Gewalt ist (k)eine Lösung? Faustkämpfe und Checks im Eishockey auf dem Prüfstand

Nicolas Deslauriers (links) von den Philadelphia Flyers und Ross Johnston von den New York Islanders streiten sich während des ersten Drittels eines NHL-Eishockeyspiels am Dienstag, 29. November 2022, in Philadelphia.
Tätlichkeit am Spielfeldrand zwischen Philadelphia Flyers und New York Islanders, 2022

Die Deutschen Leon Draisaitl, Tim Stützle und Moritz Seider mischen gerade die National Hockey League (NHL) auf, die beste Eishockeyliga der Welt. Dabei macht besonders der junge Moritz Seider mit seiner körperlichen Spielweise auf sich aufmerksam, beinahe so wie damals „Verteidiger-Kante“ Uwe Krupp. Zwischen den beiden liegen ein paar Spieler-Generationen und einiges hat sich verändert. Doch nach wie vor stellt sich die Frage: Welche Bedeutung hat Härte im Eishockey?

„Broad Street Bullies“ – Relikt einer vergangenen Ära

Wer an Eishockey denkt, denkt wohl direkt an fehlende Zähne, krachende Bodychecks oder Faustkämpfe. Härte wird in diesem Sport oft großgeschrieben. Das liegt schon in der Natur des Spiels. Es gibt kein „Aus“, sondern eine Bande rund um das 60 mal 30 Meter große Spielfeld, die Kollisionen unvermeidbar macht. Bodychecks sind Teil des Spiels, bis zu einem gewissen Grad regelkonform und damit auch Teil der Taktik, um am Ende als Sieger vom Eis zu gehen.

„Ist Eishockey hart? Ich weiß es nicht. Sag du es mir. Wir brauchen die Kraft und die Power eines Football Spielers, die Ausdauer eines Marathonläufers und die Konzentration eines Gehirnchirurgen. Und das, während wir uns in Höchstgeschwindigkeit auf einer kalten, rutschigen Oberfläche bewegen, gegen fünf andere Männer mit Schlägern in der Hand, die versuchen, uns zu töten. Oh und habe ich erwähnt, dass wir währenddessen auf drei Millimeter schmalen Kufen stehen? Ist Eishockey hart? Ich weiß es nicht, sag du es mir. Nächste Frage.“

Ex-NHL-Spieler Brendan Shanahan zu einem Reporter

Niemand hat diese Härte so sehr als Erfolgsrezept verstanden wie die Philadelphia Flyers der 1970er Jahre. Aufgrund ihrer oft auch überharten Spielweise wurden sie von den gegnerischen Mannschaften und deren Fans genauso sehr gehasst und verachtet, wie sie von ihren eigenen Anhängern vergöttert und geliebt wurden. „Broad Street Bullies“ wurde das damals noch junge Team der National Hockey League von da an genannt, nach der Straße, in der sich das Stadion „The Spectrum“ der Flyers befand. Das Team um den damaligen Trainer Fred Shero prügelte und checkte sich seinen Weg bis zum Titel in den Saisons 1973/74 und 1974/75, ehe sie in der darauffolgenden Saison im Finale den Montréal Canadiens unterlagen und das Stanley Cup-Triple verpassten.

Was machte die Flyers damals so erfolgreich? Ihre Härte und ihr Torhüter Bernie Parent. Die Flyers kassierten in den beiden Meister-Saisons die wenigsten Gegentore der Liga, aber stellten vor allem 1973/74 beachtliche 1750 Strafminuten in 78 Spielen auf. Angeführt von ihrem Verteidiger Dave „The Hammer“ Schultz mit 348 Strafminuten – umgerechnet sind das fast sechs komplette Spiele auf der Strafbank.

