Unter der Dortmunder Innenstadt verbirgt sich ein kilometerlanger Luftschutzstollen. Ihn zu betreten, ist verboten. Wir haben mit jemandem gesprochen, der dennoch in den Stollen eingestiegen ist, und zeigen euch Dortmund von unten.
„Das Stehenbleiben ist verboten“, Diebstahl werde in schweren Fällen mit dem Tod bestraft – an den Betonwänden stehen in fetten Buchstaben Anweisungen und Warnungen geschrieben. Es sind Überreste aus einer anderen Zeit. Nur die Lichtkegel von Taschenlampen zeigen den Besucher*innen, was sich direkt vor ihnen befindet, denn Tageslicht gibt es an diesem Ort nicht. Mitten in der Dortmunder Innenstadt befindet sich eine verborgene Welt.
Eine riesige Stollenanlage untertunnelt Dortmund vom Westpark bis zum nördlichen Hauptbahnhof: Die Anlage verläuft südlich der Rheinischen Straße und verzweigt sich unterhalb des Walls nach Norden Richtung Hauptbahnhof und in Richtung des St.-Johannes-Hospitals, das süd-westlich der Innenstadt liegt. Laut dem Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW (BLB NRW) umfasst der Stollen eine Länge von rund drei Kilometern. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind einige Teile des Stollens zugeschüttet worden, sodass die Anlage mit einer Länge von fast fünf Kilometern früher sogar noch deutlich größer war als jetzt. In der Frage, wie groß die Anlage im Vergleich zu anderen Stollensystemen ist, widersprechen sich die Quellen. Die Internetseite „Bunker Dortmund“ bezeichnet die Anlage als den größten zivilen Luftschutzstollen Deutschlands. Andere, wie die Blogs „Last Junkies On Earth“ und „RonnyRakete“, geben sogar an, es handle sich um den größten zivilen Luftschutzstollen Europas.
Dr. Andreas Immenkamp vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat 2014 die Ausstellung „Über Unterwelten“ mitorganisiert und sich dabei mit dem Dortmunder Stollen beschäftigt. Laut Ausstellungskatalog begannen die Nationalsozialisten 1938 mit dem Bau der Anlage, die bis zu 50.000 Personen Schutz vor Luftangriffen bieten sollte. Bis Kriegsende wurde der Stollen allerdings nie fertiggestellt. Während des Krieges suchten dennoch tausende Menschen Schutz in dem Stollen. Heute sind viele der alten Eingänge zugemauert oder verschüttet. Wo zum Beispiel früher der Haupteingang in den Stollen lag, befindet sich nun die Katharinentreppe vor dem Hauptbahnhof.
Betreten verboten
Der Einstieg in die Anlage ist illegal. Wer dafür zuständig ist, den Stollen vor Eindringlingen und Einstürzen zu sichern, ist kompliziert nachzuvollziehen. Obwohl den Eigentümer*innen oberhalb liegender Grundstücke die Stollen gehören, ist dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz zufolge der Bund dafür zuständig, den Stollen zu kontrollieren. Dazu hat er unter anderem den BLB NRW beauftragt. Die Stadt Dortmund gibt an, dass die gesamte Anlage auf fast einhundert verschiedene Eigentümer*innen aufgeteilt ist. Ein Großteil des Stollens liegt allerdings nicht unter privaten Grundstücken, sondern unter Flächen, die der Stadt gehören.
Einer derjenigen, die die Anlage trotz des Zutrittsverbots von innen kennen, ist Marko Hofmann. Hofmann heißt eigentlich anders. Um ihn zu schützen, hat die Redaktion ihn anonymisiert. Bekannte von ihm nahmen Hofmann im Sommer 2020 mit auf die Tour. Während sie zuvor schon in der Anlage gewesen waren, kannte Hofmann bis zu dem Zeitpunkt nur Fotos der unterirdischen Gänge.
