Von Nightingale bis “Münster Cares”: Visionen für die Zukunft der Pflege

“Gott sprach zu mir und rief mich in seinen Dienst”. Diesen Satz schrieb die am 12. Mai 1820 geborene Britin Florence Nightingale mit 17 Jahren in ihr Tagebuch. Er markierte für sie ein religiöses Erweckungserlebnis: Fortan widmete sie ihr Leben der Pflege. Ihr zu Ehren findet an ihrem Geburtstag der internationale Tag der Pflege statt. Und heute wie damals geht es um Veränderungen im Gesundheitswesen.

Nightingale gilt als Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege. Vor mehr als 150 Jahren kämpfte sie für ein allgemeines Gesundheitssystem und entwickelte Konzepte für Hygienestandards in der Pflege. Ganz im Zeichen dieser Errungenschaften lautet das diesjährige Motto des internationalen Tages der Pflege: A Vision for Future Healthcare.

Florence Nightingale
Die “Lady with the Lamp” erlangte ihren Spitznamen während eines Einsatzes im Krimkrieg. Dort sorgte sie wesentlich für eine Verbesserung der schlechten hygienischen Bedingungen und besuchte auf nächtlichen Kontrollgängen ihre Patienten mit einer Lampe in der Hand.

Auf ihre Rückkehr nach Großbritannien folgte die Eröffnung der ersten Berufsschule für Krankenschwestern, die Nightingale School of Nursing am St. Thomas Hospital in London. Damit legte sie den Grundstein für die Zukunft von Gesundheitswesen und Pflegeberuf.

Wie soll sie aussehen, diese Zukunft der Pflegeberufe? “Wegen der Corona-Pandemie sind Gesundheitswesen und Pflege einer enormen Belastung ausgesetzt”, schreibt der ICN (International Council of Nurses) in der Begründung des diesjährigen Mottos auf seiner Website. Das Gesundheitswesen stehe vor einer notwendigen, von Krankenpfleger*innen vorangetriebenen Revolution. Denn: “Stärker als je zuvor sind Gesundheitswesen, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Arbeit der Pfleger*innen angewiesen, die in erster Reihe gegen das Corona-Virus kämpfen.”

Florence Nightingale (Quelle: Wikimedia)
Florence Nightingale (Quelle: Wikimedia)

Im Krankenhaus brannte es schon vor Corona

“Corona ist aber nicht das Hauptproblem”, sagt Lisa Wolter. Die 25-Jährige ist ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin, arbeitet in Wesel. Nebenbei studiert sie in Münster im Bachelor Pflege dual. “Das Haus hat vorher schon gebrannt, einen Pflegenotstand gibt es schon lange”, beschreibt sie den Zustand ihrer Berufsgruppe. Wolter will für ein “zukunftsfähiges Gesundheitswesen” kämpfen. Dafür wird sie als Mitglied der AG Junge Pflege des DBfK (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe) heute Abend bei einer Demonstration der Kampagne “Münster Cares” als Ordnerin mitlaufen.

Münster Cares ist ein Zusammenschluss von Pflegenden aus Münster, der durch Auftritte in sozialen Medien, Demonstrationen und Stellungnahmen auf die Situation in Pflegeberufen aufmerksam machen und so für die Pflege “aktiv werden” will. Die Demonstration am heutigen Mittwochabend steht unter dem Aufruf: “Genug geklatscht! Lasst Taten folgen.”

Applaus, Applaus und leere Worte

Viel getan hat sich, trotz Pandemie und Balkon-Beifall, für die Pfleger*innen in Deutschland bisher nicht. Einer von Gesundheitsminister Jens Spahn für 2021 angekündigten umfassenden Pflegereform kam die Corona-Pandemie dazwischen, Forderungen nach einer besseren Entlohnung von Pflegekräften blieben bisher unbeantwortet. Dafür hat es während der Pandemie einen Bonus in Höhe von 1.500 Euro für Klinikpflegepersonal gegeben.

“Viele haben diesen Corona-Bonus aber gar nicht gesehen, weil die Krankenhäuser ihn nicht bekommen haben”, berichtet Wolter. Der Bonus wirke wie “eine Art Schweigegeld” seitens der Politik, um bei Debatten und Forderungen der Pflege nach der Pandemie auf den Erhalt des Bonus aufmerksam machen zu können. “Dieser Bonus ist nicht nachhaltig, er ändert nichts an den Problemen im Berufsalltag”, bekräftigt Wolter. “Geld schützt nicht vor psychischen Folgen”.

