Seit ihrer Geburt ist die Kirche Teil von Sarah Veceras Leben. Doch nicht immer fühlt sich Vecera als Teil dieser Gemeinschaft. Als Woman of Color erfährt sie auch dort immer wieder Rassismus. Deshalb setzt sie sich jeden Tag für eine Kirche ohne Rassismus ein.
„Wär’ ich so gern dein Superheld, dein Superheld mit brauner Haut, aber ich kann nicht durch die Lüfte fliegen, kann aus den Händen keine Blitze schießen.“ Während das Lied von Samy Deluxe langsam verklingt, schalten immer mehr Teilnehmer*innen ihre Webcam ein. Sarah Vecera hält an diesem Tag ein Seminar für Einsteiger*innen zu „Rassismus und Kirche“. Einige Kacheln sind noch schwarz, als Vecera alle zu ihrem Seminar begrüßt. Vor der Pandemie hat sie solche
Seminare in Person gehalten, jetzt finden sie online statt. Vecera bietet gleich zu Anfang allen das „Zoom-Du“ an – das nimmt die ersten Hemmungen. Nun haben alle Teilnehmer*innen ihre Kameras angeschaltet. Es sind vornehmlich Frauen. Alle schauen zunächst etwas verunsichert auf ihre Bildschirme. Manche haben Vorerfahrungen in der antirassistischen Arbeit, andere sehen sich zum ersten Mal mit dem Thema Rassismus konfrontiert.
Mit dem Seminar wollen Vecera und ihr Kollege Lusungu Mbilinyi, tansanischer Pfarrer, die Grundlagen für das antirassistische Arbeiten schaffen. Sie wollen sich mit den weißen Teilnehmer*innen über Rassismus austauschen. Zwei Dinge macht Vecera am Anfang deutlich: Es gibt keinen Ort ohne Rassismus, da macht die Kirche keine Ausnahme. Doch sie biete auch eine Chance. Schließlich habe die Kirche immer noch einen enormen Einfluss in Deutschland. Und zweitens: Antirassistische Arbeit sei ein Marathon und kein Sprint. Ein jahrhundertealtes Konstrukt schafft die Gesellschaft nicht über Nacht ab.
Ein Leben lang in der Kirche
Sarah Vecera kennt die Kirche und ihre Strukturen gut. Sie ist in ihnen groß geworden.1983 in Oberhausen geboren, wächst sie im Ruhrgebiet auf. Gemeinde und Glaube waren von Anfang an Teil ihres Lebens. Denn ihre Familie hat sich schon immer in der evangelischen Kirche engagiert. Ihr Opa hat den Kindergottesdienst in seiner Gemeinde im Rheinland gestaltet. Veceras Umgebung: vor allem weiß. Als Person of Color (PoC) war sie immer damit konfrontiert, nicht dazuzugehören: „Meine Familie, meine Gemeinde, mein Kindergarten und meine Schule waren ausschließlich weiß. Und das war immer lieb gemeint, dass ich dazugehöre, aber so war das halt nicht.“ Nach ihrem Abitur macht sie für ein Jahr einen Freiwilligendienst in Tansania und studiert anschließend Theologie, Sozial- und Religionspädagogik in Kassel und Bochum. 2013 beginnt sie für die Vereinte Evangelische Mission in Wuppertal zu arbeiten. Heute ist sie dort als Abteilungsleiterin der Region Deutschland sowie Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt Rassismus und Kirche tätig.
Früher wollte Vecera unbedingt in einer Gemeinde arbeiten. Im Weigle-Haus in Essen bekam sie die Erlaubnis, zu predigen, zu taufen und das Abendmahl durchzuführen. Das Weigle-Haus ist ein freies Werk innerhalb der Evangelischen Kirche und dient als Jugend- und Erwachsenengemeinde. Doch inzwischen kann sich Vecera die feste Arbeit in einem Pfarrbezirk nicht mehr vorstellen. Die meisten Bezirke entsprechen nicht ihrer Vorstellung von Kirche: Sie seien elitär, akademisch und weiß-geprägt.
