Warum sperren wir Verbrecher ins Gefängnis?

 

Am 30. September 2016 siegte das Gewissen endgültig über den Job. Thomas Galli, Rechtsanwalt und bis zu diesem Tag Gefängnisdirektor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Zeithain in Sachsen, zieht die Konsequenz aus einem jahrelangen inneren Konflikt: Er kündigt seinen Job im Knast. Viele Jahre hatte er für die Abschaffung seines eigenen Arbeitsplatzes geworben. Ganz schleichend, so sagt es Galli heute, sei die Überzeugung gereift, dass der Freiheitsentzug als Sanktionsform alles nur noch schlimmer mache.

Viele der Menschen, die ihn zu diesem Gedanken bewegt haben, sind heute noch immer dort. Sie wurden verurteilt wegen Mordes, Fahrerflucht oder Drogendelikten, sie verbindet so gut wie nichts, und doch eint sie dieses eine Moment: der Verlust ihrer Freiheit. Jede und jeder Gefangene, ob in Zeithain oder sonst wo, verbüßt im Justizvollzug diese eine Strafe. Das verbindet ihre Biografien für alle Zeiten mit der vom FC-Bayern-Manager und Steuerhinterzieher Uli Hoeneß, der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin und dem verurteilten Vergewaltiger und Entführer Josef Fritzl.

Es ist ein Umstand, der ausgerechnet in einem Gefängnisdirektor Zweifel aufkommen ließ: Ist der Freiheitsentzug, dieser Gleichmacher unter den Strafen, wirklich gerecht – oder schlicht die einfachste Lösung? Sind Fahrerflüchtige im geschlossenen Vollzug richtig aufgehoben? Gehören Mörderinnen und Mörder in den Knast? Wem der 50.000 Gefangenen in Deutschland sollten wir – wenn überhaupt – „zu Recht“ die Freiheit entziehen können? Und hätte eine Gesellschaft sich nicht ebenso darauf einigen können, Straftätern das Recht auf Eigentum abzusprechen, statt sie der Freiheit zu berauben?

Drei Jahre nach seiner Kündigung in Zeithain ist Galli einer der bekanntesten deutschen Kritiker des gängigen Strafvollzugs. Mitstreiterinnen und Mitstreiter hat er viele, sie kommen aus der Soziologie, Kriminologie oder Politik. Seine Botschaft, die er in Büchern, Vorträgen und Talkshows verbreitet, ist so schonungslos in ihrer Analyse wie radikal in der Konsequenz: Das Konzept der Freiheitsstrafe ist misslungen, die Insassen gehören in Freiheit. Zwar mit elektronischer Fußfessel, psychologisch begleitet, regelmäßig kontrolliert. Aber in Freiheit. Diejenigen Straftäter, die für eine Gesellschaft zu gefährlich seien, würden nach Gallis Vorstellung auf einer Insel leben. Ebenso überwacht, aber ebenso weitestgehend in Freiheit.

Ähnliche Modelle existieren bereits, beispielsweise in Schweden. In Baden-Württemberg und Sachsen gibt es zudem den „Vollzug in freier Form”, eine Vollzugsform, bei der die Gefangenen ihre Strafe in offenen Einrichtungen verbringen. Es sind Modelle, die auf Vertrauen beruhen und – gemessen an der Akzeptanz der Einrichtungen in der direkten Nachbarschaft und den Berichten der Anstalten zum Sozialverhalten ihrer Häftlinge – gut zu funktionieren scheinen. Aber sie gehen ihm nicht weit genug.

„Die Leute draußen haben keine Ahnung, was hier drin abgeht.“

Robert Kreuzfeld ist 26 Jahre alt und möchte seinen richtigen Namen in diesem Beitrag nicht lesen, aus Scham, wie er sagt. Er lebt in der JVA Werl, dem belegungsmäßig größten geschlossenen Gefängnis Nordrhein-Westfalens. Vor zwei Jahren kam er her, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Davor war er in Hagen und Schwerte untergebracht. Als er das letzte Mal draußen war, hieß der ägyptische Staatspräsident noch Mursi, das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche war noch Papst Benedikt XVI und die Bundesregierung war noch eine schwarz-gelbe Koalition.

Von allem, was danach passierte, bekam er lange Zeit nichts mit. 22 Stunden pro Tag verbrachte er in einer kleinen Zelle, das war noch in der JVA Schwerte. Heute lebt er im pädagogischen Zentrum der JVA Werl, einer Einrichtung für Häftlinge, die ihren Schulabschluss machen möchten. Dort bekommt er deutlich mehr mit von der Außenwelt mit, hat einen Fernseher und darf sogar Hanteln mit in die Zelle nehmen.

Als Robert, groß gewachsen und breit gebaut, an einem Freitagmorgen durch die Tür zum Besprechungszimmer kommt, sitzen seine Mitschüler eine Etage tiefer in einem kleinen, länglichen Raum und analysieren Gedichte. Seit mehreren Wochen beschäftigt sich der Abitur-Kurs Deutsch mit Lyrik. „Unterwegs sein“ steht im Lehrplan für das Zentralabitur in NRW.