In 17 Play-off-Partien sollten die Flyers weitere 578 Strafminuten verbuchen, von denen allein 139 auf das Konto von Schultz gingen. Zum Vergleich: Diese Mannschaft erhielt in 17 Play-off-Spielen mehr Strafminuten als heutzutage eine Mannschaft in einer kompletten 82-Spiele-Saison. In der Saison 1974/75 schafften sie es sogar, ihre irrsinnige Strafminuten-Zahl aus dem Vorjahr zu toppen. 1967 Strafminuten in 80 Spielen, dazu stellte Dave Schultz den bis heute und wahrscheinlich für immer ungebrochenen Ligarekord mit 472 Minuten auf. In 17 Play-off-Partien sammelte Schultz weitere 83, sein Team ganze 338 Strafminuten. Egal wie verhasst die überharte Flyers-Spielweise bei den Gegnern war, am Ende gewannen Schultz und die „Broad Street Bullies“ zweimal in Folge den legendären Stanley Cup – sie hatten ihn sich im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft.

Die Saison 1975/76 wurde fast zur endgültigen Krönung der „Broad Street Bullies.“ Doch im Finale gingen sie gegen spielerische Montréal Canadiens am Ende mit 0:4 in der Serie unter – und mit ihnen die knüppelharte Art, in der NHL erfolgreich zu sein.

Woher kommen die Daten in diesem Artikel?

Als Datengrundlage dienen Spieler- und Mannschaftsdaten, welche die NHL auf ihrer Homepage bereitstellt – aufgeschlüsselt in einzelne Parameter und nach Saisons sortiert. Die Anwendungsschnittstelle (API) der NHL ermöglicht uns eine umfangreiche und unkomplizierte Datengewinnung für die Untersuchungen.

Unser Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Saison 2005/06 bis zur Saison 2019/20 und bezieht sich auf die Regular-Season. Ab der Saison 2005/06 wurde die Datenerfassung in der NHL weiterentwickelt, sodass z.B. auch Hits statistisch festgehalten werden konnten. Außerdem gelten seit dieser Spielzeit entscheidende Regel-Änderungen, die das Spiel schneller und torreicher machen sollten.

Ausgenommen von unserer Untersuchung sind die Spielerdaten der Torhüter, da im Spiel kaum Härte von ihnen ausgeht und sich die Anforderungen auf ihrer Position z.B. in Hinsicht auf die Körpergröße gesondert verändert haben.

Diese Spielweise der „Broad Street Bullies“ ist im modernen Eishockey nicht mehr zeitgemäß. Die Bedeutung von Bodychecks (Hits) hat etwas zugenommen. Die Tendenz bei unfairen Aktionen, die mit einer zweiminütigen Minor Strafe geahndet werden, zeigt aber ganz klar nach unten, die Zahl der Kämpfe (Fights) hat ebenfalls deutlich abgenommen. Die Härte im Hinblick auf diese Kriterien nimmt also stetig ab - und das ist von der Liga auch so gewollt.

Die NHL will das Verletzungsrisiko ihrer Spieler reduzieren und gleichzeitig das Spiel spielerischer machen. Also mehr Tore und Offensivaktionen anstatt Blut, Fouls und Faustkämpfe. 1992 wurde die sogenannte Instigator Rule, zu Deutsch Anstifter-Regel, ins Leben gerufen. Dadurch werden Spieler, die einen Faustkampf anzetteln, härter bestraft als die Spieler, die die Provokation „nur“ annehmen oder sich verteidigen. Die Strafen sind dabei vor allem mannschaftsschädlich, da sie in Form von zusätzlichen zwei- oder zehnminütigen Strafzeiten gegen den Spieler und seine Mannschaft ausgesprochen werden und dadurch Einfluss auf den Ausgang der Partie nehmen können.

Auch das 2012 von der Liga gegründete Department of Player Safety (DPS) ist ein Grund für den massiven Rückgang von Faustkämpfen und Fouls in der NHL in den vergangenen Jahren. Das Department sperrt Spieler nachträglich für unfaire Aktionen wie beispielsweise überharte oder gefährliche Checks. Durch diese Maßnahme wurden Fights auf dem Eis, oft als Mittel zur Selbstjustiz oder Rache für einen gefoulten Mitspieler, immer seltener. Auch die Mannschaftszusammenstellung veränderte sich dadurch. 2005/06 gab es noch in nahezu jeder Mannschaft die Enforcer, also Spieler, die nur bedingt talentiert im Umgang mit dem Puck sind, dafür aber groß, schwer und gute Faustkämpfer. Sie waren dafür da, um die talentierten und offensiv wichtigen Spieler vor unfairen Angriffen der Gegner zu schützen. Durch die Regeländerungen und das DPS ist diese Rolle nahezu komplett verschwunden, was sich auch am gesunkenen Durchschnittsgewicht der NHL-Spieler in den vergangenen knapp 15 Spielzeiten zeigt.

