Es ist wieder so weit: Meist orientierungslos strömen Abiturient*innen aus den Schulen in die Wirklichkeit. Dort geht es oft vom ersten Tag an ums Ich. Und das, obwohl es die perfekte Zeit fürs Wir wäre. Ein Kommentar.
Nach dem Abitur bugsieren viele übereifrige Eltern ihre Schützlinge schnellstmöglich in den sicheren Hafen des nächstbesten Studiums oder der vermeintlich handfesten Ausbildung. Andere – vom Schicksal mit dem nötigen Startkapital ausgestattet – tun es hingegen Millionen Akademiker*innenkindern vor ihnen gleich. Sie suchen nach dem Sinn des Lebens, indem sie in Down Under Früchte sammeln. Doch tatsächlich gibt es eine weitere sinnstiftende Beschäftigungsmöglichkeit: das Freiwillige Soziale Jahr, kurz FSJ. Über 50.000 junge Menschen engagieren sich laut dem Familienministerium schon jetzt ein Jahr lang in sozialen und ökologischen Bereichen.
Zivildienst 2.0
Elf Jahre ist es her, da war das Freiwillige Soziale Jahr für die männlichen Mitglieder unserer Gesellschaft alles andere als freiwillig. Der Zivildienst wurde angeordnet, wenn Mann nicht zur Bundeswehr konnte oder meist eher wollte. Diese Zeiten sind vorbei und die Wehrpflicht inklusive des Zivildienstes ist ausgesetzt. Ist das gut?
Die Wehrpflicht wird wohl keine Zukunft haben und das sollte sie auch nicht. Denn laut dem ZDF-Politbarometer kann sich nicht einmal die Hälfte der Deutschen vorstellen, ohne wirklichen Grund an der Waffe ausgebildet zu werden. Unter jungen Menschen dürfte diese Meinung sogar noch verbreiteter sein. Eine Neuauflage des Zivildienstes wiederum würde viele Vorteile für die Helfenden und die gesamte Gesellschaft mit sich bringen.
Angekommen in der Realität
Nicht ohne Grund blicken drei Viertel der Männer positiv auf ihren Zivildienst zurück. Das attestiert das Meinungsforschungsinstitut Splendid. Denn die persönliche Entwicklung, die ein solches Jahr mit sich bringt, prägt das ganze Leben. Daher sollten wir ein verpflichtendes Soziales Jahr für alle jungen Menschen einführen, wenn sie ihre Schulausbildung beendet haben. So würden sie nach ihrer langen Schulzeit mit Gleichaltrigen den Umgang mit verschiedenen Menschen kennenlernen, egal ob Senior*innen, Kindern oder Arbeitskolleg*innen. Und währenddessen lernen sie zudem, Verantwortung zu übernehmen.
Das Beste ist jedoch, dass diese persönlichen Errungenschaften unmittelbar anderen Menschen helfen. Besonders in sozialen Berufen, wie der Altenpflege oder Kinderbetreuung, sind die Mitarbeitenden oft überlastet und leiden unter dem permanenten Stress. Gründe dafür sind zu wenig Personal und fehlender Nachwuchs. Denn bereits jetzt fehlen laut dem Institut der deutschen Wirtschaft knapp 400.000 Vollzeitkräfte in der stationären und ambulanten Pflege. Dies führt zu einer miserablen Versorgung der Bedürftigen, die sich in den nächsten Jahren noch verschärfen dürfte. Hier könnten junge Menschen den Unterschied machen, auch wenn sie keine Fachkräfte sind.
Nachhaltiger Impact
Einige von ihnen entdecken womöglich sogar eine neue Seite an sich. Sie lernen Branchen kennen, die für sie vorher nicht infrage kamen. In jedem Fall bekommen die jungen Frauen und Männer die Orientierung, die in der Parallelwelt Schule überall fehlt. Mit einem deutlich breiteren Horizont ausgestattet, können sie sich dann ein Jahr später auf ihren eigenen Weg machen.
Doch nicht alle sind für so einen Job geeignet. Manche können ihre Stärken in anderen Bereichen deutlich besser einbringen. Daher sollte es die Möglichkeit geben, das verpflichtende Soziale Jahr auf andere Weise zu verbringen. Ein Beispiel wäre ein verpflichtendes ökologisches Jahr, bei dem die Helfenden den Natur- und Klimaschutz voranbringen. Hierbei können die Teilnehmenden von der Tierpflegeeinrichtung bis zum Naturschutzverband ein passendes und sinnstiftendes Projekt unterstützen.
Das große Ganze
Im jetzigen Modell des FSJ bekommen die Helfenden ein kleines Taschengeld und oft Zuschläge für Verpflegung und Unterkunft. Das mag für Menschen, die sich bereits jetzt für ein solches Jahr entscheiden, funktionieren. Das verpflichtende Jahr müsste jedoch anders vergütet werden. Hier sollte es eine Mischung aus Löhnen der Betriebe und staatlichen Zuschüssen geben. So, wie es auch schon im Zivildienst war.
Egal, wie es am Ende gemacht wird: Das Soziale Jahr ist ein essenzieller Schritt auf dem Weg zu einer solidarischeren Gesellschaft, die stärker zusammenhält und sich in die Lage des Gegenübers versetzen kann. Davon sind schon jetzt knapp siebzig Prozent der Deutschen im ZDF-Politbarometer überzeugt. Der Wille ist da, also lasst es uns umsetzen.
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