Ein Antiaggressionstraining in der Dortmunder Nordstadt soll Jugendlichen neue Wege der Konfliktbewältigung aufzeigen. Ein „sicherer Hafen“ ist das Ziel. Warum es notwendig ist, Gewalt vorzubeugen und neue Perspektiven aufzuzeigen.
„Ihr lauft jetzt im Kreis und wenn ich sage, ‚Hinsetzen‘, setzt ihr euch! Auf geht’s!“, ruft Trainer Tobias durch die Halle. Vier Jugendliche sind pünktlich um 16 Uhr erschienen. Sie laufen los, auf einem Teppich im Kreis. Um sie herum stehen sechs Sofas. „Los, schneller“, spornt Tobias die vier an. Sie keuchen und lachen. Auf seinen Zuruf setzen sie sich kurz hin, stehen wieder auf und laufen weiter. Bevor sie Boxhandschuhe anziehen, wärmen sie sich auf. Gerade findet zum zweiten Mal das Training in der Halle der Christuskirche statt, mitten im Hafenviertel der Dortmunder Nordstadt. Das Programm für die nächsten vier Stunden: Boxen, chillen und essen.
Seit Ende August 2024 läuft in der Halle der Kirche das Projekt „No more Crime in my Prime-Time”. Es ist ein Antiaggressionstraining, bei dem die Jugendlichen gemeinsam boxen. Initiiert haben das Training der Jugendtreff Hafen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und der Jugendtreff „Connection“ der Christuskirche. Beide Jugendtreffs richten sich unter anderem an Jugendliche aus dem Dortmunder Hafenviertel. Die Leitung übernehmen Trainer der Kampfsportschule Alphateam Dortmund. So können jeden Donnerstagnachmittag 12- bis 20-Jährige hier Dampf ablassen.
Das Projekt ist zunächst für ein Jahr angesetzt und richtet sich hauptsächlich an Jungs aus dem Dortmunder Hafenviertel. Ziel ist es, den Jugendlichen spielerisch beizubringen, wie sie mit Konflikten auch ohne Gewalt umgehen können. „Alle, die so ein Training brauchen, hatten oft noch gar nicht die Möglichkeit, zu verstehen, dass es andere Wege als Zuschlagen gibt“, sagt Nico Schüssler. Er ist Leiter der Kampfsportschule Alphateam Dortmund und Mitorganisator des Präventionstrainings.
Sport soll Jugendlichen neue Perspektiven zeigen
Schlagzeilen wie „13-Jähriger soll Mann im Dortmunder Hafen erstochen haben“ waren unter anderem Auslöser dafür, dass ein Antiaggressionstraining stattfindet. „Wir müssen schauen, wo die Probleme bei den Jugendlichen liegen, wo sie innerlich verletzt sind, und dann gucken, was dagegen hilft“, erklärt Nico Schüssler. Seit 52 Jahren macht er Kampfsport, seit 17 Jahren in Dortmund. Er selbst habe früher in einer Wohngruppe gelebt. Die meisten aus dieser Gruppe seien irgendwann im Knast gelandet, erzählt Schüssler. Es fehle die Perspektive, der „Nährboden“, um einen anderen Weg einzuschlagen. Aber eine Erzieherin habe ihn immer wieder unterstützt und ermutigt. Schüssler wollte raus. Und er habe es geschafft. Sport sei sein Wendepunkt gewesen.
Als Mitorganisator des Antiaggressionstrainings möchte Schüssler Jugendlichen die gleiche Chance bieten, wie er sie damals bekommen hat. Gerade denjenigen, die bereits kriminell geworden oder auf dem Weg dorthin sind, will er eine neue Perspektive zeigen. Eine ohne Aggression, Wut und Waffen. Gleichzeitig bleibt Schüssler realistisch: „Natürlich bringt so ein Training nicht bei jedem was. Bei manchen sind die Synapsen einfach durchgebrannt, das muss man ganz klar sehen. Aber selbst, wenn ich nur einen von zehn rette: Den rette ich.“
Ursachen und Trends bei Jugendgewalt
Die Menschen, die Gewalt ausübten, würden immer jünger, sagt Prof. Dr. Andreas Zick. Er ist Sozialpsychologe und Wissenschaftlicher Direktor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld. Zick betont, dass es bei Gewalttaten sehr wichtig sei, zu differenzieren und die Einzelfälle zu betrachten. Verallgemeinern funktioniere nicht. Beispielsweise: „Insgesamt steigen die Jugendtötungsdelikte gar nicht so an, wie wir denken“, erklärt er. Das aktuell viel größere Problem sei der „Waffeneffekt“. Dieser bedeute: Sobald eine Waffe im Raum liege, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie genutzt wird. „Wir haben in den letzten Jahren eine unheimliche Bewaffnung in Deutschland erlebt, es tauchen immer mehr junge Menschen mit Messer auf“, erklärt Zick. Sie würden ein Messer besitzen, um cool zu wirken. Das Messer habe sich zur Trendwaffe entwickelt – auch in Dortmund.
