Dennis ist 33 Jahre alt und wohnungslos. In seiner Kindheit wurde der Dortmunder von seinem Vater schwer misshandelt bis er neun Jahre alt war und anschließend von seinem Stiefvater sexuell missbraucht. „Dann bin ich ganz lange vor mir selbst weggelaufen, habe das mit Heroin und Kokain kompensiert, wollte mich einfach wegsprengen und an nichts denken“, erzählt Dennis. Jahre später ist er wohnungslos, lebt auf den Dortmunder Straßen. KURT hat ihn und Michelle (24), die ebenfalls kein richtiges Zuhause hat, acht Monate begleitet. Werden die beiden den Sprung aus der Wohnungslosigkeit schaffen?
Viele Jahre bestimmt die Drogensucht das Leben von Dennis. Irgendwann fängt er an, Heroin und Kokain aus Amsterdam nach Deutschland einzuführen, damit er seine Sucht finanzieren kann. In der Zeit verliert er komplett den Bezug zu Geld. „Ich habe einmal in der Stadt drei Kugeln Eis für 300 Euro gegessen – drei Kugeln und der Rest war Trinkgeld“, erzählt Dennis. 2006 fährt er zum letzten Mal von Rotterdam nach Deutschland: Er sitzt in einem Taxi und wird nach eigenen Angaben bei einer Polizeikontrolle mit 30 Kilogramm Heroin und Kokain erwischt. Die Folge: Gefängnis.
„Meine Haftzeit hat mir mein Leben gerettet. Also wäre ich nicht damals in den Knast gegangen, wäre ich schon längst mit einer Überdosis draufgegangen. Da bin ich felsenfest von überzeugt“, erklärt der 33-Jährige. Im Gefängnis folgt ein kalter Entzug, heute sei Dennis seit 13 Jahren clean. Er hat einen Realschulabschluss und zwei Ausbildungen. Im Gefängnis macht er seine Ausbildung zum Stahlbauschlosser und arbeitet fünf Jahre im Tunnelbau, bis er durch einen Bandscheibenvorfall eine Umschulung zum Anlagenmechaniker machen muss. Ein dreiviertel Jahr hat er einen Job in den Niederlanden. „Dann bin ich nach neun Monaten zurück nach Dortmund, ich habe es mir ein bisschen einfacher vorgestellt, dass es genauso fluppt wie in Holland“, erinnert er sich. Seit September 2019 ist Dennis nun zurück in Deutschland und wohnungslos.
Dennis wohnt fünf Tage bei seinem Kumpel Toni, fünf Tage bei seiner Freundin und fünf Tage bei einem Pärchen, das er bei einer Stadtführung kennengelernt hat. Zu Beginn dieser Recherche erzählt Dennis, dass er schon seit über drei Monate eine Wohnung in Dortmund sucht. Er habe sich für 200 Wohnungen beworben und entweder keine Antwort oder nur Absagen erhalten.
Zahl der Obdachlosen in Dortmund
Die Stadt Dortmund schätzt die Zahl der Obdachlosen in Dortmund aktuell auf rund 500 Personen. Bei einem Aktionstag hat die Fachhochschule Dortmund 2019 an einem Tag 606 obdach- und wohnungslose Menschen gezählt. Zu dem Zeitpunkt ist die Stadt Dortmund noch von 400 Obdachlosen ausgegangen. „Obdachlosigkeit beschreibt, dass jemand ungeschützt draußen schlafen muss, das ist das was wir eigentlich immer meinen. Da liegt ein Mann im Schlafsack“, erklärt Bastian Pütter, Leiter der Straßenzeitung Bodo. Ist jemand wohnungslos, hat die Person keinen festen Wohnsitz, lebt aber nicht auf der Straße – sondern zum Beispiel bei Freunden oder Verwandten.
Es ist Mitte Dezember 2019. Jeden zweiten Samstag im Monat bietet Bodo Stadtführungen an. Es geht zu Hilfsstellen und Notunterkünfte für wohnungs- und obdachlose Menschen in Dortmund. Treffpunkt ist heute der Buchladen von Bodo. Die Auswahl an Büchern, CDs und Spielen ist groß. Überraschend viele Menschen haben sich für die Stadtführung angemeldet. Ein paar von ihnen stöbern durch die Bücherregale und eine Traube von Menschen steht um einen Mann in knallroter Regenjacke. In weißer Schrift steht „Bodo“ auf ihr geschrieben. Der Mann in der roten Jacke ist Dennis.
Draußen ist es sehr kalt, aber Dennis schwitzt. Er hat kurze, dunkelbraune Haare. Von seinem Ansatz laufen kleine Schweißperlen die Stirn herunter. Vielleicht, weil ihm im Laden zu warm ist, oder vor Aufregung. Wenn man Dennis anschaut, würde man nicht vermuten, welche durchwachsene Geschichte sein Leben geprägt hat. Er sieht gepflegt aus. Seine braunen Augen strahlen etwas Liebevolles aus, Dennis lächelt noch etwas unsicher. Es versammeln sich immer mehr Menschen um ihn. Die Stadtführung geht los.