Das Verschwinden der Enforcer sorgt innerhalb der Kader auch für mehr Platz für sogenannte Skillspieler, also Spieler mit besonders ausgeprägten Offensivtalenten. Diese Spieler drängen unter anderem durch den NHL-Draft, die jährliche Auswahl der Nachwuchstalente, vermehrt in die Liga und die Mannschaftskader. Durch mehr offensivstarke Skillspieler innerhalb eines Kaders werden Überzahlsituationen der Mannschaften gefährlicher und damit entscheidender und wichtiger für das Eishockey. Unnötige Strafen sollten deshalb vermieden werden, auch das ein Faktor für den Rückgang von Strafzeiten.

Härte auf dem Punktekonto – Fights, Hits und Minor Strafen

Byfuglien checkt Ovechkin hinter dem Tor. Foto: clyde/flickr.

Unten die schmale Kickleiste, dann eine 1,20 Meter hohe Wand aus Kunststoff und das Plexiglas . Hier an der Eishockeybande, vor allem hinter dem Tor, können Spiele entschieden werden. Einmal unter Druck geraten, kommt es darauf an, den Puck schnell aus der Rundung zu bringen - aber das ist nur ein Teil der Aufgabe. Genauso wichtig: Weiter stabil bleiben und alle Muskeln des Körpers festmachen, wenn der Gegenspieler seinen Check zu Ende fährt. Im schlimmsten Falle kommen gut 110 Kilogramm reines Körpergewicht angerauscht, um Schutzausrüstung, Körper und Bande ans Limit zu bringen: Spieler wie Zdeno Chara (2,06m/ 113kg) oder Alex Ovechkin (1,91m/ 108kg) machen ihren Job.

Solch einen Hit zu kassieren ist brutal kräfteraubend und gleichzeitig täglich Brot in der NHL. Um die 50 Hits zählen Analysten während einer Partie, auf die Saison hochgerechnet kommt da eine Menge zusammen. Aber auch, wenn die Zahl der Hits fester Bestandteil einer jeden Spielstatistik ist, kann der Wert kaum als Schlüssel gelten, um am Ende einer Saison ganz oben zu stehen. Das zeigt der Blick auf die Saison-Bilanzen relativ schnell, denn unter den Besten stehen sowohl Teams mit eher vielen Hits als auch Teams, die offenbar weniger darauf setzen. Gleichzeitig kann ein gewaltiger Hit, egal ob fair oder nicht, so einiges auslösen.

Von Verletzungen und kaputtem Plexiglas abgesehen, folgt nicht selten ein Fight, um die Kräfteverhältnisse wieder geradezurücken. Spieler und Schiedsrichter arbeiten auf Hochtouren und das Publikum ist von der zusätzlichen Action auf dem Eis begeistert. Durch die Brille der Unterhaltung gesehen, gibt es sicherlich Argumente für viele Faustkämpfe auf dem Eis. Sportlich betrachtet zeigt sich diese Art der Konfrontation aber nicht unbedingt nachhaltig, einfach gesagt: Mehr Fights bedeuten nicht automatisch mehr Punkte im Kampf um den Stanley Cup.

Die Detroit Red Wings haben das in der Saison 2005/06 eindrucksvoll bewiesen, als sie nach der Regular Season die meisten Punkte auf dem Konto hatten. Bis dahin ist die Mannschaft mit nur sechs Fights ausgekommen, der niedrigste Wert aller Teams für diese Spielzeit. Dabei hat sich eine NHL-Mannschaft in der Saison durchschnittlich auf 30 Fights eingelassen.

Pazifistische Detroit Red Wings

Übrigens sind die Detroit Red Wings in dieser Hinsicht mit Abstand am friedlichsten in der jüngeren NHL-Geschichte. Fast 10 Jahre am Stück seit der Saison 2005/06 waren die Red Wings immer die Mannschaft mit den wenigsten Fights – manchmal mit beinahe pazifistischen Zügen, so scheint es. Lediglich in der Saison 2007/08 waren die Los Angeles Kings, mit zwei Fights weniger als Detroit, ausnahmsweise friedlicher.