Die Frage, wie Gewalt zu verstehen ist, erklärt der Wissenschaftler so: “Gewalt selbst ist banal. Gewalt auszuüben, ist immer mit Emotion verbunden. Aber wenn wir bei der Frage der Ursachen sind, dann ist das komplexer.“ In der Forschung umfasse Gewalt vier Ebenen. Zunächst gebe es die strukturelle Ebene, das heißt, in welchem gesellschaftlichen Raum der*die Täter*in lebt. Die kulturelle Prägung bilde die zweite Ebene. Die Forschung zeige, dass sich Gewalt „vererbe“. Das bedeute, da, wo sie einmal akzeptiert und erlebt wurde, setze sie sich fort. Die Person, die die Gewalt erlebt hat, werde wahrscheinlich auch selbst gewalttätig werden. Gewalttaten müssten außerdem auf einer sozialpsychologischen Ebene betrachtet werden. Sie seien meist Gruppenhandlungen. Zwar töte oft nur eine Person, aber selten sei diese allein. Auf der vierten Ebene würden die individuellen Persönlichkeitsfaktoren analysiert. Jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden.
Offene Türen für Jugendliche
Der Jugendtreff Hafen der AWO lädt viermal die Woche Jugendliche aus dem Dortmunder Hafenviertel zu sich ein – egal, ob sie schon straffällig geworden sind oder nicht. Mit dabei sind auch die Teenager des Antiaggressionstrainings. Viele der Jugendlichen, die zum Treff kommen, kennen sich untereinander. Sie sind auch außerhalb des Treffs eine Gruppe und ziehen gemeinsam durch die Straßen.
Heute sind 14 Jugendliche sind zum Treff gekommen. Es wird gemeinsam gegrillt, der Tisch im Garten ist schon gedeckt. Hauptverantwortlich für den Jugendtreff Hafen ist Sozialarbeiterin Nathalie Roß. Zusammen mit ihrer Kollegin Maria Bassano und einigen Ehrenamtlichen organisiert sie das heutige Treffen. Die Stimmung ist ausgelassen. Ein Ehrenamtlicher und ein Jugendlicher stehen zusammen am Grill und wenden das Fleisch.
Währenddessen drehen manche Jungs TikToks. Andere unterhalten sich über die Sommerferien, reißen zusammen Witze und lachen. „Hey, wo warst du? Warum so spät?“, ruft Nathalie Roß einem Neuankömmling zu. „Ja sorry, war noch mit meiner Mutter einkaufen.“ „Komm, setz dich, iss was.“ Die ersten Würstchen sind fertig. Salate, Brot und Dips stehen bereit. „Kannst du mir mal das Brot reichen? Oh warte, fehlen noch Stühle?“ Maria und Nathalie kümmern sich darum, dass jede*r einen Platz hat und etwas zu essen bekommt. „Isst du nichts, Maria?“, fragt ein Jugendlicher. „Nee, ich bin gleich noch woanders zum Grillen eingeladen.“ „Egal, mehr für mich“, sagt der Junge und grinst. Maria lacht und lehnt sich entspannt zurück. „Ach, ist das schön.“
Im Durchschnitt kommen 27 Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren zum Jugendtreff Hafen, hauptsächlich mit arabischem Migrationshintergrund. Einige davon wurden bereits bei anderen Jugendtreffs und Einrichtungen wegen ihres Fehlverhaltens sowohl im Treff als auch außerhalb hinausgeworfen. „Die meisten unserer Jugendlichen sind schon lange nicht mehr in irgendwelchen Systemen“, erzählt Maria Bassano. Auch Schulen sind damit gemeint. Viele kommen zudem aus armen Verhältnissen. Zwar sind die Teenager noch jung, aber viele haben in ihrem Leben schon einiges mitgemacht. „Viele unserer Jugendlichen haben ein Elternteil verloren oder die Abschlüsse der Eltern werden in Deutschland nicht anerkannt. Durch Sprachbarrieren können manche Eltern gar nicht arbeiten gehen. Da reicht das Geld in den Familien hinten und vorne nicht mehr“, erzählt Nathalie Roß. „Die meisten Jugendlichen, die hierhinkommen, sind die, die nichts haben.“
