„Wenn ein Mensch leidet, leidet man automatisch mit“

Semih Hasdemir engagiert sich seit einem Jahr ehrenamtlich als muslimischer Notfallbegleiter. Im Interview erzählt Semih von seinem ersten Einsatz und davon, wie er gelernt hat, sich vom Leid anderer Menschen abzugrenzen.

Wie war dein erster Einsatz für dich?

Semih Hasdemir ist Notfallseelsorger. Foto: Semih Hasdemir

Mein allererster Einsatz war heftig. Weil ich keine Erfahrung hatte, wusste ich nicht genau, wie ich mich von dem Leid anderer klar distanziere. So habe ich das Leid von den Menschen aufgenommen, die ich begleitet habe. Das war wirklich heftig. Ich habe in der Woche zwei Kilogramm abgenommen, weil ich auch keinen Appetit mehr hatte.

Wir Menschen sind so eingestellt, dass wir von den Gefühlen anderer, ob wir wollen oder nicht, etwas abnehmen. Das können auch positive Gefühle sein. Wenn ein Mensch sich freut, freue ich mich automatisch mit. Wenn ein Mensch leidet, leide ich mit. Wenn das nicht so wäre, dann würden Kinobesuche gar keinen Sinn ergeben. Wir schauen einen Film und Menschen, von denen wir wissen, dass es Schauspieler sind, freuen sich oder lachen, weinen, wie auch immer. Wir fühlen mit.

Mich in der Rolle als Notfallseelsorger klar zu distanzieren, das musste ich erst lernen.

Kannst du dich jetzt besser von dem Leid anderer abgrenzen?

Ich habe ein Ritual, was ich nach dem Einsatz mache. Das ist noch recht neu, deswegen möchte ich davon nicht erzählen.

Mittlerweile ist mir schon wirklich bewusst, wo meine Grenzen liegen. Wir haben in der Ausbildung gelernt, dass wir direkt aus der Situation rausgehen sollen, sobald wir merken, etwas geht uns zu nah. Bisher hatte ich noch keinen Moment, indem ein Leid zu nah an mich rangegangen ist. Klar, ich habe mal die eine oder andere Träne vergossen, nach einem Einsatz, wenn ich wieder nach Hause gefahren bin. Aber das gehört mit dazu.

Du hattest jetzt schon ein paar Einsätze als Notfallseelsorger. Willst du das trotz der Belastung weitermachen?

Auf jeden Fall. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie unendlich dankbar die Menschen am Ende des Tages sind, dass ich da war. Ich hatte das auch bei meinem ersten Einsatz. Zwei junge Mädels waren betroffen, wirklich ein tragischer Unfall. Die sind in eine Situation geraten, wo beide durch die Luft vergiftet wurden. Das eine Mädchen hat es nicht geschafft. Die, die überlebt hat, habe ich dann mehrere Tage direkt danach im Krankenhaus besucht.

Sie hat sich unglaublich Vorwürfe gemacht. Jedes Mal, wenn ich in das Zimmer gekommen bin, hat sie geweint. Und jedes Mal, wenn ich das Zimmer verlassen habe, hat sie gelächelt. Wir haben Gespräche von ein bis zwei Stunden geführt und ich konnte sie anscheinend so gut trösten und Seelsorge leisten, dass sie wirklich ein Lächeln hatte. Und das reicht mir vollkommen, mehr will ich gar nicht.

 

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Beitragsbild: Pixabay/HtcHnm

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