Deutscher Ausfall-Meister BVB – Wie beeinflussen die hohen Verletzungszahlen den sportlichen Erfolg Borussia Dortmunds?

Dortmunder Fußballspieler stehen um ihren Mannschaftskameraden Mateu Morey (verdeckt) herum, der nach einer Verletzung während des DFB-Pokal-Halbfinalspiels zwischen Borussia Dortmund und Holstein Kiel in Dortmund, Deutschland, am 01. Mai 2021 medizinisch versorgt wird.
BVB-Verteidiger Morey wird im DFB-Pokal-Halbfinalspiel gegen Holstein Kiel medizinisch versorgt (Beitragsbild: picture alliance / EPA-EFE / FRIEDEMANN VOGEL / POOL)

Ein hoch-talentierter Kader, aber nur ein Titel. Die letzten fünf Saisons verliefen für Borussia Dortmund enttäuschend. Die Gründe: Übermächtige Bayern und falsche Trainer. Aber auch Verletzungen – das sagen zumindest Fans und Verantwortliche. Aber stimmt das wirklich?

Ein zu großer Schritt. Ein Schrei. Tränen.

Jeder, der das Pokalspiel zwischen Borussia Dortmund und Holstein Kiel gesehen hat, wird sich an jene Szene erinnern. Für BVB-Spieler Mateu Morey wurde am 1. Mai 2021 das Horrorszenario eines jeden Profisportlers traurige Realität. Außenband, Kapsel und das vordere Kreuzband kaputt, über ein Jahr Pause.

Der neue BVB-Trainer Edin Terzic hat die dramatische Szene aus unmittelbarer Nähe erlebt. Er trainierte die Dortmunder damals schon einmal interimsweise, hatte selbst Tränen in den Augen.

Und wer weiß, vielleicht hat diese schlimme Verletzung als prägendes Erlebnis dazu beigetragen, dass Trainer Terzic und der gesamte BVB die Verletzungsproblematik zu Beginn der aktuellen Saison so konsequent wie selten angegangen sind. So musste der langjährige Chef-Physiotherapeut Thomas Zetzmann den Verein verlassen, die Gründe sind umstritten.

Zudem hat sich allen voran der neue Sportdirektor Sebastian Kehl laut eigener Aussage gegenüber der SportBild intensiv damit befasst: „Die große Zahl von Verletzungen hat uns in diesem Jahr natürlich sehr beschäftigt. Im Wissen, dass jeder Fall individuell zu betrachten ist, versuchen wir dennoch, Muster zu erkennen, befinden uns fachübergreifend inmitten der Analyse und werden anschließend Ableitungen treffen.“

Die BVB-Fans konnten also optimistisch in die neue Saison gehen, galten die Verletzungssorgen doch als einer der Gründe, warum Borussia Dortmund in der letzten Spielzeit keinen Titel gewinnen konnte – mal wieder.

Bekanntes BVB-Narrativ: Verletzungen als Grund für Misserfolg

Misserfolg wegen einer vermeintlichen Verletzungsmisere – diese Begründung ist nicht neu in Dortmund. Bereits gegen Ende der erfolgreichen Jahre unter Jürgen Klopp wurde die hohe Zahl an (Muskel-)Verletzungen kritisch gesehen. Damals hat man sie vor allem mit der hohen Intensität des Spielsystems begründet.

Für Fans und Verantwortliche dienen die vermeintlich hohen Verletzungszahlen seitdem als willkommene Ausrede, wenn es sportlich nicht läuft. So begründetet der damalige Sportdirektor Michael Zorc bei SPORT1 damit den teils biederen Fußball und das Ausscheiden in der Champions-League-Gruppenphase in der abgelaufenen Saison: „Was glauben Sie, was mit dem FC Bayern passiert, wenn dort 40 Tage lang Lewandowski fehlt? Wie viele Spieler soll unser Kader denn haben, damit wir diese Vielzahl von Verletzungen auf der Bank ausgleichen können? 35?“

Doch wie dramatisch war die Verletzungssituation in den letzten Jahren tatsächlich, wie schneidet der BVB im Vergleich zu den Ligakonkurrenten ab?