Und während das Team mit den wenigsten Fights die National Hockey League in der Saison 2005/06 dominiert hat, führt die Suche nach der kampflustigsten Mannschaft tatsächlich ans Ende der Tabelle: die St. Louis Blues. Beachtliche 51 Fights haben die Blues-Spieler ausgetragen, wobei der rechte Flügel Jamal Mayers und Verteidiger Barret Jackman mit zusammen 25 Kämpfen großen Anteil daran hatten. Natürlich ist nicht eindeutig zu sagen, wie oft sie dabei in der Rolle des Provokateurs oder doch eher Unschuldslamm waren – wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Es spielt allerdings auch keine Rolle, denn mit Blick auf die Punkteausbeute waren die Fights für die St. Louis Blues anscheinend kein gutes Werkzeug.

Nun macht es die Saison 2005/06 allen Fight-Gegnern einfach, die sportliche Bedeutung des Faustkampfes im Eishockey kleinzureden. Die Wahrheit ist aber, dass sich ein klarer Einfluss von Fights auf gewonnene oder verlorene Punkte schlicht und einfach nicht statistisch belegen lässt. Was nicht ausschließt, dass viele Fights für einige Mannschaften trotzdem ein Erfolgsrezept sein können - im Weg stehen sie einer guten Punkteausbeute jedenfalls nicht. Das haben in der Saison 2005/06 wiederum die Dallas Stars mit ihren 50 Fights und einem guten dritten Rang nach der Regular Season bewiesen. Fest steht dagegen nur, dass die Zuschauer heute deutlich weniger Fights auf dem Eis zu sehen bekommen als noch vor 15 Jahren.

Dass in weiteren 15 Jahren die Fäuste auf dem Eis überhaupt nicht mehr fliegen werden: unwahrscheinlich. Denn auch wenn die Zahlen zurückgehen und sich kein klarer Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg erkennen lässt, gehört der Faustkampf im Eishockey einfach dazu. Das galt auch für die Tampa Bay Lightning in ihrer Saison der Superlative 2018/19. Die meisten Siege in einer Saison seit den Detroit Red Wings 1995/96, den besten Top-Scorer seit Langem gestellt und überragende Partien gespielt, um die nächsten Ligakonkurrenten mit gut 20 Punkten auf Abstand zu halten. Was hat es in puncto Härte für all das gebraucht?

Offenbar nichts Besonderes. Bei den Fights hat die Mannschaft mit 15 Auseinandersetzungen ziemlich genau den Durchschnitt der Liga getroffen und auch die Zahl der Hits ist bei Weitem kein Ausreißer im positiven oder negativen Sinne. Allein bei den Minor Strafen setzt Tampa Bay den Topwert für diese Spielzeit mit den meisten 2-Minuten-Strafen. Doch auch diese Erkenntnis kann keinesfalls die 62 Siege aus 82 Duellen erklären und als Schlüssel zur Rekordsaison gelten, die übrigens in der ersten Play-off-Runde bereits ad acta gelegt werden musste. Am Ende kann also bilanziert werden: Das Spiel hat sich verändert und beim Blick auf Fights und Hits haben sich Prioritäten offenbar verschoben. Einen klar erkennbaren und eindeutig zu entschlüsselnden Einfluss auf Meisterschaften und Platzierungen hatte Härte damals wie heute allerdings nicht.

Mit dem Fight zur Aufholjagd – Momentum und Gamechanger

Nach den regulären 60 Minuten eines Eishockeyspiels gibt es für Spieler und Trainer taktisch einiges zu analysieren. Darüber hinaus aber oft noch vieles mehr für Kommentatoren, Journalisten und Fans am Stammtisch zu diskutieren: „Wer hat heute den Unterschied gemacht?“  oder auch gerne „Woran hat es denn gelegen?“