Die Tür in die Unterwelt
In das System eingestiegen seien sie damals in der Nähe des Dortmunder U, erzählt er. Auf einem Hinterhof befindet sich dort eine winzige Metalltür an der Wand. Sie liegt etwa einen halben Meter über dem Boden und ist so klein, dass Hofmann und seine Begleiter nur gebückt hindurchgehen konnten. Hofmann erzählt, dass der Eingang immer mal wieder aufgebrochen und von den Behörden anschließend wieder verschlossen werde. Obwohl die Luke nur wenige Meter von der Straße entfernt ist, betraten er und seine vier Begleiter den Hinterhof am helllichten Tag – an einem Sonntag gegen 14 Uhr. „Auf den ersten Blick wirkte die Luke verschlossen“, erinnert er sich. Denn dort, wo normalerweise eine Klinke liegt, befindet sich nur ein winziges Loch in der Tür. „Alleine hätte ich die wahrscheinlich gar nicht aufbekommen. Man muss schon wissen, wie das geht und die Kollegen kannten den Trick.“ Ein Handgriff genügte und die Tür ließ sich öffnen.
Möglich war das nur, weil andere Stollenbesucher*innen den Eingang drei Tage zuvor bereits aufgebrochen hatten. Wenn der Zugang zum Stollen frei sei, verbreite sich die Nachricht innerhalb kürzester Zeit über soziale Medien wie zum Beispiel Facebook. „Dann geben sich die Leute die Klinke in die Hand. Alle wollen mal in den Tiefstollen.“
Hofmann erzählt, wer in den Stollen einsteige, komme hinter der Luke ohne Taschenlampe nicht weit. In der Dunkelheit liegt eine Treppe, die sich über mehrere Absätze in die Tiefe windet. Etwa 12 Meter geht es hier hinunter. Die tiefste Stelle des Stollens liegt Andreas Immenkamp zufolge 18 Meter unter der Erdoberfläche. „Man hat schon das Gefühl – das ist jetzt richtig tief“, erinnert sich Hofmann. Die Stufen sind nass von dem Wasser, das von der Decke tropft und an den Wänden herabrinnt. Trotz sommerlicher Hitze vor der Luke sinke die Temperatur im Stollen auf etwa 10 bis 12 Grad, sagt Hofmann. Am unteren Ende der Treppe angekommen, stehen Besucher*innen in einem langen Tunnel mit Betonboden. Richtung Westentor ist das Ende des Tunnels kaum zu erkennen.
Groß wie ein U-Bahn-Tunnel
„Dann geht man auf Wanderschaft“, erzählt Hofmann. „Man tapert durch unbekanntes Terrain, schaut in alle Ecken rein und versucht, sich zu orientieren.“ Lange, gerade Tunnel machen einen großen Teil des Stollensystems aus. Teilweise sind sie mit Rippenblech überzogen, teilweise sind es nackte Betonwände. Die Höhe und Breite der Tunnel unterscheidet sich. Andreas Immenkamp zufolge sind die meisten Gänge etwa 4 Meter breit und 3 Meter hoch. In manchen Bereichen nimmt der Stollen aber auch hallenähnliche Ausmaße an: Die Nationalsozialisten planten teils, in die bestehenden Tunnel eine zweite Etage einzubauen. Marko Hofmann sagt: „Im Bereich Westentor befinden sich Abschnitte, die wie eine U-Bahnröhre aussehen. Die sind ziemlich breit und ungefähr sechs Meter hoch.“ Ähnlich große Bereiche gibt es Richtung Hauptbahnhof. Ursprünglich führte der Stollen dort unter dem Bahnhof hindurch bis zum nördlichen Eingang. Heute steht dieser Bereich unter Wasser und ist nicht mehr begehbar.
Während seiner Tour durch die Dortmunder Unterwelt überraschte Hofmann, dass er und seine Begleiter immer wieder anderen Gruppen begegneten. „Alle möglichen Leute liefen da rum. Da war richtig die Hölle los.“ Er schätzt, dass innerhalb der wenigen Tage, in denen der Stollen offen stand, mehrere hundert Leute in die Anlage eingestiegen sind. Die Szene warte nur darauf, dass der Stollen geöffnet werde, und pilgere anschließend in die Dortmunder Innenstadt.
