Freiwillige Fremde – Wie das Ehrenamt unsere Gesellschaft zusammenhält

In Deutschland engagieren sich rund 29 Millionen Menschen für das Gemeinwohl: von Sport und Kultur über Politik und Umwelt bis hin zum sozialen Bereich. Wird das Ehrenamt in unserer Gesellschaft genug anerkannt – und wie viel trägt der Staat dazu bei?

Die Türen gehen auf und sofort bauen die Helfer*innen vom Wärmebus ihren Stand auf. Vor dem Dortmunder Hauptbahnhof hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Die Menschen wissen, was jetzt kommt. Ein Mann umschlingt seine Arme vor Kälte und fragt, wann es endlich losgeht. „Immer mit der Ruhe“, antwortet eine Helferin. Auf einen Tisch legt sie Brötchen, Kuchen und Fünf-Minuten-Terrinen. Daneben gibt es heiße Getränke: Kaffee, Kakao oder Zitronentee. Immer mehr Menschen tummeln sich vorm Hauptbahnhof. Manche wollen ihren Zug erwischen und schauen nur nebenbei, was hier vor sich geht. Die anderen stehen in der Schlange und warten darauf, etwas zu Essen zu bekommen. Sie sind auf die freiwillige Hilfe von Fremden angewiesen.

„Kuchen?“, fragt eine Helferin. „Ja sicher!“, ruft eine Frau. Der Kuchen ist beliebt. Trotzdem fragt ein Jugendlicher: „So spät noch Kuchen?“ Ein Mann teilt lautstark die Fußballergebnisse mit – der BVB spielt zeitgleich. „2:1 Schlotterbeck!“ Die alltäglichen Themen sind für die Menschen hier vor dem Wärmebus dieselben wie für alle anderen.

Alles läuft schnell ab und irgendwie distanziert. Reihe für Reihe. Viele der Menschen sagen Danke und schenken ein Lächeln. Andere wirken eher kühl und kurz angebunden. Sie sind eben hier, um zu essen. Eine Frau steht mit nackten Füßen auf dem Beton. Ein Helfer reicht ihr dicke Wollsocken aus dem Wärmebus.

Thomas Ohm, Stadtbeauftragter Malteser Dortmund. Foto: Thomas Ohm
Thomas Ohm ist Stadtbeauftragter der Malteser Dortmund. Foto: Thomas Ohm

Das Ehrenamt als Schlüsselrolle in unserer Gesellschaft

Thomas Ohm ist seit 40 Jahren ehrenamtlich tätig und heute Stadtbeauftragter bei den Maltesern in Dortmund. Die Malteser sind eine katholische Hilfsorganisation, die sich um Menschen in Not kümmert. „Ein Ehrenamt bringt einen im Leben weiter“, sagt er. „Bei uns können die Menschen Selbstbewusstsein lernen.“ Ihnen würde es leichter fallen, Krisen zu meistern und sie könnten souveräner mit Konfliktsituationen umgehen. Jedoch müssten Ehrenamtliche auch aufpassen, nicht zu viel zu machen. „Wir versuchen die Menschen darauf hinzuweisen, dass sie sich nicht überfordern.“ Denn das Wertvollste, was die Helfenden mitbringen, sei ihre Zeit.

Gerade heute werde das Ehrenamt mehr gebraucht denn je. Ohm spricht die Krisen der vorigen Jahre an: „Ich bin so stolz auf unsere Stadtgesellschaft, was die auf die Beine gestellt hat für die Menschen, die zu uns gekommen sind. Das ist unfassbar und zeichnet unsere Gesellschaft aus. In der Krise halten wir zusammen. Ob bei Hochwasser, Corona oder während der Flüchtlingswelle. Wir konnten Notleidende immer unterstützen.“

Freiwillige Arbeit stärkt den sozialen Zusammenhalt

Gabriele Flößer ist Professorin für Sozialpädagogik an der TU Dortmund. Die Zivilgesellschaft beschreibt sie als zentralen Ort, an dem viele Leistungen erbracht werden und wo am Klima des sozialen Zusammenhaltes gearbeitet wird. Hier trage das Ehrenamt immens dazu bei. „Viele der Bereiche, die ehrenamtlich geleistet werden, fördern soziales Bewusstsein“, betont die Professorin.

