Kommentar: Warum es Impfneid geben muss

Der Bundestag hat neuen Lockerungen für Geimpfte und Genesene zugestimmt. Passiert die Verordnung am Freitag auch den Bundesrat, fallen Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperre für diese Personengruppen weg. Eine Entscheidung, die die brisante Debatte um den Neologismus “Impfneid” erneut entfachen dürfte. Impfneid wird dabei teilweise verteufelt. Zu Unrecht! Ein Kommentar. 

Darf es Impfneid geben? Diese Frage beschäftigt uns nun schon seit Wochen. Impfneid sei unsolidarisch und gefährlich sagen die einen, Impfneid sei richtig und die Priorisierung müsse aufgehoben werden, sagen die anderen.

Besonders zielführend ist die Diskussion indes nicht, denn: Impfneid existiert. Laut einer repräsentativen Forsa-Studie im Auftrag des stern beneiden 40 Prozent der Ungeimpften die Geimpften. Und das ist verständlich.

Einsamkeit statt neue Kontakte

Deutlich wird das beispielsweise bei der jungen Generation. Die sitzt nämlich in einer der prägendsten Phasen des Lebens seit mehr als einem Jahr alleine zu Hause. Ohne soziale Kontakte. Bei den Eltern statt in der ersten eigenen Wohnung. Einsamkeit und Langeweile statt Partys und neue Leute. Kollektive Einzelhaft statt Freiheitsgefühl. Das Ergebnis ist mittlerweile bekannt: Die Zahlen an psychischen Problemen sind während der Corona-Pandemie angestiegen – besonders bei jungen Menschen.

Dazu kommt der ständig schwelende Generationskonflikt, auf den die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger wirkt. Denn junge Menschen halten sich auch aus Solidarität gegenüber den älteren, besonders gefährdeten Generationen an all die Einschränkungen. Und wurden im Laufe der Pandemie genau von diesen Generationen immer wieder unter Generalverdacht gestellt: “Die jungen Leute treiben die Pandemie voran, weil sie unbedingt feiern müssen”, hat die Altersgruppe nicht nur einmal zu hören bekommen. Zu ertragen, dass genau diese ältere Generationen jetzt wieder deutlich mehr dürfen, während man selbst auch sehnsüchtig auf die Impfung wartet, ist nicht leicht. Das hier im ersten Moment Neid entstehen kann, ist nur menschlich.

Da hilft auch nicht, dass die Lockerungen auch für Genesene gelten. Im Gegenteil, denn überspitzt gesagt ist es ja dadurch so: Hätte ich mich nicht an die Beschränkungen gehalten und mich mit Corona infiziert, dann hätte ich jetzt klare Vorteile.

Priorisierung und Lockerungen sind richtig

Klar ist, dass man sich selbstverständlich auch infizieren kann, wenn man sich gewissenhaft an alle Regeln hält. Auch die gesundheitlichen Folgen bei jüngeren Personen sind nicht zu unterschätzen. Ärzte beobachten, dass immer mehr junge Patienten an Long-Covid leiden. Laut einer britischen Studie entwickeln demnach sieben Prozent der Jugendlichen Long-Covid, bei den Erwachsenen beträgt das Risiko 14 Prozent.

Das veranschaulicht aber noch mal die Relevanz, die eine Impfung auch für junge Leute hat. Wie in der COSMO-Studie der Universität Erfurt: Für die Mehrheit der rund 1.000 Befragten sind die Lockerungen kein Anreiz für eine Impfung. Die Impfbereitschaft liegt trotzdem bei 73 Prozent, wie eine Befragung des Robert-Koch-Instituts belegt. Das zeigt: Die Krankheit wird ernst genommen.

“Dann entsteht dieses Gefühl, diese Mischung aus Angst, Wut und Traurigkeit, die wir Neid nennen.” – Psychoanalytiker Eckehard Pioch

Es soll nicht so klingen, als sei die Priorisierung falsch. Natürlich müssen Risikogruppen besonders schnell geschützt werden, egal ob altersbedingt, krankheitsbedingt oder berufsbedingt. Auch die Lockerungen für Geimpfte und Genesene sind absolut nachvollziehbar. Denn nach aktuellem wissenschaftlichen Stand haben beide genannten Gruppen nicht nur einen guten Schutz vor einer Infektion, sondern können zumeist auch keine anderen Personen anstecken. Deshalb sind massive Einschränkungen der Grundrechte nicht mehr tragbar.

Willkür in der Corona-Politik

Das wirkt intuitiv aber einfach unfair. Vor allem, wenn man zusätzlich noch die Vielzahl an Impfpässen von Gleichaltrigen auf Social Media sieht. Es entsteht ein Gefühl der Ohnmacht und der Willkürlichkeit. Man vergleicht sich automatisch mit anderen: “Warum wird der schon geimpft, nur weil er in einem anderen Bundesland lebt?” Durch dieses ständige Vergleichen entsteht Neid. Psychoanalytiker Eckehard Pioch erklärt das gegenüber dem Berliner Inforadio so: “Ich brauche etwas dringend und habe es nicht. Ich sehe aber jemanden anderen, der es bereits hat. Dann entsteht dieses Gefühl, diese Mischung aus Angst, Wut und Traurigkeit, die wir Neid nennen.”

Ein bisschen Hoffnung macht zumindest die nicht Aufhebung der Priorisierung vom AstraZeneca-Vakzin, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Aussicht gestellt hat. Ist damit der Impfneid vorbei? Auf keinen Fall. Einerseits dauert es mit Sicherheit länger als ein bis zwei Wochen, alle zu impfen, die wollen.

Andererseits verdeutlicht diese Entscheidung die Willkürlichkeit in der gesamten Corona-Politik. Warum wird ausgerechnet bei dem Impfstoff die Priorisierung aufgehoben, der in Deutschland nur für Über-60-Jährige empfohlen wird? Ach ja, weil durch das ständige Hin-und-Her in der Impfkampagne das Vertrauen in den AstraZeneca-Impfstoff derart gesunken ist, dass viele die Impfung damit ablehnen.

Ein Lösungsvorschlag

Da uns das Thema Impfneid also noch einige Zeit beschäftigen wird, stellt sich nicht die Frage, ob es ihn geben darf, sondern vielmehr wie man damit richtig umgeht. Hier hilft wie so oft: Positiv denken. Und wenn der Impfneid doch mal hochkommt, zu reflektieren: Die Reihenfolge richtet sich nach Bedürftigkeit. Dadurch wird der Neid nicht destruktiv oder schlägt in Missgunst um. Die Pandemie befindet sich in ihren Endzügen. Endlich. Die letzten Monate schaffen wir noch – gemeinsam. Hoffentlich!

Beitragsbild: CDC via Unsplash

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