Man hört es mittlerweile immer häufiger: “Ich hatte gestern wieder ein Tinder-Date”, “Ja, ich habe meinen Freund über Tinder kennengelernt” oder “Oh mein Gott, hast du den und den schon bei Tinder gefunden?” Die Einen nutzen die Möglichkeiten solcher Dating-Apps, die Anderen lehnen sie vehement ab. Am Ende ist es nur sexualisiert und oberflächlich, sagt Sophie. Am Ende ist es das, was man daraus macht, findet Kolja.
Möglichkeiten, die nutzen kann, wer will, sieht Kolja Fach.
Sehr lange habe ich die gängigen Vorurteile gegenüber Tinder und Co. geteilt. Warum das so war, kann ich nicht mal richtig begründen. An meiner Meinung angefangen zu zweifeln habe ich aber, als in meinem Bekanntenkreis die ersten Paare geheiratet haben, die sich Jahre davor bei Tinder kennengelernt haben. Diese Hochzeiten haben nämlich eins deutlich gemacht: Es spielt am Ende keine Rolle, woher man sich kennt. Das ist klingt unromantisch, ist aber das Gegenteil. Es heißt nämlich einfach: Wenn es sein soll, dann ist komplett egal, ob sich zwei Menschen im Internet, über Freunde, an der Supermarktkasse oder bei einer Kneipenschlägerei kennengelernt haben. Romantisch wird die Geschichte durch das, was sich aus ihr ergibt.
Unterschiedliche Arten der Nutzung
Tinder und Co. zu nutzen, heißt eben nicht zwangsläufig, anhand des Aussehens nach möglichst einfachen Dates zu suchen. Das machen zweifellos einige so, aber das ist ja auch in Ordnung. Wem das zuwider ist, der/die muss dabei ja nicht mitspielen. Es gibt nämlich genug Menschen, die ihre Profile so mit Informationen füllen, dass ihre Intentionen deutlich zu erkennen sind – seien es Freundschaften (gegebenenfalls mit Plus), Beziehungen oder sonst etwas. Umgekehrt suchen diese Menschen wahrscheinlich auch nur Leute aus, die ähnlich auftreten. Es gibt also diverse Ebenen, die man nicht qualitativ unterscheiden sollte, auf denen Menschen sich durch solche Netzwerke bewegen. Den typischen oder die typische Nutzer/in gibt es also gar nicht.
Nur die Vorstufe zum echten Leben
Was man grundsätzlich nicht vergessen sollte: Tinder ist kein Ersatz für Situationen im echten Leben. Nicht für lange Gespräche und nicht für ein erstes Date. Zumindest nicht in meinen Augen. Es ist bestenfalls eine Ergänzung oder der Weg dahin. Und gerade vor diesem Hintergrund verstehe ich die Vorbehalte gegenüber der App nur schwer. Wenn man beispielsweise auf irgendein Blind-Date geht oder sich zum ersten Mal mit der Person trifft, mit der man Nächte davor im Club Nummern ausgetauscht hat, dann ist man im Grunde in genau derselben Situation wie vor einem Tinder-Date. Man hat erstmal Interesse aneinander, kennt sich primär durchs Chatten und alles Weitere ergibt sich dann.
Wenn ein Date sich als unpassend herausstellt, dann ist das so. Dafür kann Tinder aber nichts. Und wenn es passt – dann spielt es innerhalb von Minuten sowieso keine Rolle mehr, wo man ursprünglich den ersten Kontakt hatte. Bestenfalls ist man dankbar. Denn: Menschen, die man bei Tinder und Co. kennenlernt, hätte man ansonsten wahrscheinlich verpasst. Im Falle der eingangs erwähnten Brautpaare wäre das zukunftsentscheidend gewesen.
Warum das Bashing?
Ganz generell geht mir das Tinder-Bashing inzwischen auf die Nerven. Am Ende ist es (mir) nämlich total egal, wie und warum ein Mensch Tinder nutzt – ob es zum Flirten, zur Partnersuche oder für schnellen Sex ist.
Hier gilt für mich derselbe Grundsatz, der für mich in eigentlich allen Bereichen von Partnerschaft und Sexualität gilt: Alles, was einvernehmlich zwischen mündigen Menschen passiert, habe ich nicht zu bewerten. Ich muss es nicht verstehen, ich kann auch zu dem Schluss kommen, dass ich es in meinem Leben auf keinen Fall so haben möchte, aber es steht mir niemals zu, Menschen für die Art, wie sie ihre Sexualität oder ihre Beziehungen handhaben, zu verurteilen. Und das fängt für mich bei der Art der Auswahl der (Sexual-)Partner an. Egal, ob im echten Leben oder im Netz.
Und die Moral…
Die Erkenntnisse, die am Ende bleiben: Vor der Art, wie man bei Dating-Apps in Kontakt kommt, zurückzuschrecken ist völlig legitim und dann lässt man es eben. Genau so wäre es selbstverständlich ungesund, sein gesamtes Dating-Leben durch Online-Netzwerke zu ersetzen.