Das Prinzip Ehrenamt versteht Flößer als Demokratie, die von unten nach oben wächst. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger bildet dabei die Basis für das, was der Staat noch ergänzend tun muss. Die Regierung müsse Maßnahmen treffen, denn so ein großes Thema wie Armut könne das Ehrenamt beispielsweise nicht allein auffangen. Für bestimmte andere Dinge müsse der Staat aber auch nicht zentral da sein. Flößer ergänzt: „Wir sind sehr stolz drauf, dass wir die Pluralität, die in der Gesellschaft vorherrscht, durch das ehrenamtliche Engagement abbilden und damit erhalten und stärken.“ So helfe das Ehrenamt eben nicht nur das Selbstbewusstsein zu stärken, sondern auch das eigene Verantwortungsbewusstsein zu spüren.

Das Lager vom Wärmebus in der DEKRA-Akademie
Das Lager des Wärmebusses in der DEKRA-Akademie. Foto: Teresa Gehrung Rodriguez

Die Ressourcen werden knapp

Beim Wärmebus am Bahnhof ist das heiße Wasser fast leer. Immer noch stehen Bedürftige an, die auf Essen warten. Einer der Helfenden fragt: „Was machen wir jetzt? Wir müssen doch noch zum Stadtgarten, und durch den Westenhellweg wollten wir auch noch.“ Bei den Vorbereitungen im Lager hatte er erzählt, dass vor einem Laden immer derselbe Mann liegt, den sie versorgen. Man spürt sein Verantwortungsgefühl: „Die Menschen am Stadtgarten warten auch auf uns und haben Hunger.“ Kurzerhand räumen die Helfer*innen vom Wärmebus alles zusammen. Ein paar Menschen am Bahnhof gehen leer aus. Das Prinzip ist klar: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Am Stadtgarten herrscht eine andere Stimmung als am Hauptbahnhof. Hier werden Drogen konsumiert. Die Menschen humpeln teilweise, laufen gebückt, sehen erschöpft aus. Die Gesichter sind müde und vom Leben gezeichnet. Ein Mann hat tiefe Augenringe und rote Augen. Die Helfenden verteilen das übrige Essen.

Wird die ehrenamtliche Arbeit zu wenig wertgeschätzt?

Die Touren beim Wärmebus helfen Thomas Ohm, seinen ehrenamtlichen Akku wieder aufzuladen, wie er sagt. „Es gibt nichts Schöneres, als in ein dankbares Gesicht zu blicken“, schwärmt Ohm. Dennoch könne es nie genug Wertschätzung geben. „Leider Gottes gibt es einen Teil der Bevölkerung, der das Ehrenamt als selbstverständlich ansieht. Das kann man als Undankbarkeit auslegen.“

So komme es immer häufiger vor, dass Helfende im Rettungsdienst oder Katastrophenschutz angepöbelt werden. „Viele Menschen vergessen, dass es uns seit drei Generationen in einer Demokratie gut geht und wissen nicht, wie schlecht es schon mal gewesen ist“, sagt Ohm. Er spricht ein Statement der CSU-Politikerin Andrea Behr an, die bei einer Podiumsdiskussion erklärte, Kinder von Bürgergeldempfänger*innen könnten doch zur Tafel gehen. Der Malteser-Stadtbeauftragte findet: „Das ist keine Wertschätzung dem Ehrenamt gegenüber.“ Stattdessen sollten sich alle die Frage stellen, warum es die Tafel überhaupt geben muss.

Welche Rolle spielen der Staat und die Gesellschaft?

