Die Medizin hat ein Frauenproblem

Die Medizin wird weiblicher: Mehr als zwei Drittel der Studierenden sind Frauen. Das macht Probleme im Alltag in den Krankenhäusern. Expert*innen sind wegen dieser Entwicklung besorgt, Ärztinnen fordern Lösungen.

Nach und nach kommen junge Menschen in weißen Kitteln an. Ein kurzer Zwischenstopp am Waschbecken, Hände desinfizieren. Sie reden nicht viel, und wenn, dann nur leise. Wer zum ersten Mal hier ist, könnte meinen, dass Ehrfurcht der Grund dafür ist. Denn eine Tür weiter liegen unter blickdichten blauen Laken menschliche Körper. Ein Student auf dem Weg zum Anatomiekurs raunt im Vorbeigehen: „Das sind Leichen.“ Bis zum Ende des Besuchs hier bleiben sie abgedeckt.

Rund zwei Drittel der Studierenden in Münster sind Frauen. Damit steht der Medizinstudiengang Pate für alle anderen Unis. „Hätte ich nicht gedacht“, sagt eine Studentin im Anatomiekurs. Ihre Kommilitonin pflichtet ihr bei: „Ich auch nicht, aber ich finde es gut.“ Eine dritte nickt, sagt: „Mal gucken, wann sich dieser Anteil in den Führungsetagen der Krankenhäuser zeigt.“ Damit spricht sie eines der wohl größten Konfliktthemen der Medizin an: Die Medizin wird stetig weiblicher – und nicht alle finden das gut.

Eine Modellrechnung gibt Grund zur Sorge

Bernhard Marschall ist Studiendekan an der medizinischen Fakultät in Münster und zählt zu denen, die diese Entwicklung kritisch sehen. Er kennt die Zahlen genau und sie beunruhigen ihn. Knapp 65 Prozent der Studierenden in der Medizin waren 2022 Frauen. Zum Vergleich: 2002 lag der Anteil noch bei 56, 1982 bei 38 Prozent. Gut finden das die, die immer schon ein Missverhältnis gesehen haben, Marschall warnt mit einer Modellrechnung: „Um die Lebensarbeitszeit von zwei Männern zu bekommen, müsste man drei Frauen ausbilden.“ Ein anderes Missverhältnis, denn noch immer scheiden viele Frauen aus medizinischen Berufen aus, um sich um ihre Familie zu kümmern. Trotzdem steigt der Frauen-Anteil in Medizin-Studiengängen kontinuierlich. Woran liegt das?

Prof. Bernhard Marschall: Eine Modellrechnung bereitet Sorgen
Prof. Bernhard Marschall, Studiendekan an der medizinischen Fakultät der Universität Münster. Foto: Universität Münster

Marschall glaubt, den Grund zu kennen. Seine Vermutung: Die „Generation Y“ hatte in ihrer prägenden Phase verunsichernde Erlebnisse. Die Anschläge vom 11. September, die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise. „Jetzt sucht ein großer Teil dieser Generation nach Sicherheit. Und der rekrutiert einen Teil dieser Sicherheit aus Bildung. Dieses Phänomen ist gerade für junge Frauen beschrieben“, erläutert Marschall und bezieht sich dabei auf den Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann.

Der Münsteraner Dekan findet das bedenklich: „Was mich beunruhigt, ist, dass sich die Motivation, Medizin zu studieren, dadurch verschiebt. Das heißt, wir hören an den Fakultäten immer seltener die Frage: ,Was muss ich tun, um eine gute Ärztin oder ein guter Arzt zu sein?’ Viel häufiger steht die Frage im Raum, was getan werden muss, um die nächste Leistungsüberprüfung zu bestehen.“

Leidenschaft statt Sicherheit

Sini Thomas aus Essen ist gerade fertig mit ihrem Studium. Auch sie, so erzählt sie, habe Phasen erlebt, in denen sie sich von Prüfung zu Prüfung geschleppt habe. Aber ihre Motivation war eine ganz andere, wie sie betont. Leidenschaft statt Sicherheit, erzählt sie im Telefonat. Und dann sagt die 31-Jährige: „Sorry, vielleicht morgen wieder? Ich muss zu einem Notfall.“ Wenige Tage später hat sie etwas mehr Zeit. Ihr Antrieb? „Es war immer mein sehr, sehr tiefer Wunsch, Ärztin zu werden. Und diesen Wunsch konnte und kann mir kein anderes Berufsbild erfüllen.“

Ihr Lebenslauf ist geprägt vom Streben nach ihrem Berufswunsch: Studium der Biologie in Essen – Bachelor. Dann der Master in medizinischer Biologie, Auslandssemester an der Harvard Medical School in Boston. Dann der Bescheid von der Uni München: Sie darf Medizin studieren, kommt ihrem Kindheitswunsch den entscheidenden Schritt näher. Den Umzug nach München zieht sie durch mit dem Wissen, dass das ein großes Opfer für sie werden kann. Denn irgendwann könnte auch Sie vor der Entscheidung stehen: Job oder Familie.

