Die Inflation spaltet die Wirtschaftswissenschaften

Der eine ist sicher, dass uns das Gelddrucken in die Inflation getrieben hat, der andere sagt, das Vorgehen war richtig und ist nicht der Grund für die hohen Preise. Prof. Dr. Andre Schmidt und Dr. Dirk Ehnts diskutieren über ihre Sicht der Wirtschaft.

In der Volkswirtschaftslehre gibt es verschiedene Denkschulen, auch Theorien genannt. Es gibt die Theorien des Mainstreams, die an den Universitäten gelehrt werden. Ökonom*innen sprechen von der Neo-Klassik und auch vom Standard-Keynesianismus. Die Neo-Klassik geht von einem vollkommenen Markt mit starkem Wettbewerb aus. Angebot und Nachfrage bestimmen Preise und Löhne. Wenn Inflation auftritt, muss eine höhere Arbeitslosigkeit folgen, um sie zu stoppen. Das Individuum ist vollkommen rational und will nur seinen Nutzen maximieren, man spricht vom „homo oeconomicus“.

Der Standard-Keynesianismus geht davon aus, dass der Staat antizyklisch handeln sollte. Wenn die Wirtschaft brummt, sollte er sich zurückhalten und sparen. Geht es der Wirtschaft schlecht, soll der Staat investieren, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

In diesem Streitgespräch diskutiert der Ökonom Prof. Dr. André Schmidt. Er hat an der Universität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Makroökonomik und Internationale Wirtschaft inne. Sein Diskussionspartner Dr. Dirk Ehnts lehrt an Summer Schools in Maastricht und Posen. Außerdem ist er Vorstandssprecher der Samuel-Pufendorf-Gesellschaft für politische Ökonomie e.V.

Schmidt kann den Mainstream-Denkschulen zugeordnet werden. Er sagt von sich selbst, dass er undogmatisch ist und keine Denkschule von vornherein ablehnt. Allerdings hat er mehr Vertrauen in die Märkte als in die Politik. Er hält Politikversagen für wahrscheinlicher als Marktversagen. Dirk Ehnts hingegen ist ein Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT), die im Wesentlichen besagt, dass ein Staat theoretisch unbegrenzt sein eigenes Geld schöpfen kann. Es ist eine heterodoxe Theorie. Sie ist nicht im Mainstream verankert. Ehnts sagt auch, dass er nicht dogmatisch ist, weil die MMT empirischen Überprüfungen standhält. Er möchte, dass die heterodoxe Theorie irgendwann zum Mainstream wird.

Herr Schmidt und Herr Ehnts, schön, dass Sie Zeit gefunden haben. Herr Ehnts, Sie sind ein Vertreter der Modern Monetary Theory, was besagt diese Theorie? Und was ist für Sie, Herr Schmidt, das große Problem damit?

Ehnts: Der amerikanische Investmentbanker Warren Mosler hat sich die Frage gestellt, ob Länder wie Italien pleite gehen können. Er hat Zentralbanken und Finanzministerien befragt, wie Geldschöpfung funktioniert und herausgefunden, dass Staaten in ihrer eigenen Währung nicht zahlungsunfähig werden können. Das heißt, der Staat kann so viel von seinem eigenen Geld ausgeben, wie er will. Das war der Beginn der Theorie. Darauf aufbauend haben sich Ökonomen gefunden, die diese Erkenntnis weiterentwickelt haben. Im Grunde geht es nur darum, zu erklären wie Zentralbanken Geld schöpfen. Das kann nicht einfach gedruckt werden, sondern passiert im Zusammenspielt von Zentralbanken, Geschäftsbanken und dem Staat.

Prof. Dr. Andre Schmidt. Foto: wsh

Schmidt: Eigentlich wurden nur Ansätze von anderen Ökonomen weitergedacht. Die Theorie heißt zwar modern, ist sie aber nicht. Dass der Staat so viel Geld schöpfen kann, hängt damit zusammen, dass das Geld nicht mehr an Gold gebunden ist. Früher wirkte das wie ein Anker. Der Staat konnte nur so viel Geld drucken, wie er auch an Gold besaß. Das ist heute nicht mehr der Fall. Der zentrale Punkt der MMT ist also nicht neu, den kennen wir seit 30 Jahren.