Ein Blick in die Daten zeigt: Borussia Dortmund hat definitiv ein Problem mit Verletzungen. Alle Spieler zusammen haben in den vergangenen fünf Jahren fast 400 davon gesammelt und dadurch fast 10.000 Tage verpasst. Sie stellen damit die Höchstwerte im Ligavergleich.

Aber: Der BVB hat einen entscheidenden Nachteil gegenüber vielen anderen Vereinen. Er hat durchschnittlich einen eher großen Kader und damit mehr Spieler, die sich potenziell verletzen können. Um das auszugleichen, hilft es die absoluten Zahlen in Relation zu der Kadergröße des Teams zu setzen:

Das Problem ist nur: An der negativen Tendenz ändern auch die relativen Zahlen nichts. Borussia Dortmund schneidet nach wie vor am schlechtesten ab. Im Schnitt fällt jeder BVB-Spieler pro Saison über zweimal aus und verpasst dadurch über 50 Tage der ungefähr 300-tägigen Saison.

Viele Gründe und eindeutige Zahlen: Der BVB hat ein Verletzungsproblem

Gründe für die Verletzungsmisere sind schwer einzugrenzen. Zu viele Faktoren spielen im modernen Fußball eine Rolle. Durch die regelmäßige Teilnahme am internationalen Geschäft müssen die BVB-Profis pro Saison deutlich mehr Spiele absolvieren als ein Großteil der Konkurrenz. Durch die hohe Zahl an Nationalspielern im Kader wird dieses Problem verstärkt. Durch den eher jungen Kader gibt es außerdem einige Spieler, deren Körper die hohen Belastungen noch nicht gewohnt ist.

Die Daten zeigen, dass einige Vereine mit ähnlichen Voraussetzungen auch mit vielen Verletzungen und/oder langen Verletzungspausen zu kämpfen haben. Sei es der VFB Stuttgart, dessen extrem junger Kader die zweitmeisten Ausfalltage sammelt. Oder der FC Bayern München, bei dem die Spieler noch mehr Partien absolvieren müssen und auch fast so häufig verletzt sind, wie die der Dortmunder (allerdings bei deutlich niedrigeren Ausfalltagen).

Trotzdem, die BVB-Zahlen haben nochmal eine eigene Qualität, auch weil sie fast jedes Jahr hoch sind.

Die Zahlen schwanken zwar, der BVB lag in den letzten 5 Jahren aber nur einmal unter dem Durchschnitt der Liga – und auch da nur minimal. In anderen Jahren sprengt Borussia Dortmund den Durchschnitt teils deutlich. Wie 20/21: Dortmunds Spieler fielen im Schnitt knapp 41 Tage länger aus als die Spieler der anderen Teams.

Einfach nur Pech oder ein strukturelles Problem?

Neben der Kaderstruktur und den vielen Saison-Spielen, haben auch Einzelschicksale negativen Einfluss. So hat der BVB einige sehr verletzungsanfällige Spieler im Kader.

Das beste Beispiel dafür ist wohl Marco Reus. Ganze 23 Mal war Dortmunds Kapitän in den letzten fünf Saisons verletzt und hat dadurch 624 Tage verpasst.

Und auch Langzeitverletzte treiben die Zahlen nach oben. Marcel Schmelzer, der mittlerweile seine Karriere beendet hat, verpasste mit einer einzigen Verletzung 715 Tage.

Trotzdem: Schiebt man die hohen Zahlen allein auf anfällige Spieler und unglückliche Verletzungen, macht man es sich zu leicht.

Denn die Verletzungszahlen einzelner Spieler erreichen in der Zeit beim BVB fast immer ihren Karriere-Höchstwert.