Heute arbeitet sie im Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf als Gynäkologin – weil ihre Familienplanung noch in der Schwebe ist und das erlaubt. „Für meine eigene Karriere hatte ich immer den Plan, dass ich wohl nicht in einer Klinik arbeiten kann, sobald ich eine Familie gründe.“

Christiane Groß musste Karriereplanung an den Nagel hängen

Diese Gedanken kann Christiane Groß gut nachvollziehen. Zum einen, weil sie als Präsidentin des deutschen Ärztinnenbundes nahezu täglich mit solchen und ähnlichen Geschichten konfrontiert wird. Zum anderen konnte sie ihre eigene Karriere nicht so durchziehen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aus dem Plan, Gynäkologin zu werden, wurde nichts. 1981, sie war gerade im letzten Jahr ihres Studiums, kam ihr erstes Kind zur Welt, fünf Jahre später das zweite.

Beides parallel klappte nicht, ihr Schwerpunkt lag nach der Geburt ihres zweiten Kindes im familiären Bereich, wie sie auf ihrer Homepage schreibt. Sie entschied sich, eine Zusatzausbildung zur Psychotherapeutin zu absolvieren und sich niederzulassen. Dabei hätte sie gern ihre Zusatzausbildung zur Gynäkologin abgeschlossen. So wie ihr gehe es immer noch vielen Frauen. Denn Klinik und Familie stehen sich immer noch im Weg, sagt Groß.

Ein maßgebliches Problem für sie: „Die Kinderbetreuung ist in der Realität lange nicht so möglich, wie sie laut Gesetz vorgesehen ist. Eine Betreuung zwischen 8 und 16 Uhr reicht nicht aus, wenn man im Krankenhaus arbeitet.“

Vermutlich ist auch das ein Grund dafür, dass die Mehrzahl der Chefarzt- und Oberarzt-Stellen in den Kliniken noch immer von Männern besetzt ist. Ende 2022 lag der Anteil der Frauen in Spitzenpositionen in Krankenhäusern bei rund 14 Prozent. Ein krasser Gegensatz zu der Situation in den Universitäten.

Altmodisches Denken

Die genauen Gründe sind individuell, aber Christiane Groß weiß, dass die Betrachtung der Karriere-Wünsche von Frauen noch immer altmodisch ist. Für sie ein Grund für die herrschenden Missstände. „Frauen werden immer noch gefragt, wenn sie überhaupt oder mehr als halbtags arbeiten: Kannst Du das dem Kind gegenüber vertreten? Männer hingehen werden in der gleichen Situation gefragt: Kannst Du das Deiner Karriere gegenüber vertreten?“

Liegt das Problem immer noch im Denken? Eine Umfrage anlässlich des Weltfrauentags 2024 legt den Verdacht nah. Die Meinung, dass ein Mann, der sich zuhause um die Kinder kümmert, nicht wirklich ein Mann sei, teilt immerhin mehr als ein Drittel der Befragten, die zwischen 1980 und 1995 geboren wurden. Also die, die jetzt auf ihre Karriere-Höhepunkte zusteuern. Ob sich das antiquierte Denken ändert, wenn die nächste Generation auf den Plan tritt? Schwer vorstellbar: Mehr als ein Viertel der ab 1996 Geborenen denken genauso.

Wann zeigt sich also auch in den Spitzenpositionen, dass die Medizin insgesamt weiblicher geworden ist? Studiendekan Bernhard Marschall ist skeptisch: „Die Frage ist nicht wann, sondern ob“, entgegnet er. „Denn wenn Frauen nach der Geburt ihres Kindes in eine längere Pause gehen, dann ist das definitiv ein Karriereknick.“ Das hänge vor allem mit den Anforderungen zusammen, die der Beruf hat: „Es ist ein sehr intensiver Beruf, und wenn jemand 18 Monate raus ist, dann muss diese Person nach ihrer Rückkehr ein wenig kleiner anfangen.“

In der Pause legen die anderen vor

Schließlich bleibe es oft nicht bei einem Kind, und dann bemesse sich die Pause in Jahren. Zeit, die Konkurrent*innen nutzen können, um an denen vorbeizuziehen, die in der Kinderpause sind.

