe, eine gleichberechtigte Beziehung wünschen“, ergänzt Eric Hegmann.

Dass sich gerade gegenwärtig Singles gerne den Stempel der „Beziehungsunfähigkeit“ aufdrücken, habe mit diesen wachsenden Erwartungen zu tun, erzählt Hegmann. Diese seien so hoch, dass es praktisch unmöglich sei, eine reale Person zu finden, die ihnen genügt. Romantik und Erotik spielen dabei eine zentrale Rolle. Zens beobachtet, dass viele, vor allem männliche Singles, einem romantischen Weltbild nachträumen: „Es muss gleich beim ersten Mal Klick machen, sonst kann diese Person schließlich nicht die richtige sein.“

Etwas Lockeres ist bei vielen jungen Leuten beliebt

Auch Kais Ansprüche an die Frauenwelt scheinen sich mit der Realität nicht vereinbaren zu lassen. „Ich habe das Gefühl, ich treffe keine Mädels mehr, die mich vom ersten Moment an vom Hocker reißen. Die sind zwar klug und süß, aber das Besondere fehlt mir einfach. Klar wäre es toll, jemanden zu treffen, mit dem das Leben schöner ist und mit dem man zusammen alt wird. Aber diese Person überhaupt zu finden, finde ich schwierig bis unmöglich.“ Geprägt von den Liebespaaren der Disney Studios, wünscht sich die Mehrheit der Singles – laut der Studie der Partnervermittlung ganze 71 Prozent – nämlich genau das, was Dornröschen, Belle und Schneewittchen haben: Eine Partnerin oder einen Partner, mit der oder dem sie ihr Leben lang zusammenbleiben.

Kai erinnert sich weiter:
Ich antworte auf die Worte meiner Mitbewohnerin mit einem schiefen Grinsen. Nachdem die Arbeit für die Uni erledigt ist, geht es in den Westpark. Dort sehe ich meine Freundschaft Plus wieder. Wir sind auch ganz normale Freunde. Zur Begrüßung eine freundschaftliche Umarmung. Küsse in der Öffentlichkeit gibt es nicht.

„Man kann nebenbei noch nach was Besserem Ausschau halten“

Die Freundschaft Plus ist vor allem bei Frauen und Männern unter Dreißig beliebt. Jede und jeder Dritte dieser Altersgruppe hat schon mal mit einer guten Freundin oder einem guten Freund geschlafen, so die Studie. „Man weiß, dass die Person nicht der Partner fürs Leben ist, aber man kann halt immer auf sie zurückgreifen, wenn man sich gerade einsam fühlt oder etwas Nähe braucht“, sagt Kai. Und das Beste an der Sache? „Man kann nebenbei noch nach was Besserem Ausschau halten.“ Das sich junge Menschen ganz in Ruhe nach einem passenden Langzeitpartner umschauen können, ist durch gelockerte gesellschaftliche Strukturen erst möglich. Singlecoach Hegmann sagt: „Es ist gesellschaftlich akzeptiert, zwischen dem klassischen Beziehungsmodell Beziehungen so zu führen, wie einem das selbst passt. Da ist heute alles möglich und das wird auch ausprobiert.“ 

Kai ist mit dem Bindungsmodell, das er für sich gewählt hat, momentan mehr als zufrieden: „Und dabei bin ich nicht einmal einsam, sondern komme voll auf meine Kosten. Zurzeit ist mein Sexleben ganz in Ordnung.“ Keine Zwänge, keine Sorgen. Schließlich hätten er und alle anderen jungen Singles noch lange Zeit, ihre Partnerin oder ihren Partner für alles und immer zu finden.

Beitrags- und Teaserfotos: Jessica Eberle

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1 Kommentare

  1. says: Tobias Spranger

    Vielen Dank für Ihren interessanten Artikel. Auf den ersten Blick widerspricht es sich ja, wenn Menschen mit Bindungsangst Nähe zu einem möglichen Partner suchen.

    Es ist traurig, wenn zwei Menschen wieder auseinander gehen, die eigentlich echte Gefühle für einander empfinden. Mir fällt immer wieder auf, dass viele junge Menschen vorschnell eine noch junge Beziehung abbrechen – sei es aufgrund von mangelndem Vertrauen oder Bindungsangst.

    Ich habe erlebt, dass bindungsscheue Freunde zwar Kontakte zu möglichen Partner aufgebaut haben, aber dann plötzlich wieder verschwinden. Beide verstanden sich super, hatten viel Spaß miteinander. Allerdings kam es für einen von beiden zu zuviel Nähe.

    Die Gründe dafür, Bindungsangst zu haben und sich deshalb nicht fest an jemanden anders binden zu können ist wohl mangelndes Vertrauen zu sich selbst oder zu der anderen Person. Mein Freund hatte viele negative Erlebnisse und erlebte immer wieder, dass eine seiner Beziehungen zerbrach, weil seine Partnerin fremd ging.

    Aufgrund dieses schwerwiegenden Vertrauensbruchs war er nicht mehr in der Lage, neue Nähe zu jemanden zuzulassen. Er empfand diese Untreue als der betrogene Partner als sehr schmerzlich. Betroffen sind ja meist sehr sensible Bereiche im Miteinander von zwei Menschen.

    Mein Freund nimmt jetzt die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch. Dadurch kann er Schritt für Schritt seine Bindungsangst verlieren. Langsam wächst wieder seine Möglichkeit, neue Nähe zu einer anderen Person aufzubauen.

    Allerdings bleibt er möglichen neuerlichen Fehltritten gegenüber sehr sensibel. Er weiß aber, dass er dem anderen nicht ständig Misstrauen bei allen möglichen Anlässen entgegenbringen darf. Das muss er sich selbst immer wieder bewusst machen, um nicht in die alten Muster der Beziehungsangst zurückzufallen.

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