Von den 60 Neuzugängen der vergangenen fünf Jahre hat nur ein Einziger mehr Verletzungen bei seinen alten Vereinen gehabt: Marin Pongracic. Und der verbrachte nur eine Saison beim BVB und durfte kaum spielen. Außerhalb des Trainings gab es für ihn also nur wenige Gelegenheiten sich zu verletzen.

Auch die meisten Abgänge haben bei ihren neuen Vereinen weniger Verletzungen als beim BVB. Die wenigen Ausnahmen haben z.T. weniger Ausfalltage – der größeren Zahl an Verletzungen zum Trotz.

Das alles spricht dafür, dass die vielen Verletzungen mehr als nur Pech sind. Ein beliebter Sündenbock ist in solchen Fällen die medizinische Abteilung. Aber auch das führt zu kurz. Denn im modernen Fußball sind dafür schlicht zu viele Menschen beteiligt (Fitnesstrainer, Reha-Trainer, Physiotherapeuten, Mannschaftsärzte und die Spieler selbst…).

Einen konkreten „Schuldigen“ für die Dortmunder Verletzungsmisere kann man also nicht finden – vor allem nicht von außen. Was aber feststeht: Die Daten geben den Dortmunder- Fans und Verantwortliche Recht. Tatsächlich hat keiner der Liga-Konkurrenten so mit Verletzungen zu kämpfen wie der BVB.

Ausrede oder valides Argument: Wie groß ist der Einfluss von Verletzungen wirklich?

Was aber nicht in die gängige Erzählung passt: Ausgerechnet in der Saison 20/21, in der die Borussia die zweitmeisten Ausfalltage der letzten fünf Jahre gesammelt hat, gewinnt die Mannschaft den DFB-Pokal. Wie passt das zusammen?

Eine mögliche Erklärung ergibt sich durch die Verteilung der Verletzungen innerhalb der Saison. Denn im Titeljahr sind beim BVB ab dem Viertelfinale vergleichsweise wenige Spieler verletzt (2 – 4 – 2). Ein echter Vorteil in den Duellen mit anderen Top-Teams.

In den ersten drei Runden waren es zwar mehr Verletzte, gegen die unterklassigen Gegner – MSV Duisburg, Eintracht Braunschweig, SC Paderborn – schien das aber nicht ins Gewicht zu fallen.

Die Pokal-Ergebnisse der anderen Jahre zeigen aber, dass die richtige Verteilung der Verletzungen keine Garantie für Erfolg ist. In den Spielzeiten 18/19, 19/20 und 21/22 hatte der BVB im Achtelfinale weniger Verletzungen als im Titeljahr und ist trotzdem immer ausgeschieden.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob Verletzungen tatsächlich ein plausibles Argument für schwache sportliche Leistungen sind – oder doch nur eine billige Ausrede.

Definiert man den Erfolg nur durch die Punkteausbeute, scheint durchaus ein gewisser Zusammenhang zwischen Erfolg und Verletzungen zu bestehen. In den Saisons 19/20 und 18/19 hatte der BVB pro Spieltag am wenigsten verletzte Spieler und gleichzeitig die höchsten Punkteschnitte.

Allerdings gibt es auch einen Ausreißer: Letzte Saison (21/22) holte Borussia Dortmund mehr Punkte als in den Jahren 17/18 und 20/21, trotz höherer Verletzungszahlen pro Spieltag.

Um den potenziellen Einfluss von Verletzungen besser eingrenzen zu können, hilft ein Blick auf die Leistung an einzelnen Spieltagen:

Was dabei auffällt: Bei besonders niedriger oder besonders hoher Verletzungszahl finden sich extreme Siegquoten. Und zwar sehr hohe Siegquoten bei vielen Verletzten und niedrige Siegquoten bei wenigen Verletzten.

Das wirkt erstmal überraschend, ist aber wohl eher Zufall als Trend. Denn die Spieltage mit sehr hohen oder niedrigen Verletzungszahlen sind selten.

