Vom Nutztier zur Kuschelkuh – Das Konzept des Kuhkuschelns

In ihrem Stall wird ganz ausgiebig geku(h)schelt: Auf dem Hof von Simone Möller werden Rinder weder gemolken noch geschlachtet. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit Kuscheln. Wie das außergewöhnliche Konzept unsere Beziehung zu Tieren verändern kann.

Dunkle Wolken hängen über Meinerzhagen. Es ist kühl. Vier Grad nur. Von der Sonne ist keine Spur zu sehen. Ein Hahn kräht. Kikeriki. Kikeriki. In der Ferne das leise Plätschern eines Baches. Ansonsten herrscht Stille. Bis sich plötzlich ein Auto nährt. Langsam tuckert es den Berg herauf und kommt zum Stehen. Direkt vor dem großen, eisernen Tor. Direkt vor dem Bergwaldhof.

Simone Möller guckt aus dem Fenster und sieht, dass immer mehr Autos kommen. Menschen steigen aus. Ein junges Pärchen, zwei Frauen, ein Vater mit seiner Tochter. Sie alle stehen jetzt vor dem Tor und blicken sich um. Neben dem Tor steht ein großes Schild. „Liebe Kuhkuschler! Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Bitte warten Sie hier vor dem Tor.“ Und das tun sie. Bis Simone aus der Tür heraustritt und mit großen Schritten auf die Menge zuläuft.

Zucht? Nein danke! Kuscheln? Immer her damit!

Kuhkuscheln. Dass Simone das irgendwann einmal anbietet, hätte sie nie gedacht. Vor 24 Jahren hat sich bei ihr noch alles um die Zucht von Hinterwäldlern, einer kleinen Rinderrasse aus dem Schwarzwald, gedreht. Doch als nach einigen Jahren einer der kleinen Bullen, Silvan, von seiner Mutter verstoßen und von Simone mit der Flasche großgezogen wurde, war ihr klar, dass sie ihn nicht weiter für die Zucht einsetzen möchte. Zu eng war ihre Bindung. Irgendwie sollte jedoch auch er sich sein Futter verdienen.

Was ist der Unterschied zwischen Rind und Kuh?
Nicht alles, was auf der Weide steht und vier Beinen hat, ist immer eine Kuh. Meistens spricht man von einem Rind. Das Wort „Rind“ ist ein Überbegriff, welches sowohl weibliche als auch männliche Tiere umfasst. Alles ist also ein Rind. Und dann?

Bis zum fünften Lebensmonat wird ein Rind Kalb genannt. Danach unterscheidet sich die Bezeichnung je nach dem Geschlecht. Männliche Rinder sind dann Jungbullen. Sobald sie geschlechtsreif sind, heißen sie Bulle oder Stier. Bei männliche Rindern, die kastriert sind, lautet die richtige Bezeichnung Ochse.

Weibliche Rinder bezeichnet man vor der Geschlechtsreife als Jungrind, danach spricht man von einer Färse. Erst ab Geburt des ersten Kalbes heißt ein weibliches Rind dann Kuh. Auch wenn man im Alltag zu allem Kuh sagt, sind tatsächlich nur weibliche Rinder, die bereits Nachwuchs bekommen haben, wirklich Kühe.

Genau zu dem Zeitpunkt las Simone über das Kuhkuscheln in den Niederlanden. „Und dann habe ich gedacht: Naja gut, was die Niederländer können, können die Sauerländer auch.“ Anfang 2009 brachte sie die Idee nach Deutschland. 35 Euro für zwei Stunden Kuscheln mit Tieren, denen man im Alltag eher seltener begegnet. Dazu noch ein bisschen Theorie. Ein guter Deal, wie viele wohl fanden, denn als erste deutsche Anbieterin rannten ihr die Leute regelrecht den Stall ein.

Pauline ist eine Holstein Friesian und eine neugierige Schmuserin.

Nach einigen Jahren beendete Simone mit ihrem Mann die Zucht. Ihre Rinder waren keine Nutztiere mehr. Sie durften einfach ihr Leben genießen und in Ruhe alt werden. Neue Rinder kamen dazu. Besonders für ältere Milchkühe sollte der Bergwaldhof das letzte Zuhause werden. Simones Traum von einem Kuh-Altersheim war erfüllt. „Sie genießen hier jetzt ihre Rente. Oder Frührente“, sagt Simone und schmunzelt. Aus ihrem landwirtschaftlichen Betrieb mit Zucht hat sie einen Lebenshof für Kühe gemacht.