Antimuslimischer Rassismus und Stigmatisierung der Nordstadt
Oft erleben die Jugendlichen auch Ablehnung im Alltag. „Dieser antimuslimische Rassismus wird, glaube ich, immer stärker. Sie müssen sich immer wieder rechtfertigen, warum sie zum Beispiel ab jetzt Kopftuch tragen oder kein Schweinefleisch essen“, sagt Roß. „Ganz viele verteufeln die Nordstadt, ihren Wohnort, auch. Also: Wer da lebt und aufwächst, aus dem wird sowieso nichts“, ergänzt Maria Bassano. Nathalie Roß erklärt: „Es ist eine Mischung aus allem: fehlende Kompetenzen der Eltern und Jugendlichen, aber auch fehlende Möglichkeiten, diese fehlenden Kompetenzen irgendwie auszugleichen. Es fehlt einfach eine Chance.“
Die Teenager würden eine Perspektivlosigkeit erleben, die sich mit einem niedrigen Selbstbewusstsein kombiniere. Dadurch entstehe der Drang, sich beweisen zu müssen. Maria Bassano seufzt: „Friss oder werde gefressen“ – wer Schwäche zeigt, verliert, so das Denken vieler Jugendlicher. Gibt es Konfliktpotenzial im Treff? „Ist ganz klar vorhanden“, sagt Nathalie Roß. Dafür gibt es Regeln, die für alle präsent neben der Eingangstür hängen. Zum Beispiel: Waffen seien beim Treff verboten. Tauche trotzdem eine auf, werde sie eingezogen.
Dass manche der Jugendlichen schon die eine oder andere Straftat hinter sich haben, weiß das Team. „Natürlich ist das ultrascheiße, wenn sie auf der Straße diesen Mist machen, aber solange es nicht bei mir im Treff passiert, bleiben die Türen offen“, sagt Nathalie Roß bestimmt. Sie sei selbst in der Nordstadt aufgewachsen. Maria Bassano sei als Jugendliche auch Jugendzentrums-Kind gewesen. „Aus uns ist ja auch was geworden“, sagt Roß und grinst. „Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber das Ergebnis zählt.“
Genau das wollen sie auch für die Jugendlichen: Ihnen zeigen, dass ihre aktuelle Situation keineswegs ausweglos ist. „Ich finde, es ist unsere Aufgabe, zu gucken, wie wir mit schwierigen Fällen arbeiten. Sie nicht aus den Augen zu verlieren und von uns wegzuschieben, um diese Probleme irgendwie „outzusourcen“, sagt Nathalie Roß. „Man kann nicht einfach sagen: ‚Die bösen Kinder‘ und ‚Die sind alle doof.‘ Wenn die hier sind, sind sie total lieb, die können sich benehmen. Aber man merkt, dass sie eine unglaublich kurze Zündschnur haben.“
An die Jungs des Treffs richtet sich deshalb auch das Antiaggressionstraining „No more Crime in my Prime-Time“. „Tatsächlich haben sich die Jungs das gewünscht“, erzählt Nathalie Roß, „so einen Jungstreff zum Dampfablassen.“
Was Jugendliche bei ihrer Identitätsfindung herausfordert
Dass Jugendliche keine Perspektive sehen und verzweifelt sind, dass sie gemeinsam „Mist bauen“, sei nicht ungewöhnlich, sagt Andreas Zick. Jugendliche seien Gruppenmenschen, die gemeinsam auf dem Weg der Identitätsfindung sind. Sie müssten sich reiben, sich gegenseitig schleifen, um sich zu finden. Der Umgang mit jungen Menschen in genau dieser Phase sei ein großes gesellschaftliches Problem. Die „Coronajahre“ hätten es verstärkt: Wegen der Ausgangssperren war es nicht mehr legal, sich in Gruppen zu versammeln. Gerade in Großstädten hätten sich junge Menschen oft trotzdem getroffen. Und auf einmal seien die Jugendlichen ein massiver Störfaktor gewesen, der aus dem Weg geschafft werden musste.
