Emotional Support auf vier Pfoten

Seit April letzten Jahres sind English Springer Spaniel Vicky und Herrchen Stefan Lenniger ein zertifiziertes “Besuchshund-Team”. Sie besuchen Bewohner*innen in Seniorenheimen und zeigen kleine Tricks und Kunststücke. Das Wichtigste ist aber die reine Interaktion.

Aus allen Richtungen kommen Hände. Die eine betatscht unbeholfen ihren haarigen Kopf, eine andere streichelt die weiche Brust, auf einmal wird laut gelacht – und Vicky ist wie auf dem Präsentierteller mittendrin. Doch ihr macht das nichts aus. Die Springer-Spaniel-Dame genießt die Streicheleinheiten und bleibt ruhig. Sie wurde dazu ausgebildet, Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Beim heutigen Termin im St. Vinzenz Seniorenheim in Hamm sind fünf Senior*innen dabei. Die Sitzung dauert 30 Minuten. Die Teilnehmerzahl hat Lenniger auf maximal sechs beschränkt, um Vicky nicht mit zu vielen neuen Eindrücken zu überfordern.

Eine Sitzung – viele Eindrücke

Geduldig wartet Vicky aufs Leckerli. Foto: Franka Liesegang

Vicky läuft neugierig im Raum umher und beschnüffelt alle. Lenniger erklärt ein paar Dinge, beispielsweise den groben Ablauf der Sitzung, um den Senior*innen mögliche Berührungsängste zu nehmen. Mit ein paar kleinen Tricks geht es los: Vicky fängt einen Ball, den Lenniger ihr wirft, balanciert ein Leckerli auf der Nase, ohne es zu vernaschen und jagt fasziniert Seifenblasen nach, die Lenniger ihr pustet. Die Senior*innen sind begeistert.

Alle dürfen der Hundedame dann auf der ausgestreckten Hand ein Leckerli geben. Dabei muss sie ruhig und sanft bleiben. „Nur nicht selber essen, dann wird die Vicky sauer”, sagt Lenniger und lacht. Noch einmal an allen schnüffeln und checken, ob sie auch nichts vergessen hat, aber leider ist nichts mehr da. Anschließend dürfen alle Vicky bürsten und leicht mit ihr Tau ziehen. Das soll unter anderem die Motorik der Senior*innen ankurbeln.

Die Senior*innen sind Fans

Zwischen diesen Übungen gibt Lenniger ab und zu ein Kommando und Vicky darf sich kurz austoben und auf eigene Faust spielen – sich kurz abregen, dann geht es weiter. Sie springt auf einen Tisch, legt sich auf ihre Decke und die fünf Teilnehmer*innen setzen sich rundherum. Es darf drauflos gestreichelt werden. Vicky ist sehr neugierig und verteilt Küsschen.

Die Begeisterung ist den Senior*innen anzusehen. Foto: Franka Liesegang

Langsam werden die Senior*innen offener und kommen miteinander ins Gespräch. Ein älterer Herr ist ganz fasziniert, er hatte früher selbst einen Jagdhund, erzählt er. Er fragt Lenniger aus: Wie alt ist sie? Was ist das für eine Rasse? Wann kommt ihr wieder? Diese Frage interessiert viele. Als Lenniger nach der Sitzung zusammenpackt, schleicht sich eine Seniorin noch einmal in den Raum zurück, um Vicky zu knuddeln. Das spricht für sich.

Alle zwei Wochen sind die beiden abwechselnd in drei Hammer Seniorenheimen zu Besuch. Dabei haben sie sich schon einen festen Kreis an Stammkund*innen aufgebaut. Trotzdem sind immer neue Leute dabei.

Wie wird man ein „Besuchshund-Team“?

Vicky hat deshalb gelernt, mit groben und aufdringlichen Berührungen, lauten Geräuschen, plötzlichen Bewegungen und vielen neuen Eindrücken gleichzeitig gelassen umzugehen. Sie muss aber auch einiges können, was man auf den ersten Blick nicht sieht. In ihrer Ausbildung hat sie zum Beispiel gelernt, nie ohne Freigabe etwas vom Boden zu fressen – so wie zu Beginn der Sitzung mit dem Leckerli. Das kann lebenswichtig sein, denn in Seniorenheimen kann beispielsweise immer mal eine Tablette herunterfallen.

