Vernachlässigte Lehrkräfte und ein Tabuthema, über das jeder spricht

Heinz-Jürgen Voß hat an der Hochschule Merseburg die Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung inne. Er leitet das Projekt Sexuelle Bildung fürs Lehramt, kurz SeBiLe, das Lücken in der Lehramtsausbildung zum Thema Sexualität schließen soll.

Wieso war das Projekt SeBiLe aus Ihrer Sicht nötig?

SeBiLe ist ein Projekt, das in mehreren Phasen gelaufen ist. In der ersten Phase haben wir geschaut, wie wir das Thema Prävention von sexualisierter Gewalt im Lehramt stärken können. Mittlerweile haben wir das Curriculum in einer zweiten Phase so weiterentwickelt, dass es nicht mehr so stark auf Prävention und Intervention zielt. Die Rückmeldung vieler Lehrkräfte und Lehramtsstudierender war, dass wir eine Art „Rundum-Sorglos-Paket“ für das Lehramtsstudium brauchen: eines, in dem Fragen zu körperlichen Veränderungen, Selbstbestimmung, Sexualität und sexuell übertragbaren Krankheiten auftauchen. Es geht um alle Themenfelder, die im Kontext Sexualpädagogik eine Rolle spielen können. Unsere Entwicklungen machen wir breit zugänglich. Deshalb gibt es die Webseite sebile.de. Dort ist das Curriculum vollständig hinterlegt.

Welche Lücke wollten Sie mit diesem Projekt füllen?

Wir haben im ersten Projekt 2800 Personen befragt, zur Hälfte Lehrkräfte und zur Hälfte Lehramtsstudierende. Da wurde deutlich, dass 80 Prozent der Befragten während ihres Studiums keinerlei Inhalte zu sexueller Bildung und 92 Prozent keinerlei Inhalte zu Prävention von sexualisierter Gewalt hatten. Bei denen, die Inhalte hatten, ist noch nichts über die Qualität gesagt. Insofern haben wir einen erheblichen Bedarf. In den Jahren 2010 und 2011 wurden viele Fälle sexualisierter Gewalt aufgedeckt, zum Beispiel an der Odenwaldschule. Deshalb ist die Gesellschaft eigentlich hinterher, den Kenntnisstand von Lehrkräften in dem Themenfeld zu verbessern. Das bedeutet, wir brauchen Inhalte im Lehramtsstudium, und wir brauchen Inhalte im Referendariat. Der Hintergrund ist, Kinder und Jugendliche stärker zu schützen. Dafür brauchen sie Kenntnisse zu Sexualität. Wir können nicht Prävention losgelöst von Kenntnissen zu Sexualität betrachten.

Sexualisierte Gewalt ist ein sensibles Thema.  Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie die Aufklärung darüber im Unterricht umgesetzt werden könnte?

Natürlich ist sexualisierte Gewalt ein belastendes Thema für jede Person, die etwas erlebt hat, aber auch für jede, die etwas dazu hört. Lehrkräfte müssen dahingehend aber fit werden. Es geht darum, Themen zu Sexualität im Unterricht einzubauen. Dabei sollen im Schulunterricht auch, aber nicht vordergründig, Grenzverletzungen thematisiert werden. Dann bauen sie den Unterricht so auf, dass nach und nach die Situationen und Belastungen, die damit einhergehen können, deutlich werden. Wir stellen auch die entlastenden Situationen dar und versuchen, das Thema produktiv-positiv einzubinden. Denn Wissen um den eigenen Körper, um Rechte, um Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen, schütztÜber negative Erfahrungen in Bezug auf Sexualität sprechen zu können, ist erst möglich, wenn ich insgesamt über Sexualität, auch positiv, sprechen kann. Es ist nur möglich, wenn ich in der Vorschule, der Kita oder der Grundschule das entsprechende Wissen lerne. Am Ende sollen alle Lehrkräfte für Kinder und Jugendliche zum Thema Sexualität ansprechbar sein, gerade auch für negative Aspekte, also auchGrenzverletzungen und sexualisierte Gewalt.

Sie haben gesagt, dass es wichtig ist, schon in der Grundschule Worte für die Genitalien zu haben. Gleichzeitig gibt es Kritik, dass Lehrmaterialien zu explizit seien und dadurch eine „Frühsexualisierung“ befürchtet wird. Was würden Sie so einem Argument entgegenbringen?

Prof. Heinz-Jürgen Voß. Foto: Hochschule Merseburg

„Frühsexualisierung“ gibt es nicht. Wenn jemand einen Begriff wie „Frühsexualisierung“ benutzt, dann hat die Person den meistens aufgeschnappt. Dann frage ich entspannt nach, was die Person meint und antworte dann fachlich: Ein Kind kann man nicht „frühsexualisieren“. Jeder Mensch ist von Geburt an, sogar vorgeburtlich, ein sexuelles Wesen. Das können wir sexualwissenschaftlich begründen. Ich gehe regelmäßig in Kitas in meiner Region und mache dort Elternabende. Bei denen sage ich am Anfang: „Jetzt reden wir über die Sexualität ihrer Kinder.“ Da gibt es erstmal leichte Irritation. Dann zeige ich verschiedene Bilder, beispielsweise von zwei Kindern, die Händchen halten. Die Frage ist: Ist das sexuell oder nicht? Dann sagen die Eltern, das sei nicht sexuell. Lediglich bei der Situation, bei der sich Kinder in die Unterhose gucken, sagen sie gegebenenfalls: „Ja, das ist sexuell.“ Aber aus sexualwissenschaftlicher Sicht ist das alles sexuell. Das kann ich erläutern über die Phasen der Sexualentwicklung. Es ist wichtig, zwischen Kinder- und Erwachsenensexualität zu differenzieren – Eltern denken oft nur eigene Erwachsenensexualität.  Für die Eltern ist dieses Wissen bereichernd und die sie sind am Ende der Veranstaltung sehr dankbar dafür. Im Allgemeinen sind es aber ohnehin die Fachkräfte, die in dem Themenfeld Fragen haben.

Sich zu früh mit Sexualität auseinandersetzen kann man sich also nicht. Welche Grenzen sollte Aufklärung trotzdem einhalten?

Eltern müssen mit ihren Kindern über Sexualität sprechen können. Das ist wichtig, damit das Kind sich ihnen anvertrauen kann. Selbstverständlich soll das in einer Distanzform passieren, also sachbezogen und Grenzen achtend. Außerdem müssen wir wissen: Wo biete ich Bildungsveranstaltungen an und wo nicht? Wir beraten Leute, die solche Veranstaltungen anbieten. Zum Beispiel finde ich, dass externe Sexualpädagog*innen in einer Kita, in der direkten Arbeit mit Kindern, nichts verloren haben. Die Aufgabe dieser Sexualpädagog*innen ist, mit den Erzieher*innen zum Thema Sexualität und Sexualpädagogik zu arbeiten. Die Kita-Fachkräfte haben eine Vertrauensbasis mit den Kindern. Sie müssen fit sein rund um das Thema Kinder-Sexualität. In der Schule kann das anders sein. Da kann es sinnvoll sein, dass eine externe Person das Thema einbringt.

Viele Kinder geraten mittlerweile sehr früh, besonders durch das Internet, mit Pornografie in Kontakt. Wie kann Sexualkundeunterricht damit umgehen?

In Bezug auf Pornografie-Nutzung müssen wir unterscheiden: Bei Kindern hat Pornografie nichts zu suchen. Gerade Kinder im Alter von circa bis zu zehn Jahren sind von der Darstellung überfordert und sehen darin Gewalt. Ab einem späten Alter tasten sