Nachhaltige Städte der Zukunft – Dachfarm in Oberhausens Innenstadt

Salat vom Hochhausdach nebenan, Erdbeerfarmen im sechsten Stock – sehen so die nachhaltigen Städte der Zukunft aus? Das Fraunhofer Institut hat mit dem Projekt Altmarktgarten die Utopie der urbanen Landwirtschaft wahr gemacht.

Gut 20 Meter trennen die Erdbeeren vom Boden. Sie wachsen unter einer gläsernen Dachkonstruktion auf Stahlträgern gen Himmel. Die Luft riecht nach Erde und Gartencenter. In dem mehr als 1000 Quadratmeter großen Gewächshaus über den Dächern Oberhausens ist es ruhig, vereinzelt mischt sich das Summen einer Hummel zwischen das Brummen der Anlagen. Hummeln und Pflanzen sind scheinbar die einzigen Lebewesen, die den sechsten Stock des Jobcenters in Oberhausen bevölkern. Und dann ist da noch Wolfgang Grüne. Der studierte Agrarwissenschaftler betreut mit seiner Firma das Reallabor in Oberhausens Stadtmitte. Hier werden neue Ansätze aus der Wissenschaft praktisch ausprobiert und vermittelt. Wie kann nachhaltige Nahrungsmittelversorgung in Zukunft gelingen?

Von der Rückseite des Gebäudes hat man Sicht auf die Stahlkonstruktionen des gebäudeintegrierten Gewächshauses. Foto: Carlotta Wagner

Es ist Montagmorgen. Wolfgang Grüne öffnet das Stahltor am Eingang des riesigen Neubaus am Marktplatz – sechs Etagen Klinker-Fassade, an deren Spitze eine gläserne Dachkonstruktion thront. Ihre Gipfel ragen wie Wellenkämme in den wolkenverhangenen Himmel. Das Gebäude in Oberhausen ist der Altmarktgarten, ein Projekt des Fraunhofer Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik, kurz UMSICHT. Das Forschungsinstitut plant nachhaltige Anbaumethoden für die Städte der Zukunft, so wie dieses gebäudeintegrierte Gewächshaus. Es besteht aus drei Klimakammern, in denen Salate, Kräuter und Erdbeeren angebaut werden. Das Besondere an dem Projekt? Die Ressourcen des Gebäudes werden für die Versorgung der Pflanzen genutzt – und andersherum. Und das mitten in der Stadt.

Die Führung durch das Gebäude beginnt mit einer Entschuldigung. „Der Außenaufzug ist aktuell leider wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb. Wir müssen durch das Jobcenter.” Ein paar Schritte durch das Erdgeschoss, eine Aufzugfahrt und zwei Türen später wird klar, dass sich in dem harmlos scheinenden Satz eine große Herausforderung urbaner Landwirtschaft versteckt. Grüne und seine Mitarbeiter müssen kiloweise Erde und nicht mehr benötigte Pflanzen über die Winterpause sechs Stockwerke nach unten transportieren. Ohne Aufzug schwierig.

Schwimmende Salate – was das Dach dem Acker voraus hat

Wolfgang Grüne öffnet die schwere Tür der ersten Klimakammer. Die Luft ist kühl, 13,5 Grad zeigt die zentrale Steuerungsanlage an. Von der Decke hängt Technik, auf den umstehenden Tischen und in Becken schwimmen Salate. Mithilfe der „Deep Floating Technique“ bekommen sie genau so viel Wasser, wie sie benötigen. Ohne, dass es, wie auf dem Acker, im Boden versickert. „Dieser Aspekt macht die Hydroponic, also die Züchtung in Wasser, rund 90 Prozent wassereffizienter, sagt die Fachliteratur”, so Grüne. Die Bewässerung ist ein geschlossener Kreislauf. Das Regenwasser vom Dach wird im Keller gesammelt. Rund 20 Kubikmeter Wasser sind dort aktuell gespeichert, mit denen die Pflanzen jederzeit bewässert werden können. Das Wasser wird mit einer Nährstofflösung gemischt, erklärt Grüne.