Die Ausbildung haben die beiden beim Lippetaler Verein “Tiere bauen Brücken” gemacht. Seit 2019 bildet er Teams aus. Im Raum Soest und Paderborn sind mittlerweile schon 25 “Hund-Mensch-Teams” aktiv. Über ein halbes Jahr verteilt haben Vicky und Stefan Lenniger verschiedene Lehrseminare und Trainingstermine besucht. Währenddessen müssen sowohl Hund als auch Halter einiges lernen und in einer Abschlussprüfung beweisen, dass sie geeignet sind. Wenn sie bestehen, bekommen die Teams ein Zertifikat und verpflichten sich zu einem Jahr ehrenamtlicher Arbeit. Um das Zertifikat zu verlängern, müssen sie nach dem Jahr nochmal einen Check-Up machen.

Von der Theorie in die Praxis

In der Ausbildung lernen erst die Besitzer*innen in der Theorie, dann trainieren sie aktiv mit den Hunden zusammen. Das Programm umfasst unter anderem Themen wie Angst und Aggression, Ausdrucksverhalten des Hundes, Lernen und Belohnen, Mensch-Hund-Kommunikation und Tierschutz. Besonders wichtig ist, dass die Besitzer*innen ihre Hunde wirklich lesen und einschätzen können, um ihnen in stressigen Situationen Freiraum zu geben oder Sitzungen im Notfall rechtzeitig abzubrechen.

Die Stimmung der Hunde könne man sehr gut am Verhalten und der Körperhaltung erkennen, erklärt Armin Brüggemann, Vorsitzender des Lippetaler Vereins. Wie ist die Rutenhaltung? Sind die Ohren angelegt oder gestreckt? Verliert der Hund Schuppen oder Fell? Das alles sind Anzeichen von Stress, die die Besitzer*innen zu erkennen lernen.

Nicht alle haben Erfolg in der Ausbildung

Im praktischen Teil werden die Hunde mit lauten Geräuschen konfrontiert, die Ausbilder*innen ziehen etwas an der Rute und bauen sich bedrohlich vor ihnen auf. All das darf die Hunde nicht aus der Ruhe bringen, sie dürfen nicht aggressiv werden. Auch das Verhalten gegenüber und mit anderen Hunden wird getestet. Am wichtigsten ist es aber, dass Hund und Besitzer*in ein eingespieltes Team werden, sich vertrauen und der Hund hundertprozentig auf wichtige Kommandos hört.

Wenn etwas davon nicht klappt, wird “aussortiert” und das Team kann die Ausbildung nicht beenden. „Manchmal funktioniert die Zusammensetzung der Teams leider einfach nicht. Das Problem ist aber eigentlich immer am anderen Ende der Leine, also beim Menschen”, sagt Brüggemann.

Die Möglichkeit zum Rückzug

Stefan und Vicky – Ein Dream-Team. Foto: Franka Liesegang

Diese Auswahl, wer geeignet ist und wer nicht, findet direkt zu Beginn in einem Eignungstest statt, den zwei Tier- und Verhaltenstrainer*innen begleiten. Sie achten darauf, ob der Hund gepflegt und gesund ist, wie das Zusammenspiel und der Umgang zwischen Hund und Halter*in sind und ob der Hund in Konfrontationssituationen aggressiv reagiert.

Aggressivität ist ein No-Go, Rückzug aber jederzeit erlaubt und sehr wichtig. Die Hunde müssen in Sitzungen nicht alles einfach über sich ergehen lassen. Wenn sie sich nicht wohlfühlen, dürfen sie die Situation verlassen. Vicky hat bei jedem Termin ihre Kuscheldecke dabei – ihren Safe Space. Hierhin kann sie gehen und weiß: Da wird sie in Ruhe gelassen. Einen solchen Ort zu schaffen ist wichtig, wenn es Zwischenfälle gibt und Lenniger Vicky im Ernstfall wegschicken muss. Dann ist die Decke ihr fester Platz. Das gab es bis jetzt aber noch nie.