Ehnts: Also dem würde ich widersprechen. Ich habe während meiner Promotion gemerkt, dass die gängigen Denkschulen wie die Neoklassik oder auch teilweise der Keynesianismus empirisch nicht funktionieren, weil die Nachfrageseite fehlt. Das heißt, die Konsumenten werden in den Modellen nicht berücksichtigt. Das bietet die MMT und das kann man auch empirisch überprüfen.

Schmidt: Mein größtes Problem mit der MMT sind aber die Politikempfehlungen der Vertreter der Theorie.

Dr. Dirk Ehnts. Foto: Dirk Ehnts

Ehnts: Wir sind eine Denkschule und kein Club, in dem alle Mitglieder die gleichen Politikempfehlungen geben. Wir haben als harten Kern den Bilanzierungsansatz. Das heißt, die Ausgaben des Staates sind die Einnahmen der Bürger. Wir sind uns innerhalb der Denkschule einig, wie Geld entsteht und funktioniert, aber darüber hinaus gibt es Unterschiede.

Schmidt: Sie gehen immer von Unterbeschäftigung aus, also von Arbeitslosigkeit. Sie wollen dann mit Hilfe der MMT zur Vollbeschäftigung kommen. Dabei blenden Sie aber die Angebotsseite völlig aus, also die Unternehmen und Arbeitgeber. Das ist aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß. Wir haben kein Nachfrageproblem, sondern ein Angebotsproblem. Die Engpässe kommen von der Angebotsseite, nicht von den Konsumenten und den Haushalten..

Ehnts: Die MMT betrachtet sehr wohl die Angebotsseite. Sie hat genau das, was Sie hier kritisieren, von Anfang an richtig gemacht. Die Angebotsseite wurde immer mitgedacht. Die Theorie schaut sich an, wie viel der Staat mit seinem Geld kaufen kann. Nicht unendlich viel, denn der Staat muss Verkäufer finden. Das heißt also, der Staat ist darauf angewiesen, dass Unternehmen mit ihm handeln, denn wenn das nicht passiert, ist er machtlos. Letztlich sind die Ressourcen begrenzt, aber nicht das Geld.

Schmidt: Genau, und wenn der Staat dann zu viel Geld ausgibt, kommt es zu einer Inflation, wie wir sie jetzt erleben. Und diese Inflationsproblematik blenden Sie völlig aus, weil Sie immer von Unterbeschäftigung ausgehen. Sie rechnen damit, dass bei steigender Nachfrage, einfach mehr Güter produziert werden können, weil es noch genug Leute ohne Arbeit gibt, die dann einspringen und mehr produzieren.

Ehnts: Die normale Situation in den letzten Jahren war Unterbeschäftigung, es wurde keine Vollbeschäftigung erreicht. Und ich würde auch sagen, dass das immer noch der Fall ist. Die aktuelle Inflation ist nicht durch sinkende Arbeitslosenzahlen ausgelöst worden. Die Gewerkschaften sind auch nicht plötzlich so stark, dass sie zu hohe Lohnerhöhungen durchsetzen können und Inflation entsteht.

Schmidt: Wir wissen aber, dass das Inflationsproblem nicht immer nur mit der Kapazitätsauslastung zu tun hat. Es ist bekannt, dass die Inflationserwartungen eine große Rolle spielen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten höhere Preise und wollen dann noch schnell zu niedrigen Preisen einkaufen. Wenn jetzt die Nachfrage steigt, die vorher schon nicht bedient werden konnte, verschärft es das Problem.

Ehnts: Bei uns ist das Geld sozusagen unbegrenzt und die Ressourcen sind begrenzt. So entsteht die wirtschaftliche Spannung.

Schmidt: Aber genau da ist die MMT in der theoretischen Darstellung unsauber, gerade was die Inflationsbekämpfung angeht. Die Lösung der Theorie ist in diesem Fall eine strikte Steuerpolitik. Wenn die Möglichkeit einer Inflation überhaupt in Betracht gezogen wird. In den meisten Fällen hat die MMT hier einen großen blinden Fleck. Das ist, meiner Meinung nach, ein großes Problem.

Ehnts: Da kann ich Ihnen nur empfehlen, in die Neuauflage meines Buches von 2016 zu schauen. Da habe ich ein ganzes Kapitel der Inflation und ihrer Bekämpfung gewidmet. Die MMT sieht nämlich durchaus andere Möglichkeiten, die Inflationsrate zu senken, als Steuerpolitik zu betreiben. Schon Anfang der 2000er Jahre konnte man sehr gut beobachten, dass die staatlichen Löhne die Inflationsrate beeinflussen. Das heißt, wenn die Löhne der Staatsbediensteten schwächer wachsen, dann werden wahrscheinlich auch die Inflationsraten sinken.

