Pott-Prosa: Mehr als nur Zechen und Stahl

Zechen, Kohle, Dreck – daran denken wohl die meisten, wenn es um das Ruhrgebiet geht. Abseits dieser Bilder gibt es eine lebendige und vielfältige Literaturszene, in der auch junge Menschen schreiben. Welche Themen beschäftigen den Ruhrpott?

Die Veranstaltung im domicil ist ausverkauft. 240 rote Plastikstühle sind besetzt. Das Licht ist gedimmt. Im Hintergrund spielt leise Musik, übertönt von dem Gemurmel der Zuschauer*innen. Auf der Bühne prangt unübersehbar ein schwarzes Banner mit der weißen Aufschrift LesArt.-Literaturfestival Dortmund.

Die Abschlussveranstaltung des Festivals steht an, die LesArt.Gala. Diese beginnt jedes Jahr mit einem echten Höhepunkt – der Verleihung des Les.Art Preises für junge Literatur. Gespannte Blicke richten sich nach vorn, als der Moderator die Gewinnerin 2023 verkündet: „Ich bitte Elena Agebo auf die Bühne.“

Auszeichnung für junge Autor*innen in Dortmund

„Der LesArt.Preis soll die jungen Schriftsteller*innen in Dortmund auszeichnen und ihnen Mut machen, weiterzuschreiben“, erklärt Hartmut Salmen. Er ist Leiter des Literaturhauses Dortmund und mitverantwortlich für das Dortmunder Literaturfestival LesArt. Bei diesem werden über zehn Tage Autor*innen verschiedenster Genres eingeladen. Diese stellen an verschiedenen Orten in der Stadt ihre literarischen Werke vor. „So wurde eine Möglichkeit geschaffen, in diesem Festival eine große Bandbreite der Literatur erleben zu können“, erzählt Salmen. Am letzten Festivaltag wird dann der LesArt.Preis bei der LesArt.Gala im domicil Dortmund überreicht.

Ablauf LesArt.Preis der jungen Literatur
Um den LesArt.Preis der jungen Literatur können sich Autor*innen, die in Dortmund leben und unter 35 Jahre alt sind, mit ihren eigenen Texten bewerben. Es können maximal zwei Texte à zehn Seiten per E-Mail oder postalisch eingereicht werden. Thematisch gibt es keine Vorgaben, aber es müssen Prosatexte sein. Der Gewinner*intext wird dann von einer fachkundigen Jury gewählt. Der Preis wird von der Sparkasse Dortmund gestiftet und ist mit 1000 Euro dotiert.
Elena Agebo liest ihren Gewinnerintext bei der LesArt.Gala im domicil. Foto: Hartmut Salmen

Um für den LesArt.Preis in Frage zu kommen, ist es nicht zwingend erforderlich, in Dortmund geboren sein. „Auch Studierende der TU oder FH, oder auch andere, die für eine Zeit in Dortmund leben, sind eingeladen, sich zu bewerben“, versichert Hartmut Salmen.

Genau wie Elena. Die 26-Jährige ist für ihr Studium der Angewandten Literatur- und Kulturwissenschaften vor einigen Jahren nach Dortmund gezogen. Ursprünglich kommt Elena aus Köln. Erwartungen an die Stadt und den Ruhrpott hatte sie keine. Besonders schätzt sie aber mittlerweile an Dortmund, dass es eine lebendige, künstlerische Szene gibt und die Stadt sehr multikulturell ist.

Das Ruhrgebiet als kultureller Melting-Pot(t)

„Das Ruhrgebiet war immer schon ein gewisser Schmelztiegel“, erzählt Salmen. Im Zuge der Industrialisierung vervielfachte sich die Einwohnerzahl der Metropole Ruhr innerhalb kürzester Zeit und wurde so von einer landwirtschaftlich geprägten Gegend zu einem der größten industriellen Ballungsräume der Welt. Arbeitskräfte aus ganz Europa kamen hierher, um in den Kohlebergwerken, Stahlwerken und anderen Industriezweigen zu arbeiten. „Menschen aus der ganzen Welt haben ihre Gedanken mitgebracht“, erklärt Salmen.