So gibt es in allen fünf Saisons z. B. nur ein einziges Spiel, an dem der BVB genau einen verletzten Spieler hatte. Und das wurde trotzdem verloren. Das Ergebnis eines einzigen Spiels reicht aber natürlich nicht für eine fundierte Aussage über den Einfluss der Verletzungen.

Wenn man die „Extremwerte“ ausklammert, erkennt man aber auch keinen eindeutigen Trend. In manchen Jahren scheint es zwar so, als würden weniger Verletzte tatsächlich mehr Siege bedeuten (z. B. 19/20). In anderen Jahren ist es aber genau andersherum oder wirkt gar komplett zufällig.

Und, Borussia Dortmund gewinnt trotz vieler Verletzungen einen Großteil seiner Spiele. Nur die Verletzungszahl allein sorgt also nicht für gute oder schlechte Ergebnisse.

Das unterstreichen auch die Zahlen: In den Spielen mit überdurchschnittlich vielen Verletzen holt der BVB sogar 0,22 Punkte mehr als in den anderen Spielen.Da der Fußball allerdings eine Sportart ist, bei der durch die wenigen Tore pro Spiel viel vom Zufall abhängt, sind auch die erwartbaren Werte für die Bewertung relevant.

Dort zeigt sich Gegenteil: Die Punkte, die aufgrund der Chancen und des Spielverlaufs erwartbar gewesen wären, sind bei den Spielen mit vielen Verletzten niedriger.

Gleiches gilt in der Defensive, der BVB hat trotz vieler Verletzter auf den Defensivpositionen weniger Tore kassiert als normal. Laut den statistisch erwartbaren Gegentoren hätte die Mannschaft aber minimal mehr kassieren müssen.

Die BVB-Offensive kann Verletzungen offensichtlich noch besser kompensieren. Sowohl die erwarteten als auch die tatsächlich erzielten Werte liegen bei Spielen mit überdurchschnittlich vielen Verletzungen über den Werten bei normalen Verletzungszahlen. Das spricht auch für eine gute Qualität in der Breite des Kaders.

Fazit: Nur bedingter Einfluss von Verletzungszahl auf sportliche Leistung

Insgesamt lässt sich also kein eindeutiger Einfluss von Verletzungen auf die sportliche Leistung nachweisen.

Das überrascht insofern nicht, weil eben auch viele andere Faktoren den Erfolg einer Mannschaft beeinflussen. Sei es die generelle Form des Teams oder die Qualität des Gegners.

Spielt der BVB gegen einen Abstiegskandidaten ist der Qualitätsunterschied so groß, dass er auch trotz vieler Verletzungen mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnt. Gegen den FC Bayern München wird es auch in Topbesetzung knapp.

Außerdem ist die reine Anzahl an Ausfällen nicht unbedingt entscheidend dafür, wie groß der Einfluss auf die Mannschaft ist. Denn im Zweifel wiegt die Verletzung eines Schlüsselspielers schwerer als Ausfälle mehrerer Rotationsspieler.

Ein gutes Beispiel dafür ist Erling Haaland: In der letzten Saison (21/22) hat Dortmund mit ihm 2,48 Tore pro Spiel geschossen, ohne ihn waren es nur 2,36.

Dass Borussia Dortmund in den letzten fünf Jahren hauptsächlich wegen der hohen Anzahl an Verletzungen und der vielen Ausfalltage nur einen einzigen Titel holen konnte, kann also nicht eindeutig bestätigt werden.

Und allen ausführlichen Analysen der Verantwortlichen zum Trotz, scheint die Verletzungsmisere Borussia Dortmunds weiterzugehen: In der aktuellen Saison haben sich schon wieder 45 Verletzungen angesammelt. Das Meisterschaftsrennen ist trotzdem so spannend wie lange nicht.

Wer, wann, wo?

Wer noch immer nicht genug von Verletzungen hat, kann sich hier selbständig durch die Verletzungshistorie des BVB klicken.

Beitragsbild: picture alliance / EPA-EFE / FRIEDEMANN VOGEL / POOL

 

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