Schmidt: Die Inflation, die wir jetzt haben, hat aber wenig mit steigenden Löhnen zu tun, sondern damit, dass wir die Corona-Maßnahmen nur durch das Drucken von neuem Geld finanziert haben. Der Staat hat das getan, was die MMTler empfohlen haben, und was ist passiert? Die Inflationsrate ist seitdem gestiegen. Corona war kein Nachfrageproblem, sondern ein Angebotsproblem. Während des Lockdowns gab es einige Branchen, die schließen mussten. Es gab quasi ein Verkaufsverbot. In dieser Zeit wurde durch das Drucken von Geld eine zusätzliche Nachfrage geschaffen, die nicht mehr befriedigt werden konnte. Die hat sich dann entladen, als die Leute wieder einkaufen konnten.

Ehnts: Da würde ich wieder auf mein Buch verweisen. Darin habe ich schon auf die Rolle des Ölpreises hingewiesen. Er ist ein großer Kostentreiber, weil Öl in vielen Bereichen der Wirtschaft ein Kostenfaktor ist. Die hohen Preise resultieren aus zu hohen Energiepreisen und die Inflation ist ein Symptom.

Schmidt: Das stimmt nicht. Die Inflation, die wir jetzt erleben, hat ihren Ursprung 2021. Mit dem Ende der Corona-Beschränkungen begannen die Preise systematisch zu steigen. Ich erinnere daran, dass wir im Dezember 2021 eine Inflationsrate von fünf Prozent hatten. Damals war der Krieg in der Ukraine noch nicht ausgebrochen. Und auch im Januar lag die Rate noch bei über fünf Prozent. Die Hoffnung war da, dass es jetzt besser wird, aber dann eskalierte der Krieg. Die steigenden Energiepreise haben den Effekt verstärkt, der vorher schon zu sehen war. Dass das die Preissteigerungen angeheizt hat, ist keine Frage, aber die Inflation war schon vorher da.

Aber wie lösen wir jetzt das Inflationsproblem?

Schmidt: Jetzt ist die EZB gefordert, die Zinsen zu erhöhen und das Inflationsproblem energisch anzugehen. Die Zentralbanken müssen auf jeden Fall die Inflationserwartungen senken und das muss dem Markt auch signalisiert werden: Das Problem ist erkannt und wird angegangen. Nur hat die EZB viel zu spät reagiert.. Hochrangige Notenbanker haben gesagt, die Inflation sei nur vorübergehend. Jetzt sehen wir, dass sie nicht temporär, sondern strukturell ist.

Ehnts: Die neo-klassische Theorie, die hier propagiert wird, besagt, dass die Zinsen jetzt steigen müssen, um die Investitionen zu senken. Denn bei höheren Zinsen werden Kredite teurer und damit auch die Finanzierungskosten. Fehlende Investitionen führen zu einer schwächeren Wirtschaft und das soll zu steigender Arbeitslosigkeit führen. Denn Arbeitslosigkeit, so die Theorie, ist notwendig, um die Inflation in Schach zu halten. Die Zentralbanken gehen heute davon aus, dass sie Arbeitslosigkeit schaffen müssen, um die Inflation in Schach zu halten. Dem würde ich widersprechen. Die MMT geht davon aus, dass es auch bei Vollbeschäftigung Preisstabilität, also keine Inflation, geben kann. Das haben wir Ende der 60er Jahre in Westdeutschland gesehen. Da hatten wir Vollbeschäftigung, die Arbeitslosenquote lag unter 0,8 Prozent und die Inflationsrate zwischen zwei und drei Prozent. Also genau da, wo die EZB sie haben will. Arbeitslosigkeit senkt nicht die Inflation, das sehen wir im Moment auch in den USA. Dort steigt die Beschäftigung wieder und gleichzeitig sinkt die Inflationsrate. Das heißt, Arbeitslosigkeit schaffen, um die Inflation zu senken, das funktioniert nicht und das ist Politikversagen.

