Eine Studentin geht nach einem Date mit einem Studenten nach Hause. Zunächst scheint alles normal, doch sie erzählt, er habe sie überwältigt, um mit ihr zu schlafen. Sie verdrängt die Situation, glaubt an ein Missverständnis und realisiert erst später, was passiert ist. Ein typisches Phänomen, sagt die Sozialwissenschaftlerin Dr. Katrin List.
Die Geschichte, die Mara* erzählt, beginnt mit einem Tinder-Date. Sie trifft den Mann an einem Fluss in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen. Obwohl sie sich nicht kennen, verstehen sie sich auf Anhieb gut. Es ist Sommer, sie sitzen am Wasser und unterhalten sich stundenlang über ihre Jobs und ihr Studium. Die Stimmung ist gelöst. Irgendwann küssen sie sich. Als es dunkel wird, fahren sie mit der Bahn zurück in die Stadt und er fragt, ob sie mit zu ihm kommen will.
Jetzt Monate später, starrt Mara wieder auf das Wasser des Flusses, als sie sie sich an den Abend zurückerinnert. Sie sagt, sie habe nicht unbedingt die Absicht gehabt, mit dem ihr fast Fremden zu schlafen, als sie ihm in seine Studentenwohnung folgte. Sie hätte gedacht, vielleicht würden sie sich noch ein bisschen unterhalten, einen Film schauen oder vielleicht etwas trinken.
„Ich dachte, er würde schon aufhören, sobald ich etwas sage.“
Aber er habe ihr ziemlich schnell signalisiert, dass er ihr näher kommen will. Sie hätten sich auf sein Bett gesetzt, fingen an sich zu küssen und sich auszuziehen. Mara habe ein komisches Gefühl gehabt: „Mir wurde klar, dass mir das zu schnell ging. Ich habe mich aber nicht bedroht gefühlt und dachte, er würde schon aufhören, sobald ich etwas sage.“ Sie habe aber nichts gesagt und irgendwann waren beide nackt. „Er war über mir und hat von jetzt auf gleich, ohne mich anzuschauen, oder etwas zu sagen, versucht in mich einzudringen. Ich habe dann mit all meiner Kraft versucht, ihn von mir wegzudrängen und habe „Nein“ gesagt. Ich hatte ihm auch gesagt, dass ich die Pille nicht nehme, allein schon deswegen, war die Situation stressig für mich.“
„Vielleicht hat er nicht verstanden, dass ich nicht wollte, oder es war ihm einfach egal.“
Wieder und wieder habe er es versucht, aber sie wehrt sich, sagt immer wieder ‚Nein‘. Mara erzählt, es sei wie ein Kräfteringen gewesen. Irgendwann sei er genervt aufgestanden, um in seiner Schublade nach einem Kondom zu suchen. Mara sagt, sie hätte so schnell gar nicht begriffen, was passierte. Sie sei geschockt gewesen, habe einfach nur stumm und regungslos dagelegen. Sein aggressives Vorgehen habe sie eingeschüchtert. „Er kam einfach wieder und hat mit mir geschlafen, ohne dass ich in irgendeiner Form zugestimmt hätte. Vielleicht ist er davon ausgegangen, dass es unter den Umständen, dass er verhütete, ok wäre. Vielleicht hat er nicht verstanden, dass ich das nicht wollte, vielleicht hat er es ignoriert, oder es war ihm einfach egal.“
Mara verdrängt die Tat, erzählt niemandem davon. Sie sagt, sie wäre danach ein paar Tage sehr schlecht gelaunt gewesen und habe nicht so richtig gewusst, wieso. Erst Wochen später, im Gespräch mit einer Freundin, wurde ihr klar, dass es ein Verbrechen gewesen war.
Viele Studentinnen machen sich selbst Vorwürfe
Junge Frauen zwischen 16 und 24 Jahren sind laut der Dortmunder Sozialwissenschaftlerin Dr. Katrin List überdurchschnittlich häufig von sexualisierten Übergriffen betroffen. Im Jahr 2011 hat Katrin List im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes 12.663 deutsche Studentinnen zu ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt befragt. 6930 befragte Studentinnen haben angegeben, während ihres Studiums sexuell belästigt worden zu sein. 363 gaben an, erzwungene sexuelle Handlungen erlebt zu haben. Darüber zu sprechen, fiel vielen von ihnen schwer:
Über 40 Prozent der Betroffenen, die die Situation als bedrohlich empfanden, vertrauten sich danach niemandem an. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auffällig ist, dass viele sich selbst Vorwürfe machen.
