Kommentar: Warum die Genforschung nicht ohne Tabubrüche funktioniert

Vor wenigen Monaten gab ein chinesischer Forscher die Geburt genmanipulierter Babys bekannt. Nun kündigt ein weiterer Wissenschaftler den Tabubruch an – und wieder ist die Empörung groß. Dabei würde sich die Wissenschaft ohne Tabubrüche nur im Schneckentempo weiterentwickeln. Ein Kommentar.

Von Sharin Leitheiser

Denis Rebrikow ist ein russischer Forscher. Sein Plan: HIV-infizierten Frauen Embryonen einpflanzen, die zuvor per Gentechnik vor jeglicher Ansteckungsgefahr des gefährlichen Virus geschützt wurden. Ähnliches hat sein chinesischer Kollege He Jiankui bereits getan – zumindest behauptet er das. Im November 2018 war der Wissenschaftler an die Öffentlichkeit getreten, um zu verkünden, er habe Zwillingsmädchen per Genmanipulation erfolgreich gegen HIV immunisiert.

Anders als He Jiankui, gegen den momentan ermittelt wird, will Rebrikow seine Forschung vorher von den Behörden abnicken lassen – ein Schritt, den der Chinese fatalerweise übersprungen hatte. Vielleicht, weil er wusste, dass er bis zum Sankt-Nimmerleinstag auf eine Entscheidung gewartet hätte.

Genforschung gewinnt an Bedeutung

Gehen wir einen Schritt zurück und schauen, wer eigentlich am Anfang der Diskussion steht, in deren Zentrum He und Rebrikow nun um ihre Reputation kämpfen: die Briten. Sie haben 2017 erstmals das Erbgut menschlicher Embryonen verändert, mit der sogenannten „Genschere“ CRISPR/Cas9, um die Ursprünge von Fehlgeburten zu ergründen. Jetzt gesellen sich also ein Chinese und ein Russe dazu und ernten laute Buhrufe dafür, dass sie konsequent einen Schritt weiter gehen wollen.

Dabei gewinnt die „rote“ Gentechnik – also die Entschlüsselung und/oder Veränderung von Erbmaterial in der (bio-)medizinischen Forschung – schon seit Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung. Ihr verdanken wir beispielsweise das Hormon Insulin, den Cholera-Impfstoff oder auch auch die Entwicklung moderner Therapien und Heilungsmöglichkeiten für (erbliche) Krankheiten mittels besagter Genscheren.

Hohe bürokratische Hürden

Die gesetzlichen Regelungen sind ein Irrgarten bürokratischer Hürden. EU-weit ist vor allem die Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel geregelt. Medikamente und Impfstoffe müssen zudem ein internationales Zulassungsverfahren durchlaufen. In Deutschland gibt es gleich mehrere Gesetze, die gentechnische Forschung an Menschen quasi unmöglich machen – wenngleich der Bundestag und der Deutsche Ethikrat immer wieder darüber debattieren, ob das noch zu verantworten ist.

So gibt es im Tierreich mittlerweile einen ganzen CRISPR-Zoo: mit Mäusen, Affen, Schweinen und Affen. Das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990 verbietet allerdings Experimente mit befruchteten Eizellen. Die mit lebensfähigen Embryonen sowieso. Um auch nur mit Stammzellen forschen zu können, müssen deutsche Wissenschaftler regelmäßig embryonales Zellgut von dort anfordern, wo es produziert werden darf. Und bis nach China oder in die USA müssen sie dafür noch nicht einmal fahren. Die Auswahl im europäischen Ausland ist groß: Wissenschaftler in Spanien, Portugal, Tschechien, Großbritannien, Schweden, Finnland und Belgien dürfen bereits Stammzellen klonen. Und dann nach Deutschland bringen. Das lässt das Stammzellengesetz zu.

Schon hier stellt sich doch die Frage: Wäre es nicht wesentlich einfacher, nicht erst Zellen von anderswo importieren zu müssen? Es wird schließlich ohnehin gemacht. Außerdem heißt Forschung doch, sich Dinge zu trauen, die vorher noch niemand auch nur auszusprechen gewagt hat. Wem das nicht liegt, oder wem dieses Risiko zu groß ist, der wird halt Tischler. Da tut’s immerhin keinem weh, wenn ein grober Schnitzer passiert. Es mag unschön klingen, aber Fortschritt braucht nun einmal Anarchisten und sture Einzelgänger.