Nach Spiel zwei im Stanley Cup-Finale 2018 zwischen den frisch in der Liga spielenden Vegas Golden Knights und den Washington Capitals war wohl allen Beteiligten klar, was nicht nur für das Spiel, sondern womöglich auch für die gesamte Finalserie ausschlaggebend sein wird: „The Save“ von Capitals-Torwart Braden Holtby. Exakt zwei Minuten sind noch auf der Uhr, als Vegas-Stürmer Alex Tuch vor das weit offene Tor der Capitals fährt, den Puck bekommt und zum 3:3 Ausgleich ansetzt. Doch irgendwie schafft es Holtby mit einer irren Bewegung, noch gerade rechtzeitig seinen Schläger vor den Puck zu hechten und den beinahe sicheren Ausgleich zu verhindern. Selbst sein gestandener Kapitän Alex Ovechkin muss sich daraufhin erst mal die Handschuhe für einige Sekunden aufs Gesicht pressen, um die Situation zu verarbeiten.

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Mit der unfassbaren Parade in diesem Moment rettet der Capitals-Torwart seiner Mannschaft den Sieg und damit auch den 1:1 Ausgleich in der Finalserie. In den nächsten drei Spielen ist Washington dann nicht mehr aufzuhalten. Am Ende können sie den Stanley Cup-Gewinn mit 4:1 Siegen in der Serie perfekt machen. Und viele sind sich einig: Braden Holtby und der Moment seiner Parade haben den weiteren Lauf der Dinge entscheidend verändert. Diese Wirkung als Gamechanger, sprich den gesamten Spielverlauf entscheidend zu beeinflussen und zu verändern, wird aber nicht nur herausragenden Paraden oder wichtigen Toren nachgesagt, sondern auch einem intensiven Faustkampf im richtigen Moment.

Die Mannschaft noch mal wachzurütteln und ein Zeichen zu setzen, das scheint mit einem Faustkampf gelegentlich zu funktionieren. Wer sich der NHL schon einmal in Form von Videospielen hingegeben hat, der weiß, dass ein Fight dort die Energiereserven der eigenen Mannschaft noch einmal auffüllen kann. Ein sogenanntes Momentum entsteht und es wird vermeintlich einfacher, ein Tor zu schießen und im besten Falle sogar das Spiel zu drehen. Was in Videospielen jedoch ein einfacher und klarer Zusammenhang ist, stellt sich in der Realität deutlich komplexer dar. Das macht es schwer, die Idee des Momentums zu untersuchen und womöglich zu beweisen. Statistische Auswertungen können aber zumindest Anhaltspunkte geben und so zeigt der Balken des Momentums in der Grafik an: Wie oft konnte die zurückliegende Mannschaft in den folgenden zehn Minuten nach einem Fight, maximal aber bis zum Drittelende, ein Tor erzielen.

Für den Zeitraum 2005 bis 2019 deutet die Auswertung darauf hin, dass ein Fight für das zurückliegende Team am ehesten eine Art von Momentum zwischen Minute 20 und 30 kreiert hat. Fast jeder dritte Fight in diesem Zeitraum hatte zur Folge, dass die zurückliegende Mannschaft in den nächsten zehn Minuten traf. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch ernüchternd, dass es bei zwei von drei Fights nicht der Fall war. Der Wert für die zweite Drittelhälfte ist zwangsläufig geringer, weil hier nach einem Fight meistens weniger als 10 Minuten bis zum Drittelende bleiben, um ein Tor zu erzielen und ein mögliches Momentum zu nutzen.

Aber nicht nur kurzfristig soll der Fight der zurückliegenden Mannschaft einen Schub geben. Wenn schon das mögliche Momentum genutzt und ein Tor erzielt wurde, dann hat die Fight-Euphorie doch bitte auch das Zeug dazu, das gesamte Spiel zu drehen. Ein echter Gamechanger, möchte man meinen. Statistisch ist auch dieser Gedanke in der Grafik festgehalten. Ein Beispiel: Zwischen Spielminute 40 und 50 hatte fast jeder vierte Fight ein Tor für die zurückliegende Mannschaft zur Folge. Wenn das Tor gefallen ist, konnte in einem von zehn Spielen die zurückliegende Mannschaft am Ende auch noch gewinnen. Inwiefern solch ein positiver Spielverlauf direkt auf einen Fight zurückzuführen ist, das können die Daten nicht beantworten. Für alle Freunde des kausalen Zusammenhangs sind die Ergebnisse also mit äußerster Vorsicht zu genießen.

