Corona treibt die Digitalisierung voran: Auch Theaterhäuser müssen sich immer mehr im Netz präsentieren. Ein Gespräch mit zwei Vertretern der Akademie für Theater und Digitalität darüber, wie sich Theater weiterentwickeln muss.
Auf den ersten Blick ist die Tür kaum zu erkennen, die in die ehemalige Schreinerei des Theaters Dortmund führt. Sie fügt sich gut in die Fassade des Gebäudes ein. Die Halle, die noch vor einem Jahr komplett leer war, ist jetzt der vorübergehende Sitz der Akademie für Theater und Digitalität. Seit 2019 forschen Stipendiat*innen der Akademie an Möglichkeiten, wie neue Techniken im Theater eingesetzt werden können. Hier sitzen Marcus Lobbes, der künstlerische Leiter der Akademie, und Michael Eickhoff, einer der Dramaturg*innen gemeinsam an einen großen Tisch. Zwischen Greenscreen und allerlei Technik sprechen sie über die Zukunft des Theaters.
KURT: Theater und Digitalisierung passen für viele nicht zusammen. Durch Corona sind die Theater aber in gewisser Weise dazu gezwungen worden. Wie kommen Theatermacher*innen damit klar?
Eickhoff: Wenn man bösartig wäre, würde man sagen, dass es die Theatersysteme schwerer haben, sich zu digitalisieren. Über Jahrhunderte hinweg hat das Theater einen Widerstand dagegen entwickelt, die eigenen Strukturen zu reformieren. Es gibt aber immer wieder einzelne Leute, die sich für digitale Entwicklungen begeistern können und auch diejenigen mitziehen, die sich dagegen sperren.
Lobbes: Wir sind es gewohnt, mit ungewohnten Dingen umzugehen. Außerdem gibt es im deutschsprachigen Theater trotz Personal- und Finanzsorgen sowie verkrusteten Strukturen einen großen Innovationsdrang. Weltweit betrachtet ist die Theaterlandschaft, was das angeht, viel konservativer. Zum Beispiel im asiatischen oder amerikanischen Raum stehen Künstler*innen allerdings zum Teil Mittel zur Förderung von digitalen Künsten Verfügung, von denen wir nur träumen.
Hat die Corona-Pandemie digitale Entwicklungen im Theater beschleunigt?
Eickhoff: Ganz bestimmt. Die Krise wirkt wie ein Beschleuniger. Jetzt gibt es die Notwendigkeit, sich intensiver mit digitalen Techniken auseinanderzusetzen.
Lobbes: Einerseits war die Kreativität in der Pandemie schon eingeschränkt, weil viele Schauspieler*innen und Mitarbeiter*innen an den Schreibtischen sitzen mussten, statt auf den Bühnen zu stehen. Andererseits hat die Pandemie digitale Entwicklungen vorangebracht, die ohnehin unterwegs waren. Man hat viel versucht, um das Theater ins Netz zu bringen. Fast jedes Theater hat damit seine Erfahrung gemacht. Wir können jetzt daher an einem anderen Punkt ansetzen als vor der Pandemie.
An welchem Punkt?
Lobbes: Zum Beispiel was das Streaming angeht. Darüber haben sich die Häuser jetzt sehr schnell Gedanken gemacht und es wird in größeren Kreisen diskutiert.
Kritiker*innen sagen, ein Theaterstück zu filmen und zu streamen sei noch kein digitales Theater, weil es dabei kein Gefühl des Dabeiseins gibt.
Eickhoff: Im Moment gibt es eine neue Publikumssituation. Viele Theaterschaffende versuchen herauszufinden, wie man vor Publikum spielt, das gar nicht anwesend ist. Das erfordert ein neues Gespür der Spieler*innen füreinander und für das Publikum.
Lobbes: Es geht um die große Frage, wie man im digitalen Raum ein Gemeinschaftsgefühl herstellen kann. Das haben wir beim Streaming bislang völlig vernachlässigt. Aber das ist jetzt auf einem guten Weg.
Welche Ansätze gibt es dafür?
Lobbes: Zum einen muss man ein Gefühl dafür schaffen, dass eine Theaterveranstaltung in diesem Moment stattfindet. Wenn Sie Fußball schauen, gehen Sie zum Beispiel immer davon aus, dass das gerade live ist. Das muss man auch für das Theater vermitteln. Theater haben versucht, für Online-Veranstaltungen Tickets zu verkaufen. Dann konnte man nur zu einer bestimmten Zeit zuschauen. Nicht zwanzig Minuten davor oder zwei Minuten danach. Aktuell geschieht auch eine Menge, um dieses ominöse „In einem dunklen Saal sitzen und gemeinsam nach vorne schauen“-Gefühl hinzubekommen.