Das sei beim Weigle-Haus anders. Als Jugendliche kam Vecera in die Gemeinde und war direkt fasziniert. Das Weigle-Haus versteht sich als transkulturell: Weiße Menschen und BIPoCs (Black, Indigenous and People of Color, Selbstbezeichnung von/für Menschen mit Rassismuserfahrungen) kommen zusammen. Dort hat Vecera gelernt, dass die Geschichten in der Bibel immer noch Bedeutung haben. Sie rücken die Menschen ins Zentrum, die am Rand der Gesellschaft stehen. Jesus selbst gehe
immer wieder auf diese Menschen zu. Darin sieht Vecera die Aufgabe der Kirche: „Kirche soll vor allem Missstände ansprechen und daran erinnern, wofür christliche Gemeinschaft eigentlich mal gemacht war – nämlich dafür, dass Menschen vom Rand der Gesellschaft Gehör finden. Dass diese Menschen auf eine besondere Art und Weise bei Gott willkommen sind.“ Bis heute ist Vecera der Gemeinde in Essen verbunden. Mit ihrem Ehemann organisiert sie ehrenamtlich Freizeitfahrten für junge Erwachsene und predigt dort immer noch ab und zu am Sonntag.
Nicht Deutsch in Deutschland – und auch nicht in Tansania
Während ihrer Zeit in Tansania hat Vecera zum ersten Mal erlebt, dass auch auf dem afrikanischen Kontinent die rassistischen Bilder aus der Kolonialzeit tief verankert sind: Die Helfenden sind weiß und die Empfangenden Schwarz. „Dass mir in Deutschland mein Deutschsein abgesprochen wurde, daran war ich gewöhnt. Aber dass mir das in einem Schwarzen Kontext auch passiert, nicht. Dass Menschen dort zu mir sagen: ,Du bist deutsch? Das kann doch gar nicht sein!‘ Das war mir neu.“ Obwohl Vecera selbst einen Freiwilligendienst gemacht hat, sieht sie heute, wie problematisch und ungerecht diese Dienste sein können. Der Gedanke, dass weiße Menschen ohne pädagogische Vorkenntnisse für einige Wochen in ein Land kommen und zum Beispiel Kinder unterrichten, erinnere stark an die Kolonialzeit. Die Vereinte Evangelische Mission versucht heute, dieser Einstellung entgegenzusteuern. Ihr Freiwilligenprogramm geht in alle Richtungen: von Afrika nach Asien, von Deutschland nach Afrika, von Deutschland nach Asien und umgekehrt. Wichtig ist, dass sich die Freiwilligen als Lernende verstehen und sich nicht plötzlich als unausgebildete Lehrkräfte in einer Schule wiederfinden. Ihre Arbeitsplätze gleichen denen, die Freiwillige in Deutschland während eines Sozialen Jahres belegen können.
Mit Schutzmantel im Seminar
Als Bildungsreferentin bei der Vereinten Evangelischen Mission lädt Vecera die Teilnehmer*innen ihrer Seminare ein, alles fragen zu dürfen. Auch wenn sie dann, teils unbewusst, Rassismus in einem geschützten Raum reproduzieren. In solchen Momenten träfen sie die rassistischen Aussagen nicht. Dann trage sie einen Schutzmantel, an dem diese Aussagen abperlen. Denn Vecera selbst schafft diesen Raum und kann ihn wieder schließen. Es gibt ihr Hoffnung, dass die Teilnehmer*innen danach mit einem geschärften Blick herausgehen. Diese geschützten Orte bringen Veceras Meinung nach viel mehr als aufgeheizte Talkshows. Mit ihren Kursen will die Bildungsreferentin Menschen, die am Anfang ihrer antirassistischen Arbeit stehen, helfen, die nächsten Schritte zu gehen und weiterzudenken. Offen rassistische Menschen zum Umdenken zu bewegen, darin sieht sie hingegen kein Potential.