Dennoch ist der Anteil der Gamechanger bis zur zweiten Drittelpause (40. Minute) recht hoch. Bis dahin war mindestens jeder dritte Fight mit Momentum (anschließendes Tor) für das zurückliegende Team ein Startschuss, um am Ende doch noch zu gewinnen. Im Schlussdrittel konnte ein Fight anscheinend gelegentlich noch zu einem Tor antreiben, das führende Team damit in die Knie zu zwingen, wurde aber immer unwahrscheinlicher. Das mag zum Teil an der geringeren Spielzeit liegen, die bleibt, um das möglich zu machen. Es kann aber auch vermutet werden, dass im Schlussdrittel einige Auseinandersetzungen aus Frust gesucht werden.

Kämpfe auf dem Eis sind auch taktisch

Der Spielstand erscheint dann oft schon aussichtslos und irrelevant. Insgesamt bieten die Ergebnisse jedoch sichtlich großen Interpretationsspielraum, sodass es vermessen wäre, daraus allgemeingültige Aussagen und klare Zusammenhänge ableiten zu wollen. Und selbst wenn es einen direkten Zusammenhang zwischen Fight, Momentum und Gamechanger geben sollte, dann wäre die Bedeutung vor dem Hintergrund massiv abnehmender Fights äußerst gering. Dass Mannschaften also gezielt einen Fight provozieren, um Momentum zu generieren, das würde laut Statistik eher keinen Sinn ergeben. Tatsächlich gibt es jedoch eine Art inoffizielles Regelwerk, das vorgibt, wann ein Fight taktisch sinnvoll und wann unerwünscht ist.

Denn einen Kampf anzunehmen oder auch bewusst abzulehnen, hat mittlerweile echtes taktisches Kalkül, wie der wegen seiner harten Spielweise nicht unumstrittene Washington Captials-Stürmer Tom Wilson erklärt. So würde er sich bewusst nur gegnerische Spieler für einen Fight aussuchen, die eine taktisch wichtige Rolle im gegnerischen Team bekleiden. Denn durch die jeweiligen Strafminuten stehen die beiden Kampfhähne den Mannschaften für mindestens fünf Minuten nicht zur Verfügung. Was einen zeitweisen Vorteil bzw. Nachteil bedeutet. Es kann aber auch ein Nachteil für die eigene Mannschaft sein, einen Kampf nicht anzunehmen.

Wilson erklärt gegenüber dem Fernsehsender NBC, dass Spieler gezielt weiter seine Teamkollegen mit besonders harten Bodychecks attackieren würden, wenn er sich weiterhin nicht einem Kampf stellen würde. In diesem Fall muss er „seinen Mann stehen“ und für das Wohl seiner Teamkollegen geradestehen. Allerdings geht so einer Situation auch meist ein sehr umstrittener oder unfairer Bodycheck des Herausgeforderten voraus. Es ist also sehr komplex und für Eishockeylaien nur schwer nachvollziehbar, warum oder wann es Faustkämpfe im Eishockey gibt und warum diese mehr oder weniger erlaubt, auf jeden Fall aber toleriert und von Zuschauern frenetisch gefeiert werden.

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„Es gibt Millionen Wege, wie es [zu einem Faustkampf] kommen kann“, sagt Wilson in dem Interview mit NBC. „Es ist die meistgestellte Frage von allen. Wie beginnt ein Fight? Warum beginnt ein Fight?“ Obwohl der Faustkampf in der NHL unter Strafe steht, wenn auch nur unter einer fünfminütigen Zeitstrafe für beide Kämpfer, so ist der Ablauf im Regelbuch doch sehr genau beschrieben – unter der den Sachverhalt etwas verniedlichenden „Regel 56: Fisticuffs“,  auf Deutsch „Handgreiflichkeiten“. Darin ist festgelegt, dass eine solche Handgreiflichkeit nur im „Eins gegen Eins“, ohne Handschuhe und „unter einem gegenseitigen Einverständnis für den Kampf“ stattfinden darf. Speziell im nordamerikanischen Eishockey und in der NHL wird bei diesem „Einverständnis“ gern auch von „The Code“ gesprochen, also den ungeschriebenen Gesetzen. Diese gelten aber eigentlich auch weltweit unter Eishockeyspielern.

