„Sensation ist erstmal nichts Schlimmes“: Warum True Crime boomt

Aufräumen, joggen oder Bahn fahren und dabei einen Podcast hören. True Crime wählen Podcasthörer*innen dafür gerne. Wie normal ist es, sich zur Unterhaltung blutrünstige Mordverbrechen anzuhören? Ein True-Crime-Experte erklärt, warum das unproblematisch ist.

„Hey, schon die neue Folge von ‚Mordlust‘ gehört?“ Jeden zweiten Mittwoch bekomme ich diese Nachricht so oder ähnlich von meiner besten Freundin. Wir sind wahre True-Crime-Fans: Nachts eine Dokumentation über den Serienmörder H. H. Holmes schauen? Wir sind dabei! Oder zum Einschlafen eine Folge von „Medical Detectives“ hören? Wieso nicht?

Lost Place: blutiger Handabdruck.
Das True-Crime-Format ist mittlerweile fester Bestandteil in der Medienlandschaft. Symbolfoto: Louisa Regelmann

Damit sind wir nicht allein. Wie uns geht es vielen Menschen in Deutschland: Vier der zehn reichweitenstärksten Podcasts gehören dem True-Crime-Genre an. Das geht aus der True-Crime-Studie des Online-Marketing-Unternehmens Seven.One Audio aus 2022 hervor. True Crime ist mittlerweile fest in unserer Medien- und Kulturlandschaft verankert. Aber ist es nicht makaber, perfide und geschmacklos, sich vom Leid anderer Menschen unterhalten zu lassen? Und besonders: Kann man in der Hinsicht von einem besorgniserregenden Trend sprechen?

Jan Harms ist Medien- und Kulturwissenschaftler und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit True-Crime-Formaten. Im Interview spricht er über die Faszination von True-Crime und erklärt, ob der Hype bedenklich ist.

Herr Harms, Podcasts und YouTube-Video laufen häufig nebenbei. Währenddessen können wir aufräumen und die Wäsche machen. Finden Sie es bedenklich, dass True Crime neben alltäglichen Tätigkeiten konsumiert wird?

Porträt von Jan Harms
Jan Harms ist Medien- und Kulturwissenschaftler und True-Crime-Experte. Foto: Leyli Sahin

Von bedenklich würde ich nicht sprechen, aber natürlich verdient das Genre einen kritischen Blick. Es erlegt sich selbst eine besonders große ethische Verantwortung auf, da es nicht irgendwelche Geschichten erzählt, sondern Geschichten, die mit Verbrechen zu tun haben, hinter denen reale Menschen stehen.

Worum geht es im Genre „True Crime“?

Die einfachste Definition wäre vielleicht: Es geht um das Erzählen von wahren Verbrechen. Wir haben es bei True Crime aber aktuell mit einer wahnsinnigen Vielfalt zu tun, was Medienformen angeht, aber auch, was Inhalte und Ausrichtungen betrifft.

Wieso konsumieren Menschen True Crime so gern?

Man kann von unterschiedlichen Motivationen ausgehen. Manche Formate legen ein Interesse an wissenschaftlichen, forensischen Methoden nahe, also einen Wissensdurst. Manche sind investigativ und rollen alte Fälle ganz neu auf. Sicherlich gibt es auch die Formate, die in erster Linie unterhalten wollen. Es gibt aber auch explizit politische Formen von True Crime. Dementsprechend vielfältig sind die Motive bei den Rezipient*innen.

Wo ist das Genre überall zu finden?

True Crime findet sich zum Beispiel in Dokus, bei Streaming-Anbietern, in YouTube-Videos, ganz besonders im Bereich Podcasts und alles ist natürlich über Social Media vernetzt. Aber wir finden True Crime auch nach wie vor im Zeitschriftenregal in der Bahnhofsbuchhandlung. Es gibt Bücher, es gibt Kartenspiele, es gibt aber auch etwas, woran man vielleicht nicht als erstes denkt: zum Beispiel die Stadtführung, bei der es darum geht, die Kriminalgeschichte einer bestimmten Stadt zu erkunden.

Studie zur Darstellung von favorisierten True-Crime-FormatenDarstellung von favorisierten True-Crime-Formaten. Grafik: Louisa Regelmann

Wie hat sich das Genre in den letzten Jahren entwickelt?