Die ganz eigene Motivation

Aber warum überhaupt dieses Ehrenamt? Und warum Senior*innen? Grund war Lennigers Vater. Er war an Demenz erkrankt. Im Endstadium der Krankheit erkannte er selbst die Familie nicht mehr. Aber der Familienhund, auch ein Spaniel wie Vicky, drang zu ihm durch. „Paradoxerweise waren wir wie nicht existent. Mein Vater hat durch uns durchgeschaut, nur bei dem Hund hat er sich geregt”, erzählt Lenniger von der Zeit. Das zu erleben, habe ihn tief berührt.

Als er dann vor zwei Jahren vom Verein “Tiere bauen Brücken” und der Besuchshund-Ausbildung gelesen hat, wusste er sofort: Das will ich machen. Ein Ehrenamt – einen Beitrag leisten und etwas zurückgeben, das hatte er sowieso schon länger vor. Und so ging die Reise für die beiden los.

Mit Begeisterung dabei

Bereits vor dieser Entscheidung war Vicky der neue Familienhund geworden. Dadurch kannten sich die beiden schon sehr gut aus ihrem Alltag. Das war für sie von Vorteil, so kannten sie das Verhalten des anderen schon vor Beginn der Ausbildung.

Beide sind jetzt leidenschaftlich dabei. Während der Sitzung merkt man Vicky an, dass sie ohne Scheu und neugierig auf die Senior*innen zugeht. Sie kann natürlich nicht erzählen, wie sie das alles findet, aber Lenniger ist sich sicher: “Ich habe zu hundert Prozent den Eindruck, dass ihr das Spaß macht und dass ich ihr nichts abverlange, was sie nicht freiwillig leisten würde. Das sieht man auch an der Körperhaltung, sie geht offen auf jede Person zu, da macht ein Tier keine Unterschiede.“

Jede Sitzung ist anders

Vicky verteilt fleißig Küsschen an die Bewohner*innen. Foto: Franka Liesegang

Wie körperlich fit und geistig anwesend die Bewohner*innen sind, variiert sehr stark. In so gut wie jeder Runde sitzt beispielsweise jemand mit einer Demenzerkrankung. Die Stadien sind dabei sehr unterschiedlich. Dementsprechend passt Lenniger auch das Programm der Sitzungen an.

Wenn die Anwesenden fitter sind, machen Vicky und er mehr Kunststücke und Lenniger versucht, die Kommunikation unter den Senior*innen anzuregen. Er fragt beispielsweise, ob jemand von ihnen früher selbst einmal einen Hund hatte. Wenn das nicht der Fall ist, beschränken sich die beiden eher auf die Interaktion zwischen Senior*innen und Hund. Dann dürfen sie beispielsweise, wie heute auch, ausgiebig streicheln.

Die Momente, die es wert sind

Am Anfang ihrer Laufbahn hatten Vicky und Lenniger eine Begegnung mit einem Herrn, der ähnlich stark an Demenz erkrankt war wie Lennigers Vater. Es war eine Runde mit sechs Senior*innen. Lenniger habe sich am Anfang gefragt, warum die Betreuer*innen diese so schwer dementiell erkrankte Person überhaupt dazu geholt hatten, „lebte er doch in seiner eigenen Welt, reagierte auf nichts“. Seit Jahren hatte er kaum noch gesprochen. Seine Familie erkannte er nur noch eingeschränkt. Als die zuständige Betreuerin allerdings erzählte, dass er früher selbst einen Jagdhund hatte, war es Lenniger klar.

Vicky lief innerhalb der Sitzung dann ganz unvoreingenommen zu dem Senior, um sich Streicheleinheiten abzuholen – und auf einmal reagierte er. Er schaute Vicky an und fing an zu sprechen. Er wiederholte immer wieder den Namen seines früheren Hundes „Mirko“. Zufälligerweise war die Tochter des Mannes anwesend und konnte es gar nicht glauben. Sie, die Betreuerin und Lenniger selbst waren zu Tränen gerührt. „Das hat mich an die sehr ähnliche, letzte Phase mit meinem Vater erinnert. Da kam in mir auch nochmal was hoch. Das war bis jetzt das absolute Highlight unserer Arbeit“, erzählt Lenniger.

Diesen Senior besuchen die beiden mittlerweile auf Wunsch der Tochter auch in kurzen Einzelsitzungen. In Kombination mit Vicky erkennt er Lenniger auch und begrüßt die beiden mit „Da ist mein Freund“. „Er erkennt mich über den Hund, diese Wirkung ist wirklich phänomenal“, sagt Lenniger.