Auch Sozialpädagogin Gabriele Flößer äußert sich kritisch darüber, dass Tafeln notwendig sind. „Der Staat müsste das Existenzminimum so ausgestalten, dass die Leute genug Essen haben und sich das auch selbst leisten können“, sagt sie. Für diese Grundbedürfnisse müsse der Staat in die Pflicht genommen werden. Hier stellt sich die Frage der Balance zwischen beiden Seiten: Wieviel mehr muss der Staat tun und wieviel ist es uns wert, dass wir dennoch zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Tafel haben? Flößer erklärt, dass der Staat durch gesetzliche Grundlagen festlegt, in welchen Bereichen gefördert werden soll. „Wir haben einen sehr ausgeprägten Sozialstaat.“ Trotzdem gebe es Leistungsbereiche, die nicht auskömmlich ausgestattet seien und verbessert werden könnten. Gerade im sozialen Bereich wird immer wieder darum gekämpft, dass der Staat seinen Verpflichtungen nachkommt. Flößer sagt aber auch: „Bei allem Verständnis, aber auch die Politik hat einen begrenzten Haushalt.“

Die Sozialpädagogin fordert aber vor allem eines: eine neue gesellschaftliche Debatte darüber, was Menschen zum Leben und zum Überleben brauchen. „Wir brauchen ein Bekenntnis dazu, dass Menschen, die in Not sind, dieses Schicksal nicht gewählt haben, sondern die Unterstützung von allen Seiten benötigen – vom Staat, vom Ehrenamt, von ganz vielen Seiten – um aus dieser Notsituation wieder herauszukommen.“ Dafür werden Mindeststandards benötigt. Und die Ansicht, dass das ein vorübergehendes und lösbares Problem ist. „Wir sollten lieber darüber nachdenken, wie wir Menschen in Not helfen, anstatt in Frage zu stellen, ob überhaupt Hilfe benötigt wird.“ Gerade das Ehrenamt sei darauf angewiesen, dass die Menschen, die nicht in Not sind, Verständnis für Menschen in einer Notlage aufbringen können.

Der Wärmebus vor dem Dortmunder Hauptbahnhof
Der Wärmebus vor dem Dortmunder Hauptbahnhof. Foto: Teresa Gehrung Rodriguez

Ehrenamt: Zwischen Eigenverantwortung und politischer Unterstützung

Thomas Ohm sieht auch, dass bei manchen Menschen die Eigenverantwortung gestärkt werden müsse. Dennoch gibt es für ihn Bereiche, in denen die Politik sich zu wenig einsetzt oder sogar bürokratische Hürden aufbaut: Ehrenamtliche Helfer*innen wird bei öffentlich-rechtlichen Einsätzen keine Lohnfortzahlung gewährt, etwa bei einer Bombenentschärfung. Wer seinen Arbeitsplatz verlässt, muss sich Urlaub nehmen. Im Gegensatz zu den Helfer*innen der freiwilligen Feuerwehr. „Solche Hürden erschweren die Arbeit“, sagt Ohm.

„Es würde schon reichen, wenn Politiker das Ehrenamt einfach mal ohne Anlass loben und das Lob nicht aufhört, wenn der Anlass weg ist.“ Ohm spricht die Flutkatastrophe im Ahrtal an. Hier wurde das Ehrenamt händeringend gebraucht. Die Politik versprach, den Katastrophenschutz zu stärken. „Als keiner mehr darüber gesprochen hat, wurden ganz viele Katastrophenschutzmittel gekürzt“, erklärt Thomas Ohm. Dabei müsse der Staat doch deutlich mehr Geld für ein funktionierendes Ehrenamt in die Hand nehmen. „Unsere Autos, auch wenn wir katholisch sind: Die fahren nicht mit Weihwasser.“ So reiche der gute Wille im Ehrenamt allein leider nicht aus, die anfallenden Kosten zu decken.

 

Beitragsbild: Teresa Gehrung Rodriguez

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