Fast alle Seminaranfragen kommen über Veceras Instagram-Account moyo.me. Über 7000 Menschen folgen ihr dort. Auf ihrem Profil macht Vecera immer wieder auf strukturellen Rassismus in der Kirche aufmerksam, zum Beispiel anhand von Kirchenliedern. Sie bespricht die Rolle von Kirche im Kolonialismus und empfiehlt Literatur zum Thema Antirassismus. Angefangen hat sie mit dem Account, als sie gemerkt hat, dass online in der kirchlichen Community niemand das Thema Rassismus angesprochen hat. Ein Umdenken in der digitalen Kirche sieht sie bisher nicht. „Antirassismus ist nice to have. Er gehört zum guten Ton. Weiße Menschen hören uns Schwarzen gerne zu. Das führt zu Empörung und weiße Menschen reflektieren in privaten Nachrichten darüber“, sagt Vecera. „Aber wenn ich wahrnehme, dass dieses Bewusstsein keine Auswirkungen auf die Accounts von weißen Menschen, ihre Perspektiven und ihr Handeln in der digitalen Kirche hat, ist das sehr ernüchternd. Von selbst sprechen die Menschen hinter den Accounts Rassismus nicht an.“ Trotzdem macht Vecera viele positive Erfahrungen mit ihrem Account. Er richtet sich vor allem an Menschen, die schon ein Bewusstsein für Rassismus entwickelt haben. Anders als bei Facebook oder YouTube sei die Atmosphäre bei Instagram wesentlich wohlwollender. Die Menschen, die ihren Account finden, wollen gemeinsam mit ihr lernen. Gerade in den sozialen Medien sieht Vecera eine Chance, wie die Gesellschaft in Zukunft antirassistischer leben kann: Social Media ermögliche, die Welt ein Stück weit so zu sehen, wie sie für BIPoCs sei. Dadurch können andere Menschen Problematiken schneller erkennen und verstehen. Vecera ist der Meinung, dass sich dadurch viel in der Welt verändern wird – langsam, aber stetig.
Kirche: In rassistischen Strukturen verstrickt
Veceras Kritik auf Social Media richtet sich immer wieder gegen die kirchlichen Strukturen selbst. Einzelne kirchliche Funktionär*innen wünschen sich zwar, dass die Kirche umdenkt. Doch oft stellt die Gemeinschaft die eigenen Strukturen als
gottgegeben dar.
„Aber die Strukturen sind von Menschen gemacht und nicht vom Himmel gefallen. Dieses Problem gibt es an so vielen Stellen, auch beim Thema sinkende Mitgliederzahlen. Da denke ich mir: Liebe Kirche, wie lange könnt ihr diese Strukturen noch aufrechterhalten? Ihr sterbt gerade! Da müsst ihr doch innovativer sein!“
Doch die Kirche erkenne oft nicht, dass ihre Strukturen problematisch seien. Rassismus sei für sie ein Problem der anderen: Er trete auf, wenn Nationalsozialist*innen Geflüchtetenheime anzünden und Menschen mit Migrationsgeschichte verprügeln. Als ein weißer Polizist 2020 den Schwarzen Amerikaner George Floyd ermordete, verurteilten Kirchenfunktionär*innen Rassismus als Sünde. Dass die Kirche selbst in rassistische Strukturen verstrickt sei und bis heute von den Mechanismen aus der Kolonialzeit profitiere, übersehe die kirchliche Gemeinschaft gerne, sagt Vecera. Strukturellen Rassismus in den eigenen Reihen würden die Menschen ignorieren. Studierende lernen im Theologiestudium regulär immer noch nichts über diese Themen. Das System halte sich dadurch selbst aufrecht. Kirche mache sich jeden Tag weiterhin schuldig.
Ein Frau of Color im Talar
Vecera kennt ihn nur zu gut, diesen lieb gemeinten Rassismus. „Mit dir wird der Raum doch gleich viel bunter!“, hört sie immer wieder. Als sie ein Kind war, wusste sie nicht, dass jemand, der*die so aussah wie sie, Pfarrer*in sein konnte. Es gab nämlich fast keine Schwarzen Pfarrer*innen. In ihrer Kindheit sah sie sich nie repräsentiert, besonders nicht im kirchlichen Raum. Die Menschen in der Kinderbibel waren weiß, obwohl die Menschen vor über 2000 Jahren in der Region um Jerusalem wohl eher wie Vecera ausgesehen haben. Sie selbst sah eher denen ähnlich, denen sich die weißen Menschen in gnädiger Nächstenliebe zuwendeten: den Menschen auf Kollekten-Ansagen oder Spendenaufrufen. Diese kolonialen Bilder zeichnet die Gesellschaft immer wieder neu. Sie halten sich und prägen sich in das Verständnis der Menschen ein. Inzwischen hält Vecera im Weigle-Haus selbst Gottesdienste und setzt damit ein Zeichen für die BIPoCs in ihrer Gemeinde: „Einfach, indem ich als Frau of Color vorne im Talar stehe, fühlen sie sich repräsentiert und gesehen.“