Wohntraining für Menschen, die lange keine Wohnung hatten
Die Gruppe kommt am „Café Berta“ vorbei, geht aber aus Respekt vor den Obdachlosen nicht hinein. Hier können alkoholabhängige Obdachlose Alkohol konsumieren und haben Sozialarbeiter als Ansprechpartner. Die Stadtführung geht weiter und kommt an der Diakonie der Stadt vorbei. Die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Menschen (ZBS) ist von dem Diakonischen Werk in Dortmund. Ein Schwerpunkt der „Zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Menschen“ ist ein Wohntraining, bei dem die Menschen wieder lernen in einer Wohnung zu leben.
Die Beratungsstelle der Diakonie spielt eine wichtige Rolle für obdach- und wohnungslose Menschen. Hier können sie sich melden und erhalten eine Anschrift. Auf dem Personalausweis steht dann immer noch „ohne festen Wohnsitz“, aber sie bekommen die Möglichkeit, Post zu erhalten. Diese Adresse ist für viele Dinge sehr hilfreich, kann es aber auch hinderlich machen, eine Wohnung zu finden. Dennis erzählt enttäuscht von seiner Erfahrung: „Das Jobcenter würde mir die Wohnung bezahlen, das wäre nicht das Problem. Wenn mich der Vermieter den Mietvertrag unterschreiben lassen würde, aber dazu kommt es nie. Die sehen dann einmal „ohne festen Wohnsitz“ oder wenn ich die Mieterselbstauskunft ausfüllen muss, dann muss ich die Rolandstraße angeben“.
Michelle und Hund Joker betteln in der Weihnachtszeit vor einem leeren Geschäft
Es ist der 21. Dezember 2019 und in der Stadt schieben sich die Menschenmengen durch die Straßen. In der Ferne erklingen Weihnachtslieder und der Geruch von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln liegt in der Luft. Am Ende der Innenstadt, vor einem leer stehenden Geschäft, sitzt Michelle mit ihrem Hund Joker. Vor ihnen steht ein kleiner blauer Becher auf dem Boden. Bereits aus der Ferne ist zu sehen, wie immer wieder Menschen stehen bleiben, ein paar Worte mit der jungen Frau wechseln oder wortlos Geld in den Becher werfen. Michelle lächelt und bedankt sich.
Im Gespräch mit ihr wird direkt deutlich, der liebevolle Vierbeiner hat in Michelles Leben die höchste Priorität. „Ich bin Michelle, 24, und neben mir liegt mein Engelchen Joker, das ist ein belgischer Schäferhund, er ist neun Jahre alt“, sagt sie. Sie ist wohnungslos und lebt mit ihrem Hund bei einem Bekannten, es ist Michelles ehemaliger Freund. Alle bisherigen Versuche von ihr, eine Wohnung zu finden, haben nicht funktioniert. Ihr Hund ist alt, hat Arthrose und benötigt Schmerzmittel. Für ihn muss beim Betteln jeden Tag etwas mehr zusammenkommen. „Ab 12 bin ich meist in der Stadt, je nachdem wie gut das läuft. Manchmal bin ich schon um drei Uhr weg, manchmal auch erst um vier, fünf oder sechs Uhr“, erzählt sie.
Es ist nicht Michelles erstes Mal auf der Straße
Bis vor einem halben Jahr habe Michelle bei einem Sicherheitsdienst gearbeitet, wurde aber dort von ihren Kollegen gemobbt. Sie sagt, es sei ein Fehler gewesen, dass sie selbst gekündigt hat. „Dadurch bin ich vom Jobcenter für drei Monate gesperrt worden, das Sozialamt hat die Miete für meine Wohnung nicht übernommen und dadurch habe ich meine Wohnung verloren und bin wieder auf der Straße gelandet“. Aber es ist nicht Michelles erstes Mal auf der Straße. Mit 14 ist sie von zuhause abgehauen, wohnte drei Monate in einer Wohngruppe, bis sie auf die Straße ging. Michelles Stimme wird ruhiger, als sie sich an die Vergangenheit erinnert und sagt: „Rückblickend hätte ich wahrscheinlich besser versucht, mit meinen Eltern klarzukommen damals. Und ich hätte eventuell nicht so durchdrehen sollen.“
Die 24-jährige überlegt: „Ein realistischer nächster Schritt wäre, dass es so geregelt ist mit dem Jobcenter, dass ich Leistungen bekomme. Momentan kriege ich keine Leistungen“. Bis auf Kleiderspenden nimmt Michelle keine Hilfen der Stadt oder von ehrenamtlichen Organisationen wahr.
„Der Mangel, den man nicht ignorieren kann, ist der: Ich habe kein Geld, ich kann mir nichts zu essen kaufen.”
