Wer auf der Suche nach einer Bleibe ist und das Zimmer in der 15-Quadratmeter-Wohnung „in ruhiger Lage“ (mit sanftem Verkehrsrauschen) an der Bundesstraße inklusive Linoleum-Optik und Asbest-Raumerfrischer ergattern will, braucht Ausdauer – und Talent beim Backen. So ein Zitronentörtchen kommt bei den zukünftigen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern bestimmt gut an.
Beim WG-Casting zeigt sich, wer stark genug ist, um zu überleben. Schon Darwins Evolutionstheorie des „Survival of the Fittest“ lehrt uns, dass nur die bestangepassten Individuen dauerhaft existieren können – und es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten. Der Schlüssel zum Glück – und zu deiner neuen Eingangstür – lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Reproduktion, Variation, Selektion.
Immer im Gepäck: Das passende rhetorische Rüstzeug
Bevor du deinen potenziellen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern gegenübertrittst, solltest du dir die Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug so schön wie möglich reden. Schon Darwin wusste: Individuen einer Art erzeugen immer mehr Nachkommen, als nötig wären. Mit anderen Worten: Auf ein WG Zimmer kommen mehrere Bewerber. Also preise dich gekonnt an: Eine Küche mit defekter Spülmaschine? Kein Thema. Du spülst gern per Hand. Badezimmer ohne Fenster? Ach, kein Thema. Du putzt dir mit Freuden die Zähne unter der schimmelbehangenen Decke deines neuen Paradieses.
Der bloße Wille reicht aber nicht. Vor dem Casting solltest du dir das passende rhetorische Rüstzeug zurechtlegen. Stichwort: Variation. Darwin lehrt uns, dass Individuen einer Population nie gleich sein können. Es braucht also nie dagewesene Versicherungen, um sich von deinen Kontrahentinnen und Kontrahenten abzuheben. Du suchst natürlich KEINE Zweck-WG. Bei gemeinsamen Kochabenden und Drinks auf dem Balkon bist du IMMER gern dabei. Sauberkeit ist dir ÄUßERST wichtig, einen Putzfimmel hast du aber NATÜRLICH nicht. SELBSTVERSTÄNDLICH hast du kein Problem damit, mal die Tür deines Zimmers zu schließen. Privatsphäre ist deinen zukünftigen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern nämlich BESONDERS wichtig – vor allem, um in Ruhe zu ihrem Lieblingsporno zu masturbieren oder vor Netflix zu versacken. An dieser Stelle zeigt sich, wer einen Selektionsvorteil vorweisen kann. Darwin würde das wohl „überlebensfähig“ nennen.
Mittwoch in den Club? Na klar!
WG-Typen gibt es viele. Verschlägt es dich ins „Öko-Territorium“, denk daran: Holzwattestäbchen und Unverpackt-Läden sind die Quintessenz eines erfüllten Lebens. Hast du es mit den Olympia-Athletinnen und -Athleten zu tun – du erkennst sie an der Klimmstange im Türrahmen –, erzähl ihnen bloß nicht, dass du allenfalls vom Sofa zum Kühlschrank joggst. Bei sogenannten „Partylöwen“ macht es einen guten Eindruck, wenn du dich mit den Clubs der Stadt immerhin ein bisschen auseinandergesetzt hast. Ab und an ein bisschen „absteppen“? Klar, gerne donnerstags, freitags und samstags. Und am Mittwoch? Warum nicht, ist ja Bergfest.
Nachdem du alle anderen ausgestochen hast, darfst du einziehen. Glückwunsch! Was folgt, ist ein monatelanger Rausch. Gemeinsam auf dem Balkon versacken, zusammen philosophieren: über die Möglichkeiten, leere Mate-Flaschen dekorativ einzusetzen – zum Beispiel als Kerzenständer – oder den Putzplan, den merkwürdigerweise doch niemand einhält. Und wenn ihr euch doch mal streitet,
ist das nicht schlimm: Schließlich hat niemand von euch ein Problem damit, die Tür mal hinter sich abzuschließen. Privatsphäre ist euch wichtig.
Sieg durch Assimilation
Wer aber denkt, sie oder er sei nun in Sicherheit, täuscht sich. Der Kampf ums Überleben endet niemals, schon gar nicht nach dem Einzug. Verlieren werden ihn diejenigen, die sich von Pizza-Resten im Spülbecken oder der „verloren gegangenen“ Schokolade im Kühlschrank aufhalten lassen. Als Siegerinnen und Sieger werden diejenigen hervorgehen, die trotz kleiner Entbehrungen das Bierchen auf dem Balkon genießen können. Sie vertrauen darauf, dass die Mitbewohnerin oder der Mitbewohner die Schokolade ersetzt und die Reste im Abfluss bald entfernt. Ganz bestimmt.
Meeeeega Text. So toll geschrieben !