Es gibt frühmoderne Formen, die sich darunter fassen lassen. Schon im 19. Jahrhundert gab es True Crime, besonders bei Zeitschriftenpublikationen wie der National Police Gazette. Sie erschien von 1845 bis 1977 und berichtete über eine Mischung unterschiedlicher, boulevardesker Themen, besonders über aufsehenerregende Verbrechen. Einen ersten richtig großen Boom gab es in den 80er- und 90er-Jahren, in denen eine Reihe von Büchern und erste Fernsehserien erschienen sind. Das, was True Crime in den letzten Jahren ausmacht, ist die Auseinandersetzung in besonders großem Detail. Also zum Beispiel in Podcasts und Serien. Hier finden sich auch kritische Formen von True Crime, die zum Beispiel die Polizei nicht mehr als einzige Quelle verwenden, sondern deren Arbeit in Frage stellen: Was ist vielleicht bislang unbeachtet geblieben?

Kann True Crime als gewaltverherrlichend wahrgenommen werden, wenn die Konsument*innen die Inhalte zur Ablenkung oder Unterhaltung nutzen?

Von Verherrlichung würde ich in ganz wenigen Fällen sprechen. Es kann aber verharmlosend sein und mit Sicherheit häufig etwas geschmacklos.

Tatort: Gelbes Absperrband mit "Police".
Sensation sei erstmal nichts Schlimmes, sagt True-Crime-Experte Jan Harms. Symbolfoto: Louisa Regelmann

Wie sieht es mit den Medienschaffenden aus? Es gibt eine YouTuberin, die sich schminkt, während sie einen wahren Mordfall erzählt. Beim bekannten deutschen Podcast „Mord auf Ex“ trinken die Hosts Wein, während sie über einen Mordfall sprechen. Ist das nicht genau das: perfide und gewaltverherrlichend?

Meiner Erfahrung nach finden sich sicherlich kritische Punkte. So sind die Beschreibungen von Verbrechen oftmals sehr sensationalistisch oder es wird viel zu unvorsichtig mit Persönlichkeitsrechten umgegangen. Eventuell finden sich aber auch Punkte, die es erlauben, kritisch über gesellschaftliche Zusammenhänge nachzudenken. In den USA gibt es einen sehr populären Podcast, „My Favourite Murder“, der auch Kritik auf sich zieht. Man merkt schon am Titel: Es geht um die Lieblingsmorde. Das ist vielleicht erstmal nicht besonders geschmackvoll, aber es geht immer wieder darum: Was sind die Gründe für Verbrechen? Und wie könnten wir die Welt zusammen zu einem sichereren Ort machen?

Inwieweit beeinflusst der Konsum von True Crime die Gesellschaft noch?

Er beeinflusst, wie wir kulturell über Verbrechen denken und sprechen können. Welche Art von Verbrechen thematisieren wir und in welcher Weise? Wie reden wir über Täter*innen, wie reden wir über Opfer? Wie gehen wir mit der Verantwortung um? Inwiefern beziehen wir Perspektiven ein, die sich auf eine Opferperspektive richten? Und was erzählen wir lieber nicht?

Haben Sie konkrete Beispiele, was wir lieber nicht erzählen sollten?

Alles, was mit einer Ausschlachtung von Details einhergeht, die Opfer womöglich nicht in der Öffentlichkeit haben wollen.

Würden Sie dann von Sensationsgeilheit sprechen?

Ein Interesse an Sensation ist erstmal nichts Schlimmes. Das würde ich nicht grundsätzlich kritisieren. Es gibt einen Grund, warum bestimmte Ereignisse großes Interesse bei Menschen auslösen. Eben, wenn sie gesellschaftlich relevant und diskutabel sind. Dann ist es besonders wichtig, zu schauen: Wie geht True Crime mit besonders spektakulären Verbrechen um?

Gibt es im True-Crime-Genre aktuell Schwachpunkte?

Bei aller Vielfalt gibt es immer noch einen extremen Schwerpunkt auf Serienmörder-Narrative. Das ist ein Phänomen, was in der Realität zum Glück äußerst selten vorkommt. Im Gegensatz dazu sind sehr häufige Formen von Gewalt, wie häusliche Gewalt, Gewalt in Partnerschaften und Familien, innerhalb des Genres oft unterrepräsentiert. Die Gesellschaft geht eher von dem monströsen Serienmörder aus, der völlig außerhalb der Gesellschaft steht. In der Realität aber kommt die Form der Gewalt, die in unserer unmittelbaren Umgebung stattfindet, häufiger vor. Auch Wirtschaftskriminalität ist in True-Crime-Formaten unterrepräsentiert. Das wird eher selten erzählt, vielleicht, weil es schwieriger zu erzählen ist.