Negative psychische Folgen der Arbeit als Pflegekraft sind keine Seltenheit. Münster Cares fordert deswegen verbindliche und reduzierte Arbeitszeiten im Pflegeberuf. Die Einführung der 35-Stunden-Woche sei ein Muss. “Der Dienstplan muss arbeitnehmerfreundlicher gestaltet werden”, sagt Wolter. Manchmal arbeite sie elf Tage am Stück, zudem jedes zweite Wochenende. “Das mindert die Lebensqualität”. Außerdem sind die Dienste anstrengend. Wer abends Spätschicht hat und am nächsten Morgen zur Frühschicht wieder im Krankenhaus zurück sein muss, dem bleiben zwischen den Diensten nur circa sieben bis acht Stunden freie Zeit. “Kaum einer schafft es da, mal runterzukommen”, sagt Wolter.

Den Krankenhäusern mangelt es an Personal, dem Personal an Entlohnung

Lange Arbeitstage, körperliche Belastung und geringe Entlohnung. Der Pflegeberuf ist unattraktiv. Und das wirkt sich negativ auf die Menge an gut ausgebildeten und hoch qualifizierten Fachkräften aus. Personalmangel ist seit Jahrzehnten ein Problem der Berufsbranche. Laut einer Studie des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe von Dezember 2020, befürchten über die Hälfte der rund 3.600 befragten Pflegekräfte einen weiter ansteigenden Personalmangel. “Im Schnitt bleibt gut ausgebildetes Pflegepersonal nur sieben Jahre im Beruf”, sagt Wolter.

Lisa Wolter (Quelle: Privat)
Lisa Wolter auf der Münster Cares-Demonstration auf dem Münsteraner Schlossplatz. (Quelle: Privat)

Zur Lösung des Fachkräftemangels wird immer häufiger weniger gut ausgebildetes Personal engagiert. Studierende, Auszubildende oder Pflegehelfer*innen sollen die Lücken schließen. Auch aus dem Ausland werden verstärkt Fachkräfte angeworben: Nach einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung ist die Zahl des Pflegepersonals, das jährlich nach Deutschland kommt, zwischen 2012 und 2017 um beinahe das Sechsfache auf 8.800 angestiegen. Und dennoch: Das vorhandene Personal reicht lange nicht aus. Laut statistischem Bundesamt sind 40.000 Stellen in der Pflege offen.

Krankenhäuser sind angewiesen, die Kosten möglichst niedrig zu halten. Das bedeutet einen Stellenabbau im Pflegedienst oder die Unterbesetzung einzelner Arbeitsbereiche. “Menschen werden im Krankenhaus als Kostenfaktor gesehen”, so Wolter. “Die Gewinnmaximierung steht im Vordergrund, aber Menschen sind keine Ware.” Münster Cares fordert daher, dass der Pflegebedarf in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen der Menge an Patient*innen und nicht dem Umsatz entsprechend angepasst wird.

Passiert weiterhin nichts, fürchten Berufsverbände und Pflegekräfte einen weiteren Rückgang des Personals. 32 Prozent der in der Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe Befragten gaben an, über den Berufsausstieg nachzudenken. Dieser Tendenz entgegenwirken könnte die Anhebung der Gehälter des Pflegepersonals. Münster Cares und viele Berufsverbände fordern ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro brutto – aktuell verdienen Pflegekräfte im Berufseinstieg durchschnittlich 2.200 bis 2.700 Euro.

Der Platz am “längeren Hebel”: Appell an das Selbstbewusstsein der Pflegekräfte

“Seit Jahrzehnten steuert das deutsche Gesundheitssystem auf einen Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen zu”, schreibt Münster Cares auf seiner Website. Diesem Zusammenbruch soll nun Einhalt geboten werden. Dafür sei wichtig, dass die Pflege selber und auch die Gesellschaft den wirklichen Wert der Pflegeberufe erkenne. “Die Pflege ist kein Assistenzberuf, sondern eine richtige Profession”, sagt Wolter. Sie will, dass sich Pflegekräfte in Deutschland zunehmend organisieren. Denn schließlich säße ihre Berufsgruppe am “längeren Hebel”: “Wenn sich nichts ändert, können wir den Arbeitgeber wechseln, wenn wir wollen. Wir sind die größte Gruppe im Gesundheitswesen, wir müssen gehört werden”.

Gehört werden wollen die Pflegekräfte nicht nur heute, am internationalen Tag der Pflege. Aber heute besonders. Denn wie Florence Nightingale rund 150 Jahre vor ihnen, setzen auch sie sich ein für Veränderungen im Gesundheitswesen. Und wenn diese nicht folgen? “Dann würde ich beruflich eine andere Spate wählen, nicht mehr in der direkten Patientenversorgung”, sagt Wolter.

Beitragsbild: Vladimir Fedotov on Unsplash

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