Robert setzt sich auf einen kleinen Stuhl. Für ihn ist das Abi-Thema das perfekte Beispiel für ein grundlegendes Problem des Strafvollzugs. „Die Leute draußen blenden Gefängnisse komplett aus. Die haben keine Ahnung, was hier drin abgeht“. Einige Male habe er mitbekommen, dass Schulklassen einen Ausflug in den Knast unternommen haben. „Aber es bräuchte viel mehr solcher Aktionen“, sagt er.

Tatsächlich wissen nur die wenigsten über das Leben hinter Gittern Bescheid. Kaum ein Gefängnis hat eine eigene Presseabteilung. Facebook und Twitteraccounts sucht man vergebens. Kommt es zu einem Skandal wie der Flucht von Daniel Vojnovic im März 2019, schlagen Presse und Politik Alarm – ansonsten spricht niemand darüber.

Das kann skurrile Auswirkungen auf die Welt innerhalb der Mauern haben. Die Freilassung von Dieter Degowski, beteiligt an dem Geiseldrama von Gladbeck, ist mehrfach ausgesetzt worden, weil der Druck der Presse zu groß wurde. Wenn Gesellschaft und Gefangene jahrelang nichts übereinander erfahren und eine Freilassung auch von Pressearbeit abhängig scheint, ist eine Resozialisierung dann nicht bereits vor Haftantritt zum Scheitern verurteilt?

Das Gefängnis, eine „Wiege des Verbrechens“

Rechtsanwalt Thomas Galli Foto: Thomas Galli

Wer mit Thomas Galli über solche Fragen sprechen will, versucht es am besten per Telefon. Der praktizierende Rechtsanwalt ist viel unterwegs, von Klienten zu Experten zu Politikern. Von seinem heimischen Büro aus redet er aber genauso gerne über seine Arbeit.

Wie Robert hält er die Isolation der Gefangenen für gefährlich. „In einem solchen System schafft man es einfach nicht, die Gefangenen mit der Gesellschaft zu versöhnen“, sagt er. „Einige Grundziele sind durchaus legitim und nachvollziehbar“, so der Rechtsanwalt und verweist etwa auf die Idee der Resozialisierung, einer Sicherung der Gesellschaft oder den Wunsch nach einer abschreckenden Wirkung. „Aber diese Ziele werden in den allermeisten Fällen überhaupt nicht erreicht.“ Er beruft sich auf amtliche Statistiken, das heißt, auf die wenigen, die es überhaupt gibt. Untersuchungen zu Rückfallzahlen gibt es kaum, ein Umstand, den auch das NRW-Justizministerium bemängelt.

Die jüngste der insgesamt drei Studien des Bundesministeriums für Justiz stammt aus dem Jahr 2016 und untersucht einen Zeitraum bis 2013. Ihr zufolge wird fast die Hälfte aller Gefangenen nach der Entlassung wieder straffällig. In den Kategorien Raub und Erpressung sind es über 70 Prozent. Wenn Galli diese Zahlen zitiert, wird er lauter: „Von erfolgreicher Resozialisierung und einer effektiven Sicherung der Allgemeinheit kann angesichts dieser Zahlen überhaupt keine Rede sein“. Auch den Strafzweck „Abschreckung“ hält er für wenig effektiv. Der sei in Fachkreisen hochumstritten.

Galli verweist auf die Vereinigten Staaten: In den USA gilt die Todesstrafe in einigen Bundesstaaten bis heute. Trotzdem ist die Verbrecherquote seit jeher weit höher als in Deutschland. Am Ende, so Galli, halte allein der menschliche Wunsch nach Vergeltung das System aufrecht – und fehlende Alternativen. „Das Rachebedürfnis steckt in uns allen drin. Ich kenne das ja auch von mir. Aber wir müssen immer bedenken, was wir damit anrichten.“

Nicht von ungefähr sei dieser Ort, den man fast ausschließlich mit Straftätern teilt, an dem raue Umgangsformen und ganz eigene Hierarchien herrschen, als die „Wiege des Verbrechens“ bekannt. Mobbing und Prügeleien sind keine Seltenheit, wie aus einer Untersuchung des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hervorgeht. Bei einer radikal anderen Form der Bestrafung, einer, wie Galli sie sich wünscht, würden diese Nebenerscheinungen, die schon Insassen zum Selbstmord getrieben haben sollen, weitestgehend wegfallen.

„Meine letzte schwere Tat, die hat alles verändert.”