Schmidt: Die EZB ist jetzt auch darauf angewiesen, dass die Staaten die richtige Politik machen. Ich habe auch kein Problem mit Staatsverschuldung an sich. Aber das Geld des Staates muss investiv eingesetzt werden. Das, was wir jetzt machen, hat damit oft nicht viel zu tun. Da schaue ich schon mit großer Sorge auf den deutschen Haushalt. Aber wir waren auch viele Jahre völlig zu Unrecht stolz auf die schwarze Null in Deutschland. Und dabei haben wir unsere Infrastruktur auf Verschleiß gefahren. Das verschärft die Inflationsproblematik. Der deutsche Staat muss jetzt das Produktivitätswachstum wieder ankurbeln und eine funktionierende Infrastruktur schaffen, zusätzlich sollten bürokratische Hürden abgebaut werden.

Ehnts: Dem würde ich zustimmen. Problematisch sind aber nach wie vor die hohen Zinsen. Die daraus resultierenden hohen Finanzierungskosten werden von den Unternehmen einfach an den Verbraucher weitergegeben, weil die Nachfrage nicht zurückgegangen ist. Das heißt, wir haben jetzt seit etwa einem Jahr hohe Zinsen der EZB, aber es gelingt ihr nicht, die Nachfrage abzuwürgen. Die Daten zeigen deutlich, dass die Rezession in Deutschland darauf zurückzuführen ist, dass die Staatsausgaben zurückgegangen sind. Wenn wir aus der Inflation herauswachsen wollen, brauchen wir vor allem höhere Staatsausgaben und nicht hohe Zinsen.

Denkschulen in der Ökonomik kurz erklärt

Die Denkschulen, auch Theorien genannt, werden in den Wirtschaftswissenschaften in zwei verschiedene Kategorien eingeteilt. Zum einem gibt es die orthodoxen oder auch Mainstream-Theorien. Sie sind die am weitesten verbreiteten Theorien. Zudem gibt es die unorthodoxen Denkschulen. Sie denken die Mainstream-Theorien weiter oder bringen eine neue Perspektive ein. Zum Mainstream gehören die Neoklassik und der Keynesianismus.

Die Neoklassik geht vom „homo oeconomicus“ aus. Einem Wirtschaftsmodell, in dem jedes Individuum seinen Nutzen maximiert und vollkommen rational handelt. Außerdem passt sich in der Theorie, der Preis durch Angebot und Nachfrage so an, dass auf dem Markt ein Gleichgewicht entsteht. Einer der wichtigsten Vordenker der Neoklassik ist Léon Walras.

Der Keynesianismus wurde von dem englischen Ökonomen John Maynard Keynes entwickelt. Diese Denkschule geht nicht von einem Marktgleichgewicht aus. Der Markt wird stark von der Nachfrageseite aus betrachtet, das heißt die Unternehmen produzieren nur so viel, wie nachgefragt wird. Steigt die Nachfrage, erhöht sich das Angebot und Ungleichgewichte wie Arbeitslosigkeit werden beseitigt. Dem Staat kommt in der Theorie eine größere Rolle zu, er soll antizyklisch handeln. Also während Krisen investieren und sich im Aufschwung zurückhalten.

Unorthodoxe Denkschulen sind zum Beispiel die Modern Monetary Theory (MMT) oder der Marxismus. Die MMT beschreibt die Entstehung des Geldes. Die Hauptaussage dieser Denkschule ist, dass ein Staat nicht bankrott gehen kann. Daraus ergeben sich Ansätze, dass Wirtschaftswachstum vor allem mit Staatsausgaben zusammenhängt. Nicht Geld, sondern Ressourcen wie Arbeitskräfte begrenzen die Handlungsfähigkeit des Staates. Diese Theorie ist nicht wirklich modern, sie denkt vor allem die Ansätze des Keynesianismus weiter. Der Begriff des „modern money“ wurde von Keynes geprägt.

Der Marxismus ist eine Denkschule, die sich von allen anderen dadurch unterscheidet, dass sie den Kapitalismus beschreibt und sich auf keine andere Denkschule bezieht. Der Marxismus erklärt die Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber. Wenn ein Arbeitnehmer Waren im Wert von 15 Euro produziert, dafür aber nur zehn Euro vom Arbeitgeber bekommt, dann ist das für Marx Ausbeutung. Nach seiner Theorie kann es das nur geben, weil die Produktionsmittel, also die Maschinen, mit denen die Güter hergestellt werden, einzelnen gehören und nicht der Allgemeinheit. Marx teilte die Gesellschaft in zwei Klassen ein, die einen, denen die Produktionsmittel gehören (Bourgeoisie) und die anderen, die Arbeiter (Proletarier).

 

Beitragsbild: pixabay.com/geralt

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