„Noch vor zehn Jahren wusste man schon vor dem Spielbeginn, wer heute gegeneinander kämpfen wird“, so Wilson. Die Zeiten, in denen Enforcer von Team A gegen Enforcer von Team B kämpft, seien längst vorbei. Die meisten Faustkämpfe drehen sich um den Schutz oder die Rache der eigenen Teamkollegen, quasi eine Antwort auf die Härte des Gegners. Der Code besagt aber auch, dass nicht jeder Spieler des Gegners für einen Faustkampf infrage kommt. Ein Ehrenkodex, wie ihn Tom Wilson beschreibt: „Vor dem Spiel kannst du dir den Kader des Gegners ansehen und ich weiß genau, wer von denen bereit wäre zu kämpfen, wenn etwas [bspw. ein vorangegangener unfairer Check] passieren würde. Und wahrscheinlich elf andere Spieler, die nicht bereit wären. Als Beispiel, wenn wir gegen Ottawa spielen und es passiert etwas, dann würde Mark Borowiecki sehr wahrscheinlich einen Kampf eingehen. Da besteht ein gegenseitiges Verständnis oder Bewusstsein. Ich würde nicht jemand anderen aus dem Team, wie zum Beispiel den jungen Brady Tkachuk, angreifen.“

„The Code“ eben. Eine stillschweigende Vereinbarung, die den Faustkampf und die Härte im Eishockey regelt, die für jeden Spieler so selbstverständlich wie unerklärlich ist und für Laien nur schwer nachvollziehbar. Faustkämpfe haben also nach wie vor ihren festen Platz im Eishockey und sind mehr als nur ein Akt sinnloser und roher Gewalt.

Die Stars von morgen – klein und schmächtig?

Zum Schluss richtet sich der Blick in die Zukunft. Wie wird die Härte im Eishockey weiterhin aussehen? Wird es irgendwann gar keine Faustkämpfe mehr auf dem Eis geben? Welche Regelungen werden noch kommen, um das Spiel sicherer und vielleicht offensiv attraktiver zu machen? Und wie wird der Eishockeyspieler der Zukunft aussehen?

“Fights werden niemals komplett aus dem Sport verschwinden”, glaubt der langjährige NHL-Funktionär und aktuelle Sportdirektor der Pittsburgh Penguins, Brian Burke. Es liegt in der Natur der Spieler, die eigenen Mannschaftskollegen im Falle einer harten Aktion zu verteidigen oder zu rächen. Das wird sich nicht ändern, solange Eishockey ein so schneller Vollkontaktsport ist, meinen auch viele andere Experten. Kollisionen wird es weiter geben, die Zahl der Checks bleibt auch statistisch eher konstant und wenn einer der 2000 Checks pro Saison zu hart oder verletzend wird, wird er immer einen Kampf zur Folge haben.

Und genau hier gibt es die nächsten Ansätze, um den Sport sicherer und möglicherweise weniger hart zu machen. Wie kann man diese Kollisionen natürlich entschärfen? Einige langjährige NHL-Funktionäre und Experten, darunter auch Brian Burke, sehen die verbesserte Schutzausrüstung der Spieler, die insgesamt noch mal fünf bis acht Kilogramm zusätzliches Gewicht mitbringt, als Problem. Klingt erst mal komisch, ergibt bei genauerer Betrachtung allerdings Sinn. Denn die Ellbogenschoner und Brust-/Schulterpanzer sind aus massivem Carbon und wirken zwar für den Träger als Schutz, für den Gegenüber eines Bodychecks kann diese Ausrüstung aber schnell zur Waffe oder Gefahr werden. Die Idee hinter der Reduzierung der Ausrüstung: Wenn ein Spieler ohne Brust- und Schulterprotektor einen überharten Bodycheck macht, wird es ihm selbst automatisch auch Schmerzen zufügen. Und es läge in der Natur, dass die Spieler diese Checks dann aus Selbstschutz auch nicht oder zumindest abgemildert fahren würden. Ist die Ausrüstung der Schutz vor oder die Ursache von Verletzungen? Eine interessante Debatte, die in Zukunft möglicherweise weitergeführt wird.