Das Rätsel um Demenz

Vicky hat sogar ihr eigenes Halstuch. Foto: Franka Liesegang

Warum ausgerechnet Vicky es geschafft hat, zu dem Demenzerkrankten durchzudringen und seine eigene Tochter nicht, ist schwierig zu verstehen. Demenz ist ein allgemeiner Oberbegriff für verschiedene Formen der Krankheit wie beispielsweise die Alzheimer-Demenz oder eine Schlaganfall-Demenz. Dabei gibt es jeweils noch verschiedene Schweregrade.

Das Schwierigste beim Erforschen der Krankheit ist, dass bei jedem*jeder Betroffenen das Netzwerk im Gehirn anders funktioniert und beschädigt ist. Es sind jeweils andere Hirnregionen stärker betroffen, unterschiedliche Erinnerungen stärker gespeichert. Charakter, persönliche Vorlieben und positive sowie negative Erfahrungen und Erinnerungen machen es praktisch unmöglich, zu verallgemeinern.

Vicky hat den richtigen Punkt getroffen

Dr. Carsten Eggers ist Chefarzt für Neurologie in der Knappschaftsklinik in Bottrop. Foto: Unternehmenskommunikation, Knappschaft Kliniken Bottrop GmbH 

In dem Fall, den Vicky und Stefan Lenniger erlebt haben, wird die besondere und außergewöhnliche Stimulation des Seniors durch Vicky – Geruch, Wärme und Berührung – gepaart mit der noch erhaltenen Kernerinnerung an den eigenen Hund diese Reaktionen ausgelöst haben, erklärt Prof. Dr. med. Carsten Eggers. Er ist Chefarzt der Klinik für Neurologie und Ärztlicher Direktor des Neurozentrums in der Knappschaftsklinik in Bottrop.

„Es ist tatsächlich oftmals nicht klar verständlich, warum bestimmte Dinge erinnert werden und warum andere nicht. Bei der Tochter war der Stimulus hier einfach ein anderer. Durch diese besondere Form der Berührung des Hundes wurde anscheinend ein intakter Teil mit einer ganz tief liegenden Erinnerung wieder aktiviert“, erklärt Eggers.

Die beiden bleiben dabei

Wodurch diese Reaktion im Endeffekt ausgelöst wurde, ist Vicky und Stefan Lenniger aber auch gar nicht so wichtig. Solche besonderen Begegnungen sind es, für die die beiden das Ganze machen. Und damit wollen sie definitiv so schnell nicht wieder aufhören. Das Einzige, was passieren könnte, um sie davon abzuhalten, wäre, wenn Vicky zeigt, dass sie keine Lust mehr darauf hat oder „wenn wir beide irgendwann mal zu alt sind“, sagt Lenniger und lacht. Das freut auch die Senior*innen, denn auf die Frage “Sollen wir denn wiederkommen?” am Ende der Sitzung folgte ein ganz klares “Natürlich!”.

Wo Besuchshundteams noch zum Einsatz kommen
Es gibt viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten für Besuchshund-Teams. Neben der Arbeit mit Senior*innen können sie in Kindergärten, Schulen, Wohngruppen, im Hospiz, in Behindertenwerkstätten, bei Privatpersonen oder in Kinder- oder Pflegeheimen eingesetzt werden. Die Art und Weise der Interaktion zwischen Hund und Menschen hängt dabei immer von der Situation und den Eigenschaften der Teilnehmer ab. In Kindergärten oder Schulen beispielsweise bieten die Hunde oft Sicherheit und geben den Kindern Selbstbewusstsein – so die Erfahrung von einer Kollegin von Lenniger, die mit ihrem Hund Kindergärten besucht. Die Kinder sollen beispielsweise dem Hund vorlesen anstatt anderen Kindern oder Erzieher*innen. Das falle ihnen oft deutlich leichter. Die positiven Effekte der Interaktion mit Tieren sind wissenschaftlich bewiesen, so beispielsweise hier nachzulesen: https://eag-fpi.com/wp-content/uploads/2014/10/Tiere-in-der-Therapie-%E2%80%93-Wissenschaftliche-Grundlagen.pdf

 

Beitragsbild: Franka Liesegang

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