Sini Thomas hat ihren Traumberuf trotzdem umgesetzt. Sie sagt: „Selbstverständlich war mir von Anfang an bewusst, dass Frauen es in der Medizin schwerer haben als Männer. Ich denke, da hat die Medizin ähnliche Probleme wie andere Berufsfelder auch.“

Die Medizin hat aber ein ökonomisches Problem, das nur schwierig wegzudiskutieren ist. Rund 200.000 Euro kostet die Ausbildung von Ärzt*innen pro Person. Dieses Investment muss sich auszahlen, es bemisst sich in der von Marschall genannten Lebensarbeitszeit. Bleibt alles, wie es ist, wird die Rechnung nicht aufgehen. Zumal: Expert*innen befürchten einen Mangel an Ärzt*innen, besonders im ländlichen Bereich.

Land NRW will 20 Prozent mehr Studienplätze schaffen

Zuständig für die Ausbildung von Mediziner*innen ist das Land. In Nordrhein-Westfalen hat die Regierungskoalition aus CDU und Grünen im Koalitionsvertrag vereinbart, die Zahl von Medizin-Studienplätzen bis 2027 um 20 Prozent zu erhöhen. Diese Zahl wird benötigt, um den Anteil derer auszugleichen, die aussteigen, ehe sie Ärzt*innen werden. Ein erster Schritt, um dem drohenden Ärzt*innenmangel zu begegnen: An der Universität Bielefeld wurden 60 neue Plätze für Medizin-Studierende geschaffen.

Während an den absoluten Zahlen gearbeitet wird, bleibt das Missverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten. Zum einen in der Besetzung von Führungspositionen, zum anderen in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Christiane Groß sieht einen weiteren Nachteil. Er liegt in der Bezahlung. So klaffen nach ihren Informationen die Einkommen aus diversen Gründen weiterhin auseinander.

Zum einen, sagt die Psychotherapeutin, weil Frauen bei Gehaltsverhandlungen eher zurückhaltend seien und nicht wüssten, was sie tatsächlich fordern könnten. Das liege vor allem daran, dass sie – auch aufgrund von Auszeiten – weniger von Netzwerken profitieren können als ihre männlichen Kollegen. Dadurch bekämen sie keine Informationen von ihren Vorgänger*innen. Mit diesen Informationen könnten sie aber Verhandlungsposition verbessern.

Ärztinnen nehmen sich mehr Zeit

Dr. Christiane Groß: Klinik und Familie stehen sich oft im Weg
Psychotherapeutin Dr. Christiane Groß sagt: Familie und Klinik stehen sich oft gegenseitig im Weg. Foto: Jochen Rolfes

Zum anderen sei bei Ärztinnen das Phänomen festgestellt worden, dass sie sich länger mit ihren Patient*innen beschäftigen. Was aufgrund der Ganzheitlichkeit gut für einen Behandlungserfolg sein kann, wirkt sich negativ auf das Gehalt aus: „In der Niederlassung sind die Honorare geringer, weil sich Ärztinnen oft länger mit Patient*innen befassen und daher die Behandlungszahlen geringer sind.“

Dabei sei dieses Phänomen eigentlich ein Grund, Frauen in der Medizin bessere Berufsaussichten zu bieten, wie die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes betont: „Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Ärztinnen größere Behandlungserfolge bei chronischen Erkrankungen haben. Selbst Chirurginnen haben besser Ergebnisse wie eine Studie aus den USA zeigt.“ Mögliche Gründe dafür seien, dass sie aufmerksamer sind oder sich tiefergehend mit ihren Patient*innen beschäftigen.

Liegt ein Hebel in der Struktur?

Die Vor- und Nachteile der immer weiblicher werdenden Medizin sind hinreichend diskutiert. Es bleibt die grundsätzlich hohe Belastung in dem Job. Im Juli veröffentlichte der Marburger Bund – der Bund der angestellten Ärzt*innen – eine Umfrage, in der 31 Prozent der Befragten angegeben hatten, dass sie ihre Arbeitszeit reduziert haben. Die Zahl ist doppelt so hoch wie zehn Jahre zuvor.

Liegt ein Hebel also in der Veränderung von Strukturen und Arbeitszeiten? Der Marburger Bund sieht das so und will in der Reduktion der Arbeitszeit ein klares Signal erkannt haben.

Für den Moment bleiben Probleme: Es droht die Überlastung von Ärzt*innen, es bleiben teilweise miese Jobaussichten für Frauen? Welche Gründe treiben junge Menschen, vor allem aber junge Frauen in den Beruf? Sini Thomas versucht sich mit einer Erklärung: „Ich glaube, wenn man erst einmal von dem Wunsch, Ärztin oder Arzt zu werden, gepackt wurde, dann ist es schwierig, ihn loszulassen. Deshalb sind viele Menschen bereit – und das gilt auch für mich – Opfer zu bringen.“

 

Beitragsbild: pixabay.com/DarkoStojanovic

 

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