Lebenshof als neues Zuhause?

„Unsere gesellschaftliche Wahrnehmung verstellt uns manchmal den Blick zu bestimmten Tieren. Viele Menschen kommen ja gar nicht mit Nutztieren in Kontakt in ihrem täglichen Leben, mit Haustieren dagegen schon“, weiß Markus Kurth. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Mikrosoziologie an der Universität Kassel forscht er heute zu Beziehungen zwischen Mensch und Haustier. Mit Nutztieren hat er sich in seiner Masterarbeit beschäftigt. Und damals herausgefunden: Menschen neigen dazu, Tiere zu kategorisieren. „Da sind wir gleich bei dem entscheidenden Punkt. Wo entwickeln Menschen denn zu Nutztieren noch eine persönliche Beziehung? Das gibt es kaum, dass jemand erzählen kann: Ja, übrigens Kuh X ist ganz anders als Kuh Y.“

Die Lösung? „Wir brauchen erst einmal überhaupt eine Beobachtung, eine Sensibilität, um zu begreifen, was so ein Tierindividuum eigentlich kann. Und das gelingt in der persönlichen Beziehung am besten“, erklärt Markus Kurth. In seiner Masterarbeit hat er damals auch zu dem Konzept von Lebenshöfen geforscht. „Ein Lebenshof ist eine tolle Idee. Das ist eine sehr schöne Möglichkeit, einen Ort für alternative Tier-Mensch-Beziehungen zu schaffen.“ Für die Tiere bedeute das erst einmal ein längeres Leben, betont Markus Kurth. „Gerade bei Kühen, die können ja dann noch alt werden.“ Oft läge das typische Schlachtalter sehr weit weg von dem, welches Kühe außerhalb der Massentierhaltung erreichen könnten.

Zu Kuhdame Heidi hat Simone Möller eine ganz besondere Bindung.

Herzenskuh Heidi

Wie beim mittlerweile groß gewordenen Ochse Silvan, der das ganze Projekt ins Rollen gebracht hat. Er ist inzwischen stolze 15 Jahre alt und der älteste Ochse auf dem Hof. Simone hat ihr Herz auch einer besonderen Dame geschenkt: Heidi. Sie wuchs auf einem Milchviehbetrieb auf und war dort ab ihrem zweiten Lebensjahr als Milchkuh tätig. Heidi gab bis zu 8.500 Liter Milch im Jahr, bekam mehrere Kälber, die sie aber nicht selbst großziehen durfte.

2014 kreuzten sich die Wege von Heidi und Simone. Simone arbeitete auf dem Milchviehbetrieb, auf dem Heidi lebte. „Da stand plötzlich eine Kuh mit einem weißen Kopf neben mir und schaute mich an. Heidi, die einzige Fleckvieh-Kuh unter lauter Holsteins. Von da an war unsere Freundschaft besiegelt. Wir sind ein echtes Team“, erzählt Simone. Nach drei Jahren kaufte sie Heidi frei. Sie war die erste gerettete Kuh auf dem Bergwaldhof. Konnte dort endlich ihr erstes eigenes Kalb großziehen. Mittlerweile lebt sie mit 21 anderen Rindern auf dem Hof und guckt neugierig um die Ecke, als die Kuhkuschler*innen das Gelände betreten.

Kühe erleben mal anders

Simone begrüßt die Teilnehmer*innen. „14 stehen hier auf meiner Liste“, sagt sie und guckt in die Runde. 14 Leute. Passt. Doch bevor es zu den Kuschelkühen geht, müssen sich alle ihre Schuhe desinfizieren. Das ist vom Veterinäramt so vorgegeben, erklärt Simone. Nachdem alle über eine Matte voller Wasser, Seife und Chemikalien gestapft sind, geht es los. „Dann gehen wir mal Richtung Stall“, informiert Simone.

Erster Stopp: die beiden Ochsen Silvan und Gandalf. WG-Kumpels. Sie stehen getrennt von der Herde in einem kleinen Stall ganz vorne. Die beiden sind nicht mehr die größten Kuschler, deshalb versammelt sich die Gruppe in einem großen Kreis um den Stall. Simone erzählt von der Landwirtschaft und dem Hof. Wie alles begann. Außerdem geht es um die Hörner der Rinder. Viele haben nämlich keine mehr, weil sie ihnen als Jungtiere auf den Viehbetrieben entfernt wurden. Für die Landwirt*innen bedeuten Hörner Verletzungsgefahr, für andere Rinder, aber auch für sie selbst.