Eickhoff: Ein schönes Beispiel ist das Nite Hotel aus Holland. Das ist eine Plattform, in der Theatermacher*innen die Räume eines virtuellen Hotels mit Projekten gestaltet haben. Die bestehen aus kleinen Textelementen, Fotos und Videos. Die Besucher*innen können nicht nur in die Räume gehen, sondern auch runter an die Bar und dort andere Gäste treffen. Da haben sie die Gelegenheit, sich per Live-Chat, eventuell mit Videokamera, mit den anderen auszutauschen. Um noch einen anderen Aspekt aufzugreifen, der das Streaming allgemein betrifft: Mit Kameras ist es möglich, aus mehreren Perspektiven zu filmen. Das schafft sofort neue, künstliche Erzählperspektiven. Das alles zeigt, dass es nicht ausreicht, einfach so einen Theaterabend ins Netz zu packen. Das ist kein Theaterabend mehr, sondern ein Film des Theaterabends.
Lobbes: Ein Film wird mit viel Aufwand für die Ewigkeit gemacht, Theater für den Moment.
Eickhoff: Um diesen Unterschied zu verstehen und zu vermitteln, braucht es noch ein bisschen Zeit.
Was macht denn Theater aus?
Lobbes: Beim Theater geht es um zwei Dinge: Es muss zunächst ein Sinnbild dessen sein, was das Leben ist und die Zuschauer*innen müssen das Gesehene auf ihr eigenes Leben beziehen können. Dann ist das Mindestmaß schon da, damit ich von Theater reden würde. Die digitalen Räume schaffen lediglich einen weiteren Bereich, in dem man sich über das verständigen kann, was gerade in der Welt los ist.
Hat sich die Art des Theaters in den vergangenen Jahren gewandelt?
Eickhoff: Theater, das sich nicht wandelt, wäre kein Theater. Theater ist schließlich auch ein Spiegel der technischen Entwicklungen einer Zeit. Neue Architektur verändert zum Beispiel immer, welchen Blick das Publikum auf die Bühne hat. In einem Amphitheater sitzen die Zuschauer*innen anders um die Bühne herum als in einem heutigen Theater.
Sind mit den Veränderungen neue Expertisen gefordert?
Eickhoff: Wenn man sich das mal konkret für Livestreaming anschaut, braucht man zumindest jemanden, der filmen kann, jemanden, der schneiden kann und jemanden, der das technische Verständnis hat, mit einer Livestreaming-Software umzugehen. Diese Ausbildungen wurden bisher an den Theatern nicht nachgefragt.
Lobbes: Programmierung ist ein großes Thema, wenn Sie virtuelle Räume schaffen wollen. Man muss auch eine große Kommunikationslücke füllen. Nicht alle Bühnenbildner*innen können gegenüber Programmierer*innen ausdrücken, was sie ästhetisch schaffen wollen.
Warum sind die digitalen Entwicklungen im Theater überhaupt notwendig?
Eickhoff: Wir kommen gar nicht umhin, uns mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Es gibt neue Fragen und das Theater braucht geeignete Mittel, um diese Themen und Problematiken auf der Bühne darzustellen. Mit einem alten Schinken von Schiller kann ich über bestimmte Dinge, die in der Gegenwart passieren, gar nichts mehr erzählen.
Haben Sie das Gefühl, dass das Publikum diese Veränderungen nachfragt?
Eickhoff: Ganz im Gegenteil: Das Publikum hatte diese Veränderungen gar nicht auf dem Schirm und war erst irritiert. Viele stehen dem immer noch kritisch gegenüber. Andere haben sich aber nach einer Weile dafür begeistern lassen.
Wie weit darf Digitalisierung gehen und ab wann hört Theater auf?
Lobbes: Das war kunstgeschichtlich immer schon ein großes Problem. Ist ein schwarzes Quadrat auf der Leinwand noch Malerei? Deswegen habe ich den Theaterbegriff so offen definiert. Es sollte immer nur klar sein, was mit den digitalen Mitteln erzählt werden soll. Sind digitale Techniken nur auf der Bühne, weil sie gerade im Trend sind, werden sie von dort wieder verschwinden.
Eickhoff: Techniken sind ein gedanklicher Ausdruck unserer Zeit. Deswegen ist der Gebrauch eines Mediums im Theaterkontext immer der Ausdruck einer bestimmten Bedeutung.
Also wird es verschiedene Formen von Theater geben?
Lobbes: Das ist doch jetzt schon so! Die Theaterlandschaft ist wahnsinnig weit gefasst. Es wird immer neuere und ältere Formen von Theater geben. Ursprünglich wurden auch bei Shakespeare Ochsen auf der Bühne geschlachtet. Das will doch heute kein Publikum mehr. Aber es wird neben dem digitalen auch immer rein analoges Theater geben. Das Eine ist nicht gegen das Andere ausspielbar. Diese Diskussion,– ob das eine das andere ersetzt – ist eine große Gefahr. Dadurch werden die Vorbehalte gegenüber dem Thema gestärkt und konstruktive Diskussionen erschwert. Wir wollen nicht die Ensembles durch Roboter ersetzen.
Beitragsbild: Magnus Terhorst; Teaserbild: Annika Könntgen