Einige der Pflanzen aus den Klimakammern befinden sich bereits in der Winterpause. Foto: Carlotta Wagner

Das macht den Anbau sehr effizient, findet auch Professor Urs Niggli. Niggli, Spitzname Bio-Papst, gilt als einer der weltweit führenden Agrarwissenschaftler. Er war dreißig Jahre lang Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau. Außerdem bereitete er – als Mitglied einer Arbeitsgruppe des UNO-Generalsekretärs – den UN-Gipfel zur Ernährung der Weltbevölkerung vor, der 2021 in New York stattfand. Er betont, dass die gezielte Verwendung von Substrat und Nährlösung einer der großen Vorteile urbaner Landwirtschaft sei.

In Oberhausen wachsen Salate in Reihen auf Tischen. Sie wachsen sehr schnell, können alle fünf Wochen geerntet werden und sind so finanziell profitabel. Grüne zeigt auf die hinterste Ecke der Kammer: „Wir hatten versuchsweise Kohlrabi angebaut, aber die Kulturdauer ist zu lang.” Er braucht fast doppelt so lange wie Salat, bis er geerntet werden kann, wird aber im Schnitt günstiger verkauft. Grünes Fazit: „Der rentiert sich noch nicht.” Die Produkte werden bisher an lokale Gastronomie und Cateringunternehmen vertrieben. Auch ein erster Supermarkt hat angefragt.

Die Statik ist eine Herausforderung, sagt der Bio-Papst

Grüne bleibt stehen und zeigt auf eine Art Schrankreihe mit Dutzenden Knöpfen. Hier befindet sich die zentrale Steuerung, die auch die Temperatur reguliert. Das Gebäude hat keine Eigenheizung, sondern ist an das Fernwärmenetz der Müllverbrennungsanlage angeschlossen. Überschüssige Wärme des Gewächshauses kann in den Büros darunter genutzt werden. In Zukunft soll auch das CO2 der Bürogebäude abgefiltert und zur Begasung der Pflanzen genutzt werden.

Die ganze Technik bringe aber auch Schwierigkeiten für den Bau solcher urbanen Dachfarmen mit sich, so Grüne. In Deutschland gibt es viele freie und bebaubare Dachflächen. Laut Schätzungen des Fraunhofer Instituts haben diese eine Gesamtfläche von rund 360.000 Quadratmetern. Doch die Farmen sind aufgrund ihrer aufwendigen Technik sehr schwer. Nicht alle bestehenden Dachflächen sind geeignet, eine derartige Bebauung zu tragen. Niggli stimmt zu, die Statik sei eine besondere Herausforderung.

Schmecken die Erdbeeren wirklich besser?

Die Erdbeeren werden auf der Dachfarm nicht in die Breite, sondern in die Höhe angebaut. Foto: Carlotta Wagner

Beim Eintreten in die nächste Kammer schlagen Grüne Wärme und ein sonores Summen entgegen. Vereinzelte Hummeln schwirren durch die Luft und lassen sich auf Blüten zum Bestäuben nieder. Aus den regal-ähnlichen Beeten recken Erdbeeren ihre kleinen roten Köpfe. Aufgeregtes Summen. Eine der Hummeln hat sich im Netz einer riesigen Spinne verfangen. Die Spinne ist ein natürlicher Nützling und wird zur Schädlingsbekämpfung von beispielsweise Läusen eingesetzt. „Zu Beginn des Projektes dachten wir, dass uns Probleme wie Schädlinge hier auf der Stadtfarm vielleicht erspart bleiben.” Schließlich befindet sich die Farm mitten in der Stadt, gut zwanzig Meter vom Boden entfernt, eine Höhe, in die sich eher wenige Insekten verirren. Aber diese würden wohl von Besucher*innen bei Führungen mit hereingetragen oder doch über das geöffnete Fenster eindringen.

Laut Agrarökonom Urs Niggli ist ein wirklicher Vorteil der Stadtfarmen der Geschmack. Die Produkte, die mitten in der Stadt wachsen, müssten nicht mehr nur auf Haltbarkeit gezüchtet werden. So könnten auch wieder Sorten angebaut werden, die nicht für lange Transportwege ausgelegt waren und deshalb vom Markt verschwanden. Das sorgt für mehr Geschmacksvarianz. Außerdem erreichen die Produkte ihre Kundschaft frisch. Und sie könnten gezielt mit Nährstoffen versorgt werden. Schmecken die Erdbeeren also wirklich besser? „Erdbeere ist Erdbeere” sagt Grüne und lacht. „Der größte Vorteil unserer Produkte ist die unmittelbare Nähe zu den Konsumenten.”

