Seit heute Morgen um 9 Uhr Ortszeit gilt das Kriegsrecht in zehn ukrainischen Territorien. Junge Ukrainer reagieren verängstigt auf diese Entscheidung. Sie befürchten auch, dass der ukrainische Präsident Poroschenko das Kriegsrecht als Vorwand nimmt, um die Präsidentschaftswahlen hinauszuschieben.
“Wenn ich ehrlich bin: Als ich zuerst gehört habe, was in meinem Land passiert, wollte ich weinen. Es hat mich alles an 2014 erinnert, als der Konflikt begann. Als ich dann gesehen habe, dass das Parlament das Kriegsrecht bestätigt, war ich total verängstigt für unsere Zukunft und was alles passieren könnte”, erzählt Oryna Kozmenko, die im ersten Semester Recht und Internationale Beziehungen an der Technischen Hochschule Tallinn studiert. Oryna kommt aus dem Donbass. In ihrer Heimatstadt Sjewjerodonezk hat sie den Krieg mitgemacht.
“Manchmal sind wir nachts um 3 Uhr aufgewacht und die Fenster haben vibriert. Leute wurden damals ohne Grund von Separatisten gefangen genommen. Es war gefährlich ukrainisch zu sprechen oder zu sagen du bist ukrainischer Patriot”, beschreibt Oryna ihre Erlebnisse. Obwohl wir nur online kommunizieren, ist zu spüren, wie sehr sie die aktuelle Lage mitnimmt. Ihre Eltern, die noch in Sjewjerodonezk wohnen, seien aber relativ entspannt, weil sie die angespannte Situation schon kennen würden und das beruhigt auch Oryna ein wenig.
Putin geht taktisch vor
Am Montag beantragte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko das Kriegsrecht für 10 der 27 ukrainischen Territorien, nachdem am vergangenen Sonntag russische Spezialkräfte drei ukrainische Marineschiffe gekapert haben. Russland hat den Vorfall damit begründet, dass die Ukrainer in russische Hoheitsgewässer eingedrungen wären. Der russische Grenzschutz, der dem Inlandsgeheimdienst FSB unterstellt ist, nahm bei der Aktion 23 ukrainische Seemänner fest. Über die Angaben von Verletzten gibt es unterschiedliche Aussagen. Die Russen sprechen von lediglich drei Leichtverletzten, die es bei der Aktion gab. Die Ukrainer reden allerdings von sechs Verletzten, darunter zwei Schwerverletzte.
Dr. Susan Stewart von der Stiftung Wissenschaft und Politik geht davon aus, dass die russische Regierung mit einer Taktik vorgeht: “Diese Provokationen sind durch Russland gewollt. Allerdings möchte Russland keinen vollständig offenen Krieg, da die Beziehungen zum Westen sonst erheblich beeinträchtigt wären. Aber Russland zeigt weiter, dass es gewillt ist, die Ukraine zu destabilisieren.”
“Nur fünf Prozent der Menschen unterstützen die Regierung und unseren Präsidenten. Und wenn der Kriegszustand herrscht, dürfen keine Präsidentenwahlen stattfinden. Der erste Gedanke der Leute hier nach der Ankündigung des Kriegszustandes war also: ´Der will die Wahl hinauszögern!´”, meint die 18-jährige Studentin Henriette Yaitskaya aus Kiew. Sie kommt eigentlich aus Lyssytchansk, einer Stadt mit knapp einhunderttausend Einwohnern im Donbass. Und genau da herrscht nun der Ausnahmezustand.Die Region des Donbass liegt direkt an der Grenze zu Russland.
Henriette formuliert ihre Sätze klar und lässt wenig Spielraum für Interpretation. Sie studiert Internationales Recht an der Nationale Taras-Schewtschenko-Universität Kiew. Es scheint, sie habe hier schnell gelernt analytisch zu denken und die Situationen ohne großen Pathos einzuschätzen.
Kriegsrecht kann verlängert werden
Das Parlament hat Poroschenko einen klaren Riegel vor seine ursprünglich geplante Idee geschoben. Denn der ukrainische Präsident wollte das Kriegsrecht für 60 Tage ausrufen und das hätte die Wahlen in der Tat verschieben können, wie Dr. Stewart erklärt: “Da der Wahlkampf in der Ukraine mit zum Wahlprozedere gehört, und dieser schon im Dezember anfängt, hätten die Wahlen, die eigentlich Ende März stattfinden sollen, verschoben werden müssen.”
Bis Ende Dezember müssen die Kandidaten für die Präsidentschaftswahl bekannt gegeben werden. Wenn in dieser Zeit aber Kriegsrecht herrscht, kann das nicht geschehen. Nun gilt das Kriegsrecht für 30 Tage, allerdings hat der nationale Sicherheitsberater Olexander Turtschynow die Möglichkeit für eine Verlängerung offen gelassen. Sollte es zu einer weiteren Aggression Russlands kommen, würde das Kriegsrecht verlängert, was zur Folge hätte, dass die Wahlen verschoben werden müssten.
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