In der obersten Etage eines grauen Hausblocks, mitten an der Düsseldorfer Kö, lässt sich Marcus Strunk, Sprecher der Landesjustizvollzugsdirektion und seit vielen Jahren tätig im NRW-Justizministerium, an seinem Besprechungstisch nieder. Er lehnt sich zurück und deutet auf ein großes Bild an der Wand vor ihm. Zu sehen ist die ehemalige US-Gefängnisinsel Alcatraz. Dort waren bis 1963 Schwerverbrecher unter besonders strengen Haftbedingungen untergebracht. „So etwas da ist ja auch eine Idee von dem Herrn Galli“, sagt er. „Die Idee mit der Gefängnisinsel kenne ich eher aus Schauerfilmen. Da halte ich überhaupt nichts von.“

Strunk, ein großgewachsener Mann mittleren Alters, ist von der aktuellen Form des Strafvollzugs überzeugt. Seit der großen Strafvollzugsreform 1977, sagt er, liege der Fokus des Vollzugs vollends auf der Resozialisierung, nicht mehr wie einst auf Vergeltung. Und für die Resozialisierung biete der Freiheitsentzug eine große Chance. „Sehr viele Insassen kennen teilweise nicht einmal einen strukturierten Tagesablauf“, sagt er. „Für die ist das Gefängnis mitunter eine große Stütze. Die lernen hier einen geregelten Tagesablauf, es werden klare Regeln vermittelt, es werden Angebote gemacht, eine neue Chance zu bekommen.“

Weder im offenen Vollzug noch bei Sozialstunden oder bei einer Geldstrafe bestehe die Möglichkeit, mit den Verurteilten so intensiv zu arbeiten wie hinter Gittern. Strunk ist überzeugt: „Für viele Insassen kann es durchaus gut sein, wenn sie eine Zeit lang aus ihrem Umfeld rauskommen“. Auch deshalb habe sich das System bewährt.

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Robert weiß mit dieser Darstellung nicht viel anzufangen. Vielleicht gebe es Menschen, sagt er, denen der Knast auf Dauer hilft. Aber er kenne niemanden, der das Gefängnis so erlebt habe. Seine Erfahrungen aus drei Anstalten sind andere: Diebe, Einbrecher, Räuber finden auf dem Gefängnishof das gleiche schlechte Umfeld vor wie draußen. Häufig erzählen sie sich von ihren Taten, geben sich gegenseitig Tipps, vermitteln Kontakte. Auch der Drogenkonsum reiße nicht ab im Gefängnis, das bestreitet auch das Justizministerium nicht. Robert hingegen habe viel Selbstständigkeit und Struktur aufgeben müssen.

Essen bekomme er serviert, er müsse sich weder um Miete noch um einen Stromanbieter kümmern. Früher hatte er eine eigene Wohnung, einen Job, seine eigene Routine. In den zwei Jahren Isolation in Schwerte, so erzählt Robert, habe er viel Zeit zum Nachdenken gehabt, sonst nichts. Dass diese Periode seine Sicht auf Recht und Unrecht verändert habe, vermag er nicht zu bestätigen. „Meine letzte schwere Tat, die hat alles verändert. Ab der ersten Sekunde“.

Angst vor der Freiheit

Für Galli ist Roberts Fall eindeutig: Er gehöre in Freiheit. In den allermeisten Fällen seien Morde Beziehungstaten, die Schuldigen würden daher in aller Regel keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Strafe müsse sein, ja – aber eben anders. Ein neues Alcatraz, das betont er mehrfach, sei keine Option. Wie eine Lösung allerdings konkret aussehen soll, diese Antwort bleibt Galli schuldig. „Ich kann keine Patentlösung bieten“, erklärt er in jedem seiner Vorträge. Trotzdem ist er überzeugt, dass es den Freiheitsentzug in seiner heutigen Form irgendwann nicht mehr geben wird. „Wir haben es auch geschafft, die Sklaverei und die Todesstrafe abzuschaffen.“

Um seine Position zu verbreiten, hält Galli regelmäßig Vorträge, etwa an Universitäten oder Parteitagen. Nach eigener Auskunft trifft er sich häufig mit Politikerinnen und Politikern, um über seine Thesen zu debattieren. „Fast alle Menschen, die ich kennengelernt habe, sind der Überzeugung, dass man diese Dinge überdenken muss”, sagt er.

Robert ist noch jung, dass er seine Freilassung noch erlebt, ist sehr wahrscheinlich. Für ihn ist es entscheidend, von der Gesellschaft eine zweite Chance zu bekommen. „Ich habe lange gearbeitet hier drinnen, habe Therapien gemacht und bin jetzt dabei, mein Abitur zu schaffen“, sagt er und wirkt fast stolz. „Aber die Leute wissen das alles nicht“. Er kenne die Schmierereien an Autos und Wohnhäusern, die „kein Vergeben, kein Vergessen“-Graffitis an Bahnhöfen. Sie machen ihm Angst, wenn er an seine Freilassung denkt. „Egal, was ich hier drin tue, auch wenn ich rauskomme, bleibe ich für alle ‚der Mörder‘“.


Beitragsbild: Deleece Cook, Unsplash
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