So auch Mara: „Ich war die ganze Zeit sauer auf mich selbst, auf mein Versagen in der Rolle der starken Frau, die sich wehren kann und ihre Grenzen klar äußert.”
Lange habe sie darüber nachgedacht, ob er ihr ‚Nein‘ vielleicht einfach nicht richtig verstanden hatte. “Hat er geglaubt, dass ich ihm mein Einverständnis schon gegeben hatte, weil ich mit zu ihm nach Hause gegangen bin?“ Katrin List sagt: „Viele Frauen stufen Vergewaltigungen, als Missverständnis ein, um sich zu erklären, wie es zu so einer Tat kommen konnte. Es ist eine Art Schutzmechanismus: So können sie sich ihre Welt erhalten.“
„Das ganze Justizsystem unterliegt Stereotypen.“
Angezeigt hat Mara den Mann bis heute nicht. Zunächst, weil sie die Schuld bei sich suchte. Vielleicht auch, weil sie nicht wahrhaben wollte, was passiert war. Ein paar Monate vergingen und damit wuchs die Angst, dass sie sich gegenüber der Polizei rechtfertigen müsse, weil sie nicht sofort gekommen war. Vielleicht würde man ihr auch gar nicht glauben. Sie hatte schließlich keine Beweise.
Laut Katrin List kommt es in Verhandlungen oft zu Freisprüchen oder geringen Strafen, wenn die Tat nicht den gängigen Vorstellungen einer Vergewaltigung entspricht. Das Bild vom „fremden Täter hinterm Busch“ sei zu tief in den Köpfen verankert, so List. „Das ganze Justizsystem unterliegt solchen Stereotypen.“ Dabei passieren die meisten Vorfälle sexueller Gewalt im engeren Umfeld der betroffenen Frauen. Bei Studentinnen sind die übergriffigen Personen meist Kommilitonen, Partner oder Ex-Partner.
Auch Mara hatte vor der Tat eine sehr klare Vorstellung von „Typen, die so etwas tun“: „Die Gefahr kam immer nur von außen. In meinem eigenen Umfeld habe ich mich sicher gefühlt. Da haben ja alle das gleiche Verständnis von Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung wie ich.“
„Ich würde ich mich damit selbst zum Opfer stigmatisieren.“
Ein weiterer Grund, warum sie nicht zur Polizei gegangen ist, sei die Angst, dadurch ihrer Vorstellung von Gleichberechtigung zu widersprechen: „Sobald ich diesen Schritt gehe, würde ich mich damit selbst zum Opfer stigmatisieren. Ich will nicht durch diese angeborenen, körperlichen Unterschiede einem Mann unterlegen sein.“
Mittlerweile hat Mara sich therapeutische Hilfe gesucht und sie hat darüber nachgedacht, den Mann mit seiner Tat zu konfrontieren. Ihre Hoffnung: So könne sie ihn davon abhalten, so etwas wieder zu tun. Einmal war sie kurz davor, hatte sogar ein Treffen mit ihm vereinbart. Doch sie sagte es wieder ab. Die Angst, dass er die Tat leugnen und sie nicht ernstnehmen würde, sei zu groß gewesen.
„Durch ‚Ja heißt Ja‘ würde es Betroffenen wie mir einfacher fallen.”
Mara hat sich vorgenommen, in Zukunft klarer zu kommunizieren, was sie möchte. Sie hält die ‚Ja heißt Ja‘- Regelung, die in Schweden gilt, für sinnvoll. Jede sexuelle Handlung, zu der vorher niemand ausdrücklich ‚Ja‘ gesagt hat, ist demnach strafbar. In Deutschland zählt vor Gericht das ‚Nein‘. Mara sagt: „Ich glaube ‚Ja heißt Ja‘ ist die beste Möglichkeit, auch wenn es sich zunächst kompliziert anhört. So würde es Betroffenen wie mir einfacher fallen, nachzuweisen, dass sie etwas nicht gewollt haben.“
*Name geändert
Beitragsbild: Volkan Olmez, Unsplash