Zwar gibt es längst keine Ausgangssperren mehr, aber gerade über Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in ärmlichen Verhältnissen wie der Dortmunder Nordstadt leben, werde weiterhin in der Öffentlichkeit viel gesprochen. „Das kriegen die Jugendlichen ja mit, wie die Politik zum Beispiel über Migration und Kriminalität spricht.“ Oder die Blicke, die sie auf der Straße bekommen: Sie seien das Problem, für das eine Lösung gefunden werden müsse. Dafür würden die Jugendlichen von der Politik hin- und her geschoben. Und genau das sei eine Gefahr: „Wenn junge Menschen denken, ich bin ja eh der letzte Dreck, dann verhalten sie sich auch so.“ Das sei keine Rechtfertigung des Verhaltens. „Aber dem müssen wir, glaube ich, nachgehen“, sagt Zick.
Junge Menschen mit einer höheren Aggressionsbereitschaft, die das Gefühl haben, Opfer zu sein, und die Möglichkeit haben, sich Waffen zu besorgen – das sei eine fatale Kombination. Nur mehr Sicherheitsmaßnahmen zu fordern, sei keine Lösung. „Es braucht massive Gewaltprävention. Wir müssen uns der Frage stellen, warum sich junge Leute Waffen beschaffen. Es braucht Diskurs und Räume der Begegnung!“, sagt Zick. Sowohl Politik als auch die Gesellschaft müssten mit den jungen Menschen sprechen und nicht nur über sie als Problem.
„Wir müssen dranbleiben!“
Einen solchen Raum soll das Antiaggressionstraining „No more Crime in my Prime-Time“ bieten. Mittlerweile sind noch drei Jugendliche dazugekommen. Einer von ihnen war schon beim ersten Training dabei. Erst setzt er sich an den Rand und beobachtet. Ein wenig später steht er auf. „Boah, es hat letzte Woche so Spaß gemacht, ich mach doch mit!“ Er greift sich ein Paar Boxhandschuhe und stellt sich mit in den Kreis. „Warum zu spät?“, fragt Tobias herausfordernd. „Ich war arbeiten, sorry“, erklärt der Junge. „Ist okay, ist ne gute Ausrede“, sagt der Trainer und grinst.
Das Training ist eine Abwechslung aus Einzelübungen im Kreis und kleinen Zweikämpfen. Tobias redet mit jedem individuell, gibt Tipps zur Verbesserung, Lob und Ermutigung. „Lob, aber auch Tadel an der richtigen Stelle sind sehr wichtig“, erklärt Nico Schüssler. „Einerseits, um Selbstbewusstsein zu stärken, andererseits, um klarzumachen, wer der Boss ist und dass es hier Regeln gibt, an die man sich zu halten hat.“ Mittlerweile schwitzen und keuchen alle. Nach 45 Minuten müssen sich die ersten kurz setzen und durchatmen. Dann machen sie weiter.
Von außen betrachtet sieht das Training unspektakulär, fast schon unscheinbar aus. Während im Jugendtreff Hafen meistens um die 30 Jugendliche sind, boxen hier gerade einmal sieben. Das Training sowie der Jugendtreff Hafen sind Prozesse, die einen langen Atem erfordern. Die Strukturen wählen die Verantwortlichen bewusst, die Jugendlichen brauchen ihre Freiheiten. Wer sie erreichen und prägen will, muss Beziehungen aufbauen. Das braucht Zeit. „Reine Theoriestunden würden da überhaupt nichts bringen“, sagt Nico Schüssler. Deswegen: Sport. Auspowern, allen Stress und die Anspannung rauslassen. „Wenn das alles erstmal weg ist, dann kann man mit den Jugendlichen auch reden“, sagt Nico Schüssler und grinst. Dass manche schon zum zweiten Mal dabei sind, sei ein Erfolg. Von jetzt auf gleich werde vermutlich nichts geschehen. Der Weg ist lang, der Weg ist hart – da sind sich alle einig, die im Projekt involviert sind. „Wir müssen dranbleiben“, sagt Nico Schüssler, „damit sie lernen, dass es anders geht! Dass es anders viel schöner ist.“
Beitragsbild: Deborah Jakob