Das Serienmörder-Narrativ bringt oft Kritik mit sich. Kommen die Opfer dabei nicht zu kurz?

Es gab vor anderthalb Jahren die Netflix-Serie „Dahmer“ über den Serienmörder Jeffrey Dahmer, bei der das Thema besonders hochgekocht ist. Zu Recht, wie ich finde, weil es ein weiteres Mal die Geschichte aus der Perspektive des Täters erzählt. Die Serie hat zwar versucht, Opferperspektiven einzubeziehen. Jedoch ist Netflix seiner Verantwortung nicht nachgekommen, zum Beispiel, im Vorfeld mit Angehörigen zu sprechen.

Studie zur Darstellung von Situationen, in denen True-Crime-Podcasts gehört werdenDarstellung von Situationen, in denen True-Crime-Podcasts gehört werden. Grafik: Louisa Regelmann

Stichwort Verantwortung: Wie denken Sie darüber, dass teils Podcasts ohne journalistische Ausbildung über solche Fälle berichten?

Es kommt darauf an, wie es gemacht ist und was der Anspruch hinter dem Podcast ist. So kann es Möglichkeiten geben, dass Betroffene darin selbst die Stimme erheben und Stimmen zu Wort kommen können, die bislang im öffentlichen Diskurs vernachlässigt wurden.  Andererseits gibt es die Gefahr, dass in den Blogs so getan wird, als gäbe es eine Expertise. Zum Beispiel, dass bestimmte Sachen über küchenpsychologischen Mechanismen erklärt werden.

Die Serie „Dahmer“ hat viel mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Posts wurden verfasst, die Dahmer nahezu glorifizierten. Fan-Edits mit Herzchen untermalten die plötzliche Beliebtheit der Serie oder gar der von Dahmer selbst. Dass es Menschen gibt, die Mörder*innen attraktiv finden, ist nichts Neues. Nimmt die Glorifizierung der Täter*innen in der heutigen, digitalen Welt ein anderes Ausmaß an?

Wie schon damals muss man sich auch heute immer die Fragen stellen: Wie oft passiert es, dass Menschen Täter verherrlichen, und passiert das wirklich überall? Trotzdem kann ich gut verstehen, dass es kritische Punkte gibt. Durch Social Media werden solche Ansichten besonders sichtbar und Täter schnell als „düstere Celebrities“ gefeiert. Wichtig zu betonen ist, dass sich die Kritik daran ganz oft auch auf Social Media findet. Social Media bietet hier den Rahmen für beides, enthält also kritikwürdige Phänomene, aber liefert die Kritik häufig schon mit.

Tatort: Kreideumrisse einer Leiche mit Blut.
Jan Harms, True-Crime-Experte, ist der Meinung, dass das Genre bestehen bleiben wird. Symbolfoto: Louisa Regelmann

Also reflektieren sich die Rezipient*innen beim Konsumieren selbst?

Wer sich zum Beispiel anschaut, was auf Social Media an Memes zirkuliert, die den eigenen True-Crime-Konsum problematisieren, kann das so sehen. Wichtig finde ich aber, zu sagen: Reflektion schützt nicht vor Kritik. Auch wenn ich sehr reflektiert bin, sollte ich mir als Rezipient überlegen: Will ich diesen Inhalt weiterhin so rezipieren, wie ich das tue?

Ist der True-Crime-Trend aus Ihrer Sicht besorgniserregend?

Sorgen macht er mir nicht. Aber es lohnt sich immer, kritisch und genau hinzuschauen, was Medienmacher*innen erzählen, wenn sie wahre Verbrechen thematisieren: Wo werden eventuell wichtige Debatten angestoßen, wo werden aber vielleicht auch Opfer von Verbrechen und ihre Angehörigen durch True Crime ein zweites Mal in Mitleidenschaft gezogen?

Wird der Trend weiterhin anhalten oder gibt es Anzeichen dafür, dass er sich verändern könnte?

Ich glaube in jedem Fall, dass uns das Genre nicht so schnell verlassen wird. Ich denke aber auch, dass sich es sich weiter wandeln wird. Es ist fest davon auszugehen, dass immer wieder neue Medienformen adaptiert werden.

 

Beitragsbild: Louisa Regelmann (Symbolfoto)

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