Wusstet ihr schon?
Jedes Rind hat laut der Studie „The Psychology of Cows“ eine individuelle Persönlichkeit. Genauso wie wir Menschen können sie neugierig, schüchtern oder auch draufgängerisch sein. Und: Sie erkennen sich gegenseitig und haben sogar Freunde.

Mit Kurzsichtigkeit müssen sich viele Menschen täglich rumschlagen. Auch Rinder sind kurzsichtig. Deshalb erkennen sie andere Rinder besonders durch ihren Geruchssinn, betont die Studie. Durch verschiedene Botenstoffe können sie sogar Gefühle wie Angst vermitteln.

Wenn Rinder ein Familienmitglied verlieren, trauern sie. Wie wir Menschen können sie, wenn sie Traurigkeit empfinden, sogar weinen. Das passiert laut der Studie besonders oft in Milchbetrieben, wenn die Kuh schon nach kurzer Zeit von ihrem Kalb getrennt wird. Auf der anderen Seite spüren Rinder auch Gefühle wie Freude oder Fürsorge.

Rinder können bis zu 25 Jahre alt werden. Im Milchbetrieb sieht das jedoch anders aus. Hier wird eine Milchkuh nur fünf Jahre alt. Das liegt vor allem daran, dass sie für höhere Milchleistungen gezüchtet wird. Laut dem Lehr- und Forschungszentrum für Landwirtschaft Raumberg-Gumpenstein besteht dadurch eine höhere Anfälligkeit für Krankheiten.

Kuschelfieber

Außerdem benötigen Hörner Platz. Wirtschaftlich also ein dickes Minus. Deshalb heißt es meist schon nach vier Wochen: Hörner ab. Nimmt Simone Rinder aus anderen Betrieben auf, sind die Hörner meist ab. Simone selbst entfernt sie nicht. Die Tiere, die auf ihrem Hof geboren werden, dürfen ihre behalten. Simone hat zwei abgebrochene Hörnerspitzen dabei, als Anschauungsmaterial. Ein Raunen geht durch die Menge. Auch Silvan und Gandalf gucken neugierig, was Simone da in der Hand hat.

Erste Annäherungen zwischen Kuhkuschlerin Lina und Hinterwäldler Kuh Lina.

Jetzt geht es in den großen Offenstall. Zwar haben die Rinder das ganze Jahr Zugang zur Weide, aber bei dem Sauerländer Schmuddelwetter findet das Kuschelprogramm heute in der Aktivstall-Anlage statt. Das heißt: Es gibt innenliegende Strohflächen und befestigte Außenbereiche. Die Rinder können also frei wählen: Lieber im trockenen Stall liegen oder draußen auf der Freifläche den frischen Herbstwind genießen. Vorne im Offenstall ist die Rentnerbande. Die Rinder, die sich in der größeren Herde nicht ganz so wohl fühlen. Sie haben sich für die erste Option entschieden. Gemütlich liegen sie in den Strohbergen. Die Gruppe geht weiter, zum größten Bereich ganz hinten. Dort sind die richtigen Kuschelkühe. Und da dürfen sich die Kuhkuschler*innen jetzt austoben.

Gestern Nutztier, heute Kuschelkuh

Dr. Simone Horstmann hält das Kuhkuscheln für „gar nicht verkehrt“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund und beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Tierethik, zum Beispiel mit der Gewalt an Tieren. Und der Begriff Kuhkuscheln sei davon maximal weit entfernt. „Die moralische Wertigkeit bemisst sich daran, ob das Tier das auch möchte. Das kann die menschliche Bezugsperson im Idealfall relativ gut beurteilen“, erklärt Horstmann.

„Solche Angebote geben uns die Möglichkeit, echte Erfahrungen mit Tieren zu machen. Das ist es ja, was bei uns ganz häufig fehlt. Und ich finde es unendlich wichtig, dass wir uns darauf einlassen können“, betont die Theologin. Nur dann könne man lernen, Tiere auch wirklich als Individuum wahrzunehmen. „Ehrlich gesagt ist es aber auch völlig okay, wenn Leute da rausgehen und sagen: Das war nett, aber auch nicht mehr. Erfahrungen kann man nicht erzwingen. Vielleicht beim nächsten Mal. Es ist nicht festgelegt. Das ist auch etwas Gutes.“