Die Führung endet in der Kammer für Kräuter. Kleine Töpfe mit Basilikum, Petersilie und Salaten bevölkern die Ebbe- und Flut-Tische, die regelmäßig zur Versorgung unter Wasser gesetzt werden. Direkt hinter den grünen Blättern, nur durch eine Glasscheibe getrennt, reckt sich Oberhausens Kirchturm majestätisch in den Himmel. Würde der Basilikum Miete zahlen, dann spräche man wohl von einer Top-Lage.
Können sich die Pflanzen das Leben in der Stadt auf Dauer überhaupt leisten? Ist urbane Landwirtschaft finanzierbar?

Die Kräuter wachsen auf Ebbe- und Flut-Tischen. Foto: Carlotta Wagner

„Wir haben gar keine andere Wahl”

Wirtschaftlich müsse bedacht werden, dass die Fläche in der Stadt sehr teuer ist, so Grüne. Über die Rentabilität des gesamten Projektes könne man erst nach ein paar Jahren eine Aussage treffen. Vor allem, da das Projekt abhängig ist von der Gastronomie, die in Corona-Zeiten nicht unter Normalbedingungen lief. „Ich denke aber schon, dass sich die Kosten decken können”, sagt er. Die Vermarktung müsse funktionieren. Bisher sei das Gewächshaus nicht hauptsächlich auf Profit ausgelegt, sondern vor allem zu Forschungs- und Anschauungszwecken konzipiert.

Agrarexperte Niggli ist sich da sicherer. Natürlich sei das Bauland sehr teuer. „Aber 2050 leben 75 Prozent der Menschheit in Städten. Wir haben gar keine andere Wahl, als die Versorgung zu den Menschen in die Städte zu bringen.” Auch politisch sei es sinnvoll, von der Stadtplanung Flächen reservieren zu lassen. Angesichts der globalen Erwärmung sei Landwirtschaft in der Stadt besonders gut, da die Grünflächen für Kühlung sorgen. Das habe erstmal nichts mit finanzieller Wirtschaftlichkeit zu tun.

20 Millionen Euro für Forschung

Wer auf dem Oberhausener Marktplatz steht, hat freie Sicht auf das Jobcenter und den Altmarktgarten. Foto: Carlotta Wagner

Von außen betrachtet, steht die Farm ein bisschen unwirklich und gleichzeitig selbstbewusst in der Innenstadt. Werden die Dächer der Innenstädte unserer Zukunft wirklich so aussehen?

Urs Niggli ist überzeugt, dass die urbane Landwirtschaft in Zukunft mehr wird. Schon jetzt investiert das Forschungsministerium des Bundes über 20 Millionen Euro in ähnliche Projekte. „Wir haben langfristig zu wenig Land. Fläche ist die knappste Ressource. Aber in der Höhe haben wir beliebig viel Platz.” Mega-Cities wie Singapur und New York würden bereits auf urbane Landwirtschaft setzen. Auch in den Niederlanden gebe es schon mehrstöckige Türme. „Ich denke, dass die großen Städte 2050 fünf bis zehn Prozent ihres Nahrungsbedarfs mit urbaner Landwirtschaft selbst abdecken können“, so Niggli. Dabei müsse es nicht immer ein Dachgewächshaus sein. Lebensmittel wie Algen könne man sehr gut an Fassaden züchten.

„Macht die Dächer grün!”

Auch Grüne vermutet einen Zuwachs: „Ich könnte mir vorstellen, dass es 2050 in jeder größeren deutschen Stadt eine dieser urbanen Dachfarmen gibt.“ Was für die Experten eindeutig ist: die klassische Landwirtschaft bleibt. Niggli spricht bei der urbanen Landwirtschaft von einer sinnvollen Ergänzung, für Grüne ist sie ein Teil der Landwirtschaft. In einem weiteren Punkt sind sie sich einig. Alle Flächen, die kultivierbar sind, sollten kultiviert werden. Oder anders: Macht die Dächer grün! Das könne schon mit einem Hochbeet auf dem eigenen Balkon passieren, so Niggli.

 

Beitragsbild: Carlotta Wagner

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