Tinder und Co. grundsätzlich zu verteufeln, ist in meinen Augen aber unangebracht. Die Leute, die wissen, was sie wollen und sich dementsprechend präsentieren und Leute aussuchen, erweitern damit gegebenenfalls ihre Kreise und treffen so am Ende manchmal Menschen, denen sie sonst vielleicht nie begegnet wären.
Dating Apps befeuern Oberflächlichkeit und sind nur die digitale Form des billigen Anmachens, findet Sophie Maaßen.
Ich weiß nicht, wer schon einmal auf einer Viehauktion war. Vermutlich die Wenigsten. Für alle, die es nicht kennen, eine ganz kurze Erklärung: Ein Tier (Kuh, Schwein etc.) wird auf einer ausgewiesenen Fläche präsentiert – vorher natürlich gewaschen, frisiert und herausgeputzt. Interessierte Käufer gucken sich die Tiere der Reihe nach an. Achten dabei besonders auf Aussehen, Gewicht und was beim Kauf eines Tieres eben noch so berücksichtigt werden muss. Gefällt dem Käufer eins, wird es mit nach Hause genommen.
Mit Mu(h)t zum neuen Flirt
Erinnert einen das Prozedere nicht sofort an etwas? Ganz richtig – an Dating Apps. Tinder und Co. funktionieren doch genau wie diese Viehauktionen. Frauen und Männer melden sich bei einer Dating-App an, stylen sich häufig so extrem auf, wie sie es vermutlich sonst nie tun würden, lassen sich fotografieren, stellen das Bild ins Netz und warten, dass sie von einem „interessierten Käufer“ ausgewählt werden. Kurz: ein einfaches Zur-Schau-Stellen.
Für Menschen, die Schwierigkeiten mit Smalltalk oder generell mit persönlicher Kommunikation haben, sind Dating-Apps an sich ja eine gute Möglichkeit, einen Partner zu finden. Aber dieser ganze Online-Dating-Kram ist doch nichts weiter als eine kostenlose Sex-Hotline. Wisch Links – Wisch Rechts und ich habe innerhalb von wenigen Sekunden entschieden, mit wem ich die nächste Nacht verbringen könnte. Tinder wirbt sogar mit dem Slogan: “Matchen.Chatten.Daten.” Da fehlt dann nur noch das “Punkt.Punkt.Punkt.”
So viel Oberflächlichkeit
Klingt für die meisten wahrscheinlich wie der klassische One-Night-Stand – ist aber, wenn man sich das noch einmal genauer anguckt, noch viel oberflächlicher und primitiver. Allein nach dem Aussehen entscheiden die User, ob sie jemanden kennenlernen möchten. Man sagt zwar: der erste Eindruck zählt, aber was genau sagen mir große Brüste, ein dicker Bauch oder ein definiertes Sixpack über eine Person? Die Gesellschaft hat schon genug mit Oberflächlichkeiten zu kämpfen. Da sind solche Plattformen doch nur zusätzliche Befeuerung. Innerer Werte und alles, was den Menschen neben seinem Aussehen noch ausmacht, sind bei diesen Dating-Apps völlig irrelevant. Da hilft auch ein knapper Text im Profil nicht viel, um sein Innerstes Preis zu geben.
Mittlerweile sind laut einer Studie von Match Group allein in Deutschland 4,73 Millionen zahlende Nutzer bei Tinder registriert. Das Erschreckende dabei: die Zahl ist seit 2005 konsequent gestiegen. Da bekommt man als traditioneller Dating-Typ Angst, dass es bald nur noch in der digitalen Welt möglich ist, jemanden kennen zu lernen.
Geht auf die Straße!
Die Menschen, die sich auf solchen Seiten anmelden, sind ab der Anmeldung in erster Linie williges Freiwild. Denn es gibt doch nur drei Gründe, warum man sich auf solchen Seiten anmeldet: Ich will nur Sex, ich will eine feste Beziehung oder ich will mein Ego pushen. Alle drei Gründe sind auf keinen Fall verwerflich! Aber warum im Internet? Was ist so falsch daran, über die Straße zu laufen, ins Café zu gehen, in einem Club zu feiern oder einfach im Park zu sitzen und dort Menschen kennen zu lernen? Mit denen kann man direkt sprechen und hat neben dem Aussehen noch ein paar andere Attribute, anhand derer man sich entscheiden kann, ob man den Gegenüber „näher“ kennenlernen möchte.
Mensch ist Mensch, ob hinter einem PC-Bildschirm oder face-to-face. Im Endeffekt schämen sich dann ja doch alle Pärchen, die sich über Dating-Apps kennengelernt haben, wenn die Frage kommt: „Und wie habt ihr euch kennen gelernt?“ „Ehmmm…. Wir haben ein bisschen gechattet.“ Wenn man tindert, sollte man auch dazu stehen, sonst ist man ja von Anfang an nicht überzeugt von diesem Konzept.
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