Viele von diesen ließen sich dauerhaft nieder. So leben und arbeiten seit jeher Menschen verschiedener Nationalitäten und kultureller Hintergründe gemeinsam im Ruhrpott, wenn auch nach dem Rückgang der Schwerindustrie mittlerweile in anderen Bereichen. Laut dem Regionalverband Ruhr ist das Ruhrgebiet mit mehr als 5,1 Millionen Menschen1 aus über 150 Ländern auch heute noch eine der am dichtesten besiedelten Regionen Europas.

Elena Agebo hat 2023 den LesArt.Preis der jungen Literatur gewonnen. Foto: Jolina Rechter

Identifikation durch Worte

Ein paar Wochen nach der Preisvergabe ist Autorin Elena im Taranta Babu im Klinikviertel. Sie sitzt an einem Holztisch in dem an die Buchhandlung angrenzenden Café. Vor ihr liegt ein Notizbuch. Im Hintergrund spielt Musik aus einem Radio. Hier kommt Elena oft hin, um an ihren Texten zu schreiben.

Diese haben unterschiedliche Themen. „Ich schreibe viel über zwischenmenschliche Beziehungen und sexuelle und kulturelle Identität.“ Das meiste, was sie schreibt, ist autobiografisch inspiriert. Mit ihren Texten möchte Elena andere erreichen: „Mir ist es wichtig, dass sich die Leser*innen mit dem Geschriebenen identifizieren können oder eine neue Perspektive gewinnen.“

Zwischen Erfolg und Zukunftsplänen

Elena hat schon in der Grundschule angefangen, zu schreiben. Zuerst schrieb sie Lyrik, seit ein paar Jahren immer mehr Prosa. Mit „Die Muttersprache meiner Mutter“ hat sie den LesArt.Preis 2023 gewonnen. In dem Text geht es darum, wie es für sie war, aufzuwachsen, ohne die Muttersprache ihrer Eltern zu sprechen. Sprache spiele eine sehr wichtige Rolle dabei, sich mit Kultur und Menschen verbunden zu fühlen, erklärt sie.

Auch die Mundart im Ruhrgebiet schaffe eine besondere Verbindung zwischen den hier lebenden Menschen. „Ruhrdeutsch spiegelt wider, dass die Leute hier sehr direkt und offen sind“, sagt Elena. Dabei handelt es sich nur um einen Regiolekt. Im Ruhrgebiet versteht also auch jemand alle Gespräche, der nicht aus dieser Region kommt. Wenn eine Person aber eine ganze Sprache nicht spricht, könne sie sich Elena zufolge sehr fremd fühlen. Das habe sie selbst erlebt, da sie Amharisch, die Sprache ihrer Eltern, nicht beherrscht. Das hat sie in ihrem Text reflektiert.

Mit Erfolg: „Elena Agebo überzeugt durch sprachliche Souveränität und Vielschichtigkeit“, lautete die Begründung der Jury bei der Preisvergabe. Diese Anerkennung zu bekommen, sei sehr schön gewesen: „Nachdem ich per Mail von dem Gewinn erfahren habe, konnte ich erstmal vor Freude drei Stunden nichts mehr machen“, erzählt Elena. Was sie mit dem Preisgeld machen möchte, weiß sie aber direkt: Neue DocMartens kaufen und den Rest zurücklegen. Der Erfolg habe sie jetzt dazu motiviert, mehr Texte zu veröffentlichen, denn sie hat große Pläne. „Ich würde gerne einmal eine Sammlung zusammenstellen.“ Gerade organisiert sie erst einmal mit zwei Kommilitoninnen eine Lesung. Die Balance zwischen dem Schreiben und anderen Verpflichtungen wie dem Studium versucht sie noch zu finden, erzählt sie und lacht. „Es kam auch schon oft dazu, dass ich dann andere Dinge vernachlässigt habe, um zu schreiben.“