Wie bereits erwähnt, sind sowohl die Liga als auch die Spielergewerkschaft NHLPA daran interessiert, den Sport sicherer zu machen. Und offensiver. Und was für die Enforcer eine Art „Aussterben“ bedeutet, ist eine Chance für eine andere Gruppe von Spielern. Klein und schnell, statt groß und langsam – und das zeigt sich auch im Draft, der jährlichen Talente-Auswahl. Dort wählen die NHL-Mannschaften die besten Nachwuchsspieler aus, also die Spieler „von morgen“.

Wie funktioniert der NHL-Draft?

Im NHL-Draft können sich die Mannschaften, wie in allen anderen großen US-Sportligen auch, die Verpflichtungsrechte der neu in die Liga kommenden Talente sichern. Dabei werden die Tabellenplatzierungen der abgelaufenen Saison hergenommen, um die Reihenfolge der Draft-Picks festzulegen. Als Beispiel: Das schlechteste Team des Vorjahres kann sich das größte Talent des aktuellen Draftjahrgangs (normalerweise sind die Spieler um die 18 Jahre jung) sichern, das zweitschlechteste kann danach alle außer den bereits gezogenen Spieler auswählen und so weiter. Die ausgewählten Talente können danach für drei Jahre bei keinem anderen NHL-Team spielen, außer dem Team mit den aktuellen Draft-Rechten. Durch dieses Draft-System soll eine gewisse Chancengleichheit hergestellt werden. Dadurch können schlechte Mannschaften durch viele herausragende Talente in absehbarer Zukunft wieder erfolgreicher werden und aktuell erfolgreiche Mannschaften nicht noch besser werden. Die Schere zwischen Erfolg und Misserfolg soll so möglichst kleingehalten werden.

Hier kann man erkennen, welche Prioritäten die Manager der Teams für die nahe Zukunft ihres Teams setzen. Und diese deuten, wie schon beim Durchschnitt aller NHL-Spieler, ebenfalls auf kleiner, bzw. zumindest leichter, statt größer und schwerer hin.

Die besten Beispiele für diese Entwicklung sind Spieler wie Brayden Point (1,78m/ 83kg), Johnny Gaudreau (1,75m/ 75kg), Jean-Gabriel Pageau (1,78m/ 82 kg) oder Patrick Kane (1,78m/ 80kg), die trotz ihrer vergleichsweise kleinen Statur seit Jahren zu den offensivstärksten Spielern der Liga gehören. Point, Gaudreau und Pageau wurden wohl auch wegen ihrer Größe erst verhältnismäßig spät in ihrem jeweiligen Draftjahr ausgewählt. Patrick Kane dagegen galt 2007 als das größte Talent seiner Altersklasse und wurde an allererster Stelle von den Chicago Blackhawks ausgewählt. Seitdem bricht er Rekorde und dürfte mit ziemlicher Sicherheit nach seiner aktiven Karriere in die Hall of Fame aufgenommen werden. Er ist das Paradebeispiel für den Erfolg der „kleinen Spieler“ in der heutigen NHL. Früher waren kleine Spieler in der NHL noch eine Rarität, mit Martin St. Louis (1,73m/ 82kg) als absolute Ausnahme. Er konnte am Ende seiner Karriere über 1000 NHL-Spiele und über 1000 Scorerpunkte vorweisen, wurde aber als junger Spieler nicht gedraftet und gelangte über Umwege in die NHL.

Mittlerweile sind die NHL-Team-Manager und Coaches sensibilisiert und die Liga auch bereit für kleinere Spieler. Point und Gaudreau sind keine Ausnahmen mehr, auch Spieler wie der Deutsche Dominik Kahun (1,80m/ 79kg), der aktuell kleinste Spieler der Liga Rocco Grimaldi (1,68m/ 82kg) oder die angehenden Superstar-Verteidiger wie Quinn Hughes (1,78/ 82kg) oder Cale Makar (1,80m/ 85kg) haben sich in der besten Eishockeyliga der Welt etabliert. Bester Beweis dafür, dass sich Eishockey in der NHL in den vergangenen 15 Jahren verändert hat. Und die Entwicklung wird weitergehen.

Beitragsbild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Matt Slocum
Foto: clyde/flickr (lizenziert nach CC BY-NC 2.0).

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