Kuh auf Augenhöhe

„Wer immer gerne kuschelt ist die Helle mit den Hörnern da hinten in der Ecke. Diese hier kuschelt gerne, diese Schokobraune. Dahinten liegt noch eine…“ Simone zeigt auf die verschiedenen Rinder, die es sich drinnen gemütlich gemacht haben. Draußen wird es langsam dunkel. Das gelbe Licht im Stall taucht alles in eine angenehme Wärme. Nur ein paar einzelne Rinder sind noch draußen. Knabbern am Heu. Und gucken entspannt zu den 14 Leuten, die sich gerade im Stall ihre Kuschelkuh aussuchen. Simone ist dabei wichtig, dass alle Kuschler*innen wissen, welches Rind eben gern kuschelt und welches nicht. „Der dunkelbraun Gefleckte hier vorne, der findet Kuscheln doof. Und die hellbraune Gefleckte ohne Hörner findet Kuscheln auch doof. Und bei der ist es tagesformabhängig“, erklärt sie in die Runde.

Auf dem Bergwaldhof leben 22 Rinder. Einige gehören Simone Möller, andere auch Privatpersonen oder dem Verein „Schokuhminza“.

Nach kurzer Zeit haben alle ihre Kuschelkuh gefunden. Es wird gekrault. Gestreichelt. Und den Rindern macht es genauso viel Spaß wie den Menschen. Aus jeder Ecke hört man leises Quietschen, Grunzen und sogar Schnurren. Auch Simone hat sich zu einer der Kühe gestellt. Zu Heidi, ihrer Herzenskuh. Sie legt ihre Stirn an das weiche, braun-weiß gefleckte Fell. „Ach, Heidi…“, flüstert sie leise.

Eine Plus-Minus-Null Geschichte

Der Bergwaldhof ist nicht nur ein Lebenshof, sondern auch ein Pensionshof. Bedeutet: Simone und ihr Mann haben auch Rinder von anderen Besitzer*innen in Vollpension da, um die sie sich kümmern. Und sie sind Pflegestelle. Ein paar Kühe vom Verein „Schokuhminza“ gehören auch noch zur bunten Truppe.

Und der Bergwaldhof ist auch das Zuhause von Eseln, Pferden, Hunden, Katzen und einigen Hühnern verschiedener Rassen. Zum Hof gehören außerdem 15 Hektar Fläche. Und das bedeutet für Simone und ihren Mann ganz schön viel Arbeit. Beide sind berufstätig und bewirtschaften nebenbei den ganzen Hof. Und der verschlingt einiges an Geld. Ein Rind kostet sie pro Monat um die 150 Euro. Und das mal 22.

Deshalb ist das Kuhkuscheln sehr wichtig für sie. Eine sichere Einnahmequelle. Sie haben auch ein Patenprojekt. Jedes Tier hat bis zu sechs Pat*innen, die es mit 25 Euro im Monat unterstützen. Durch die beiden Einnahmequellen wird den Rindern ein lebenslanges Wohnrecht geboten. Für Simone bleibt da nichts übrig. Oft sei es eine Plus-Minus-Null-Geschichte. Warum sie das überhaupt noch macht? „Mir gibt es auch viel zurück. Und zum anderen freue ich mich natürlich, dass diese Kühe einfach so ein nettes, schönes Leben in ihrer Herde genießen können. Das ist schon Grund genug, das zu tun. Einfach diesen Kühen diese Chance zu ermöglichen“, erzählt sie und schaut zu Heidi herüber.

Das letzte Erinnerungsfoto von Ochse Charly. Er ist Heidis Sohn und wurde auf dem Bergwaldhof geboren.

Aller Abschied ist schwer

Zwei Stunden später heißt es für die Kuhkuschler*innen dann Abschied nehmen. Das letzte Mal über das weiche Fell streicheln. Die letzten Selfies mit der Lieblingskuh. Für Simone heißt es: noch ganz viel Arbeit. Die Tiere müssen alle versorgt werden. Und am nächsten Morgen geht das Ganze von vorne los. Hofarbeit. Füttern. Ausmisten. Bei Veranstaltungen wie dem Kuhkuscheln und Patentreffen noch die ganze Vorbereitung. „Uns fehlen ehrenamtliche Helfer. Die gibt es hier in dieser Region gar nicht. Das ist ein ganz großes Problem. Wir sind Mitte 50, werden ja auch nicht jünger.“

Die Kuhkuschler*innen können jetzt entspannt nach Hause fahren. Und das mit vielen, hoffentlich wertvollen Erinnerungen an die Tiere, die Simone so am Herzen liegen. Mit dem Gefühl, Nutztiere nun anders wahrzunehmen und ein ganz besonderes Verhältnis zu ihnen aufgebaut zu haben.

 

Fotos: Fenja Lykka Langbein

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