Umstrittene Methoden von damals sind heute Standard

Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die Geschichte der künstlichen Befruchtung. Die britischen Reproduktionsmediziner Robert Edwards und Patrick Steptoe haben das Establishment in den 1950er-Jahren kompromisslos missachtet. Gutachter rieten den beiden damals, die künstliche Befruchtung zunächst an Primaten durchzuführen, bevor sie sich auf lebende Menschen stürzen.

Was also taten Edwards und Steptoe? Natürlich. Sie ignorierten ihre Kollegen und bemühten sich, das nötige Kleingeld für jenes revolutionäre Vorhaben privat aufzutreiben. Louise Brown heißt der atmende Beweis, dass sie mit ihrer Intuition richtig lagen. Von den britischen Wissenschaftlern als gesundes Baby auf die Welt gebracht, ist Brown heute eine kerngesunde Erwachsene, die wiederum eigene, quicklebendige Kinder hervorgebracht hat – auf ganz natürlichem Weg.

Heute ist die künstliche Befruchtung eine Selbstverständlichkeit. Laut einer Studie des Genetics and Public Policy Centers der John Hopkins Universität von 2005 befürworten selbst Katholiken als ursprünglich größte Feinde diese Methode. Und Edwards bekam für seine Mühen 2010 nicht etwa Handschellen angelegt, sondern den Nobelpreis.

Experimente an der DNA

Ähnlich liefen die ersten Schritte der Gen-Sequenzierungs-Technik. Deren Erfinder Craig Venter wurde von Forscherkollegen zunächst als Spinner, seine Forschung selbst als sinnlos abgestempelt. Venter wiederum traf deshalb eine Entscheidung. Er würde seine Umwelt erst gar nicht über weitere Versuche in Kenntnis setzen – denn was hätte es schon genützt, außer eine Verzögerung seines Erfolges?

Infolgedessen begann Venter, an seiner eigenen DNA herumzuexperimentieren – und an der eines Freundes. Als seine Ergebnisse im Jahr 2000 öffentlich wurden, schmiss ihn der Aufsichtsrat seines Arbeitgebers hochkant raus. Mittlerweile gilt der Brite als „Badboy“ der Biologie. Aber: Venter denkt gar nicht daran, das Mikroskop an den Nagel zu hängen. Und wer weiß, ob er nicht eines Tages tatsächlich mittels Genforschung das Weltenergieproblem lösen oder künstliches Leben erschaffen wird.

Berechtige Bedenken, zu komplizierte Regelungen

Damit soll an dieser Stelle nicht dazu aufgerufen werden, ethische Bedenken in der Wissenschaft grundsätzlich über den Haufen zu werfen. Auch He hätte fraglos den Rat der Ethikkommission einholen müssen. Stattdessen hat er ein paar Abkürzungen zu viel genommen. Mit Recht dominieren in Debatten über die rote Gentechnologie ethische Bedenken. Es stimmt: Die Vorgänge im menschlichen Genom sind von unvorstellbar hoher Komplexität und uns in weiten Teilen nach wie vor ein Rätsel. Gen verändert, Problem gelöst. So einfach ist es wohl nicht. Deshalb sind Regeln notwendig. Ebenso, wie es manchmal notwendig ist, übereifrige Forscher auszubremsen.

Trotzdem: Bevor wir die Hes und Rebrikows dieser Welt heute verteufeln und uns in zehn Jahren komplett lächerlich machen, indem wir ihnen Edwards-like den Nobelpreis verleihen, sollten wir einen Moment darüber nachdenken, ob unsere aktuellen gesetzlichen Regelungen noch auf einem angemessenen Stand sind. Manchmal lohnt es sich, eine mutige Entscheidung zu treffen. Und möglicherweise passieren ja nur so viele Regelbrüche, weil sonst überhaupt gar nichts geschehen würde – außer, dass sich Entscheidungsträger jahrelang den Mund fusselig diskutieren. Wieso muss alles immer so lange dauern? Und wieso macht selbst im EU-Verbund jedes Land mehr oder weniger, was es will? Das dürfte auch vielen Wissenschaftlern ein Rätsel sein. Den bösen Dr. Frankenstein gibt es nicht. In Echt ist eben alles viel komplizierter.

Beitragsbild: Canva

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