Bastian Pütter hat durch seine Arbeit viel Kontakt zu wohnungs- und obdachlosen Menschen. Durch den Verkauf der Straßenzeitungen können Obdachlose Geld verdienen. „Der Mangel, den man nicht ignorieren kann, ist der: Ich habe kein Geld, ich kann mir nichts zu essen kaufen. Und das nehmen wir erstmal ernst“, sagt Pütter. Für viele Obdachlose sei ihre Lage schwierig bis unerträglich und oftmals entstehe das Gefühl, dass sich die Personen aufgegeben haben. „Sie glauben gar nicht, dass sie da jemals wieder rauskommen“, erklärt der Leiter. Und auch wenn zunächst einige Obdachlose sagen würden, dass ihr Leben genau so gewollt sei, hat Sebastian Pütter die Erfahrung gemacht, dass dies oftmals nicht der Fall ist.
Einige Monate später: Die Corona-Krise trifft die Obdachlosen in Dortmund hart. Dennis schreibt am 23. April, dass es ihm sehr gut geht. Sein Leben könnte aktuell nur bei seiner Freundin zuhause stattfinden, denn Dennis hat Asthma und eine chronische Lungenerkrankung. „Das größte Problem ist, dass es mir finanziell echt bescheiden geht“, schreibt Dennis. Straßenzeitungen von Bodo verkaufen oder betteln sei durch Corona nicht möglich. „Ich selbst halte mich derzeit mit Einkaufsgutscheinen von Bodo und netten Menschen, die ich über die Stadtführung kennengelernt habe über Wasser“, schreibt Dennis. Michelle geht es ähnlich. Auch sie kann nicht wie gewohnt betteln gehen. „Zum Glück hatte ich etwas Geld gespart, so können Joker und ich überleben.“, sagt die 24-jährige. Teilweise sei es finanziell sehr eng. „Wenn Freunde gekommen sind, sind sie zum Beispiel für mich und Joker einkaufen gegangen“, sagt sie dankbar.
400 Wohnungslose werden durch Programm der Stadt Dortmund untergebracht
Im September 2019 wurde ein Bericht zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe in Dortmund veröffentlicht. Die Stadt plante, Wohnungen für Bedürftige auf 920 Wohnungen zu erhöhen. Im Juli 2020 umfasst dieses Wohnraumvorhalteprogramm aber gerade 660 Wohnungen. Insgesamt werden durch das Programm über 1600 Menschen untergebracht, rund 400 von ihnen sind Wohnungslose. Das Programm kostet die Stadt Dortmund jährlich rund 9,77 Millionen Euro. Zusätzlich zu den Kosten für das Wohnraumvorhalteprogramm investiert die Stadt rund 5,67 Millionen Euro in die Wohnungslosenhilfe.
Doch der Wohnungsmarkt in Dortmund bleibt angespannt und gestaltet die Wohnungssuche vor allem für Obdachlose schwierig. Laut der Stadt Dortmund habe „die Sicherung und Schaffung von Wohnraum für unterschiedliche Nachfragegruppen für die Stadt Dortmund hohe Priorität“. In den vergangenen drei Jahren seien jeweils 1500 Wohnungen, 500 mehr als in den Jahren zuvor. Eine Dortmunder Quotenregelug legt dabei fest, dass ein Viertel der neuen Wohnbaufläche für den öffentlich geförderten Mietwohnungsneubau vorzusehen sind. Hierdurch konnten im vergangenen Jahr fast 150 Neubaumietwohnungen entstehen.
So geht es Dennis und Michelle heute
Im Februar hat Dennis bei seinem Kumpel Toni, bei dem er regelmäßig geschlafen hat, seinen Wohnsitz angemeldet. Durch die Ummeldung wollte Dennis seine Chancen, eine Wohnung zu bekommen, erhöhen. Es ist August 2020 und Dennis‘ Plan ist aufgegangen: „Ich habe eine Zusage von einem Vermieter in Recklinghausen und warte nur noch auf das Go vom Jobcenter“, erzählt er stolz. Der Vermieter kennt Dennis Geschichte nicht und weiß nichts von seinem Leben als Wohnungs- und Obdachloser. Dennis plant nicht mehr weit in die Zukunft, aber sein großer Wunsch ist es, dass er wieder Kontakt zu seiner Tochter haben darf.
Michelles Wohnsituation ist unverändert, sie wohnt bei ihrem Kumpel. Ein Fortschritt: “Die Anträge beim Jobcenter für eine eigene Wohnung und so sind jetzt gestellt“, berichtet sie beim Wiedersehen im Juli. Wenn die Anträge bewilligt werden, könnte Michelle dadurch die Miete bezahlen. Momentan bekommt sie noch kein Hartz IV, da sie vorher noch keine Anträge gestellt hat. „Ich gebe zu, es war auch teilweise ein bisschen Faulheit mit dabei“, gesteht sich Michelle ein. Aber die Anträge sind ein erster Schritt, um keine Wohnungslose mehr zu sein. Das nächste Ziel für Michelle ist weiterhin, mit ihrem Hund eine Wohnung zu finden. Am liebsten möchte sie einmal „mit Tieren oder Pflanzen“ arbeiten, sagt Michelle und ihre Augen fangen an zu strahlen.
Beitragsfotos: Laura Leser