Größtenteils jedoch sei die Anlage damals wie leer gefegt gewesen. In den Räumen, die von den langen Gängen abzweigen, liegt nur vereinzelt alter Metallschrott und Müll. Im Bereich unter dem St.-Johannes-Hospital ist das anders. Hier türmt sich der Schrott rechts und links am Tunnelrand. Unter dem Rost kaum noch zu erkennen, liegen dort unter anderem alte Betten und Krankentragen. Ein Stück weiter ragen massive Säulen vom Boden auf und verschwinden in der Tunnelwand – es sind die Stützpfeiler des Krankenhauses. Hier haben sich auffällig viele Tropfsteine gebildet, die zerbrechlich von der Decke hängen: Sie sind teils mehr als einen Meter lang, aber kaum dicker als einen Zentimeter.
Relikte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs
Überraschend liegt zwischen all den verkalkten Betonwänden des Stollens eine Ziegelsteinmauer mit einer verschlossenen Tür. Sie wirkt wie eine Erinnerung daran, dass man sich noch immer mitten in Dortmund befindet. Wer diese Metalltür öffnen würde, stünde im Keller des St.-Johannes-Hospitals. Durch den Zugang konnten Patient*innen während des Zweiten Weltkrieges schneller in Sicherheit gebracht werden.
Das Krankenhaus ist nicht das einzige Gebäude, das noch heute über einen Zugang in den Stollen verfügt: Eine blaue, mit Graffiti beschmierte Metalltür führt in eine Niederlassung der Telekom am Westentor. Während des Zweiten Weltkrieges befand sich in dem Gebäude das Dortmunder Fernmeldeamt.
Ein Labyrinth unter dem Westpark
Hofmann hält den Abschnitt, der in Richtung Westpark führt, für den interessantesten Teil des Stollens. „Der Stollen ist hier labyrinthartig. Plötzlich geht es in alle Richtungen weiter.“ Die Gänge dort sind deutlich schmaler und verzweigter als die riesigen, langen Tunnel in der Nähe des Westentors. In Richtung Westpark gibt es Kreuzungen und Verbindungen zwischen den Tunneln. Hofmann schätzt, dass die Gänge an manchen Stellen nur zwei Meter breit sind. Hier befindet sich auch eines der Endstücke des Stollens. Dort sind die Wände uneben und es tropft mehr Wasser von der Decke als in den ausgebauten Stollenteilen. Durch abgelagerte Mineralien ist der Tunnel an Boden und Wänden orange-gelb gefärbt. Hofmann erinnert sich: „Alles hing voll mit Stalaktiten“.
Selbst in engeren Bereichen wie im Westpark können Besucher*innen überall aufrecht stehen. Dadurch habe er sich im Stollen nie unwohl gefühlt, erzählt Hofmann. Ein wenig beklemmend sei es allerdings, dass sich die Stollenbesucher*innen einerseits mitten in der Dortmunder Innenstadt befänden, andererseits jedoch von der Welt über der Oberfläche komplett abgeschottet seien: „Wenn irgendwas passiert, dann kommt man nicht so einfach wieder raus. Dann müssen Sie unter Umständen zwei Kilometer laufen“, erklärt Hofmann. „Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass das kein Spaziergang durch den Westpark ist.“ Alleine würde er den Stollen deshalb niemals betreten. Einsturzgefährdet sei die Anlage nicht, sagt der BLB NRW. In der Vergangenheit seien aber immer wieder einzelne Teile gesichert worden.
Zurück ans Licht
Hofmann sagt, er habe sich unten recht leicht orientieren können, weil er sich die Karte der Stollenanlage vor dem Einstieg eingeprägt habe. „Aber ich war ja auch in fachkundiger Begleitung“, gibt er zu. „Dann kann ich das natürlich locker sagen.“ Um sich im Stollen zu orientieren, können auch historische Wegweiser eine Hilfe sein: An den Wänden stehen in schwarzer Schrift Pfeile und Straßennamen, die zu ehemaligen Eingängen des Stollens führen.
Nach etwa eineinhalb Stunden in der Dunkelheit des Stollens stieg Hofmann die Treppenstufen aus der Anlage wieder hinauf. Zu seiner Erleichterung warteten im Tageslicht hinter der Luke weder das Ordnungsamt noch die Polizei auf ihn. Er erinnert sich: „Bei den Leuten, die sich da näherten, war klar, was die vorhatten: Das waren die nächsten Untertagegäste.“
Beitragsbild: koan_foto