Die Literaturszene sichtbarer machen

Antje Deistler leitet seit 2018 das Literaturbüro Ruhr. Foto: Christoph Hardt

Die Literaturszene im Ruhrgebiet ist vielfältig und lebendig, aber auch verstreut. Weil die Literaturveranstalter stärker zusammenarbeiten wollten, gründeten sie 2018 das Netzwerk literaturgebiet.ruhr. „Ein weiteres Ziel des Netzwerks ist es, die Sichtbarkeit der Literaturszene und damit auch die Literaturszene selbst zu stärken“, sagt Antje Deistler. Sie ist seit über fünf Jahren die Leiterin des Literaturbüros Ruhr, welches die Trägerorganisation des Netzwerks ist.

Deistler ist es wichtig, das Ruhrgebiet auch als Veranstaltungsort für Verlage und Autor*innen attraktiv zu machen. „Wir haben hier ein riesiges potenzielles Publikum“, betont sie. „Und das auch schon lange.“ Schließlich werde Europas größtes internationales Krimifestival „Mord am Hellweg“ seit 2002 in der Hellweg-Region veranstaltet.

Um die Arbeit von Autor*innen im Ruhrgebiet wertzuschätzen, verleiht der Regionalverband Ruhr seit 1986 einmal im Jahr den Literaturpreis Ruhr. Um diesen gewinnen zu können, muss der oder die Autor*in im Ruhrgebiet leben oder über das Ruhrgebiet schreiben. „Wir haben jedes Jahr eine Leseliste von 50 bis 60 Büchern“, erzählt Deistler.

Einzigartige Menschen – einzigartige Geschichten

Früher hat sich die Literatur im Ruhrgebiet oft mit Zechen und Stahl beschäftigt. In Form der Literatur der Arbeitswelt setzten sich Autor*innen kritisch mit der Industriegesellschaft und ihren sozialen Problemen auseinander.

Heute sind die Themen vielfältiger, stellt sie fest. „Es gibt nicht die eine Ruhrgebietsliteratur“, sagt Deistler. Das zeige sich auch bei den Einreichungen für den Literaturpreis Ruhr. Hartmut Salmen bestätigt ebenfalls, dass es eine große Bandbreite an Themen in den Texten für den LesArt.Preis gibt. „Das kann ich tatsächlich nicht eingrenzen und es gibt auch keine Tendenzen, was ebenso recht spannend ist“, berichtet er.

Kein Druck, sondern Austausch

Angehenden Autor*innen empfiehlt Elena Agebo, sich beim Schreiben von literarischen Texten keinen Druck von außen machen zu lassen: „Es ist wichtig, den Fokus darauf zu setzen, was man erzählen möchte und weniger darauf, wie gut das ist, was man gerade schreibt. Nehmt euch die Freiheit, einfach auszuprobieren.“

Für diejenigen, die gerne schreiben und kein Problem damit haben, ihre Texte vor anderen vorzutragen, könne Poetry-Slam ein guter Einstieg sein, sagt die Leiterin des Literaturbüro Ruhr Antje Deistler. „Da handelt es sich um eine Szene, die offen ist, immer wieder neue Talente sucht und dazu auch sehr präsent im Ruhrgebiet ist.“

Bei zwei Poetry-Slams hat Elena selbst mitgemacht, berichtet sie: „Aber ich habe gemerkt, dass das nicht mein Format ist und ich lieber jenseits dieser Wettbewerbsatmosphäre lese.“ In diesem Fall können Literaturkreise eine erste Anlaufstelle sein, um Feedback zu bekommen.Auch Hartmut Salmen empfindet es als wichtig, sich auszutauschen: „Man sollte Texte nicht in die Schublade legen, sondern nach außen bringen.“ Nur so sei es möglich, eine Rückmeldung zu bekommen und dadurch das Schreiben zu verbessern.

Bücher aus dem Ruhrgebiet
Lina Atfah und Enis Maci wurden in den vergangenen Jahren mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. Lisa Roy überzeugte die LesArt.Preis-Jury 2021 mit ihrer Prosa.

 

1 Stand Dezember 2022

 

Beitragsbild: Jolina Rechter

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