Vecera ist zweifache Mutter und weiß, wie früh sich dieses Rollenverständnis bei Kindern verfestigt. Kinder sehen Hautfarben und nehmen wahr, wer welche Rolle in Büchern und Filmen einnimmt. Gerade deshalb findet es Vecera so wichtig, bei ihren Kindern Rassismus zu thematisieren: „Wenn BIPoC-Kinder alt genug sind, Rassismus zu erfahren, sind weiße Kinder alt genug, darüber zu sprechen.“ Ein wichtiger Teil in der antirassistischen Erziehung ist Repräsentation. Diverse Kinderbücher gibt es schon, sie sind aber nicht der Mainstream. Eine diverse Kinderbibel gibt es nicht, oder besser gesagt, noch nicht. Vecera arbeitet mit Kolleg*innen aktuell an so einer Bibel. Ende dieses Jahres soll sie erscheinen. Der Weg dahin war alles andere als leicht. Vielen Verlagen war das Risiko zu hoch. Vecera urteilt: „In der Politik und in den Medien gibt es überall mehr Diversität als in der Kirche. Dort ist die Angst, sich antirassistisch zu engagieren, noch sehr, sehr hoch.“
Kirche als Chance
Trotz allem sieht Vecera die Kirche nicht als hoffnungslosen Fall. Im Gegenteil: „Kirche hat Netzwerke. Sie wird gehört in unserem Land. Das ist eine unheimliche Chance.“ Auch, dass sie mehr Anfragen als Kapazität für Seminare hat und wie die Menschen ihre Arbeit online verfolgen, gebe ihr Hoffnung. Doch zu sehr stehe sich Kirche mit ihren Strukturen im Weg. Die Gesellschaft, die in den Innenstädten unterwegs ist, sieht anders aus als die, die am Sonntag im Gottesdienst sitzt. In Veceras Wahrnehmung brauche die Kirche eine plurale Gesellschaft. Wenn sich nichts ändere und sich die Kirche immer weiter vor der Realität verschließe, werde sie an Relevanz verlieren. Kirche sei schließlich nicht nur das, was sonntagmorgens passiert.
Doch auch ohne die Unterstützung der rein weißen Leitungsebene der Kirche in Deutschland hat sich Vecera mit anderen BIPoCs innerhalb der Kirche einen Raum erschlossen. Gut 30 Menschen aus ganz Deutschland umfasst ihr Netzwerk. Einmal im Monat treffen sie sich bei Zoom. Auch wenn sich viele von ihnen noch nie physisch gesehen haben, herrscht ein vertrautes Verhältnis. Sie alle verbinden die gleichen Erfahrungen mit der Kirche: Ihr Umfeld nimmt ihre rassistischen Erlebnisse oft nicht ernst, spielt sie herunter oder wertet sie sogar ab. Für sie ist ihr Netzwerk ein sicherer Ort. Gerade deshalb ist es so bezeichnend, dass die BIPoCs sich diesen Raum selbst nehmen mussten und ihn nicht von der Kirche erhalten haben. Sie bekommen kein Geld oder Unterstützung. Vecera hält fest: „Die Leitungsebene ist weiß. Die können sich nicht vorstellen, was das für Schwarze Menschen bedeutet. Sie sehen Probleme von Schwarzen Menschen nicht, weil sie die Welt aus einer rein weißen Perspektive sehen.“
Ein Buch, das sich Vecera in ihrer Jugend gewünscht hätte
Über all diese Erfahrungen hat Vecera ein Buch geschrieben: „Wie ist Jesus weiß geworden? – Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus“. Es ist das Buch, das sie sich als Jugendliche gewünscht hätte. Darin enttarnt sie Rassismus in der Kirche. Ein halbes Jahr hat sie dafür Stichworte gesammelt und vier Monate geschrieben. Immer wieder musste sie sich in ihrem Umfeld rückversichern, dass es wirklich wichtig ist, was sie da macht. Doch wie zentral dieses Buch ist, zeigt der Fakt, dass es fast keine deutschsprachige Literatur zu Kirche und Rassismus gibt. Es fehlt an vielen Stellen an Vokabular – und an Verständnis. Kirche in Deutschland steht noch immer am Anfang des antirassistischen Weges. Doch Menschen wie Sarah Vecera sorgen dafür, dass sie die ersten Schritte geht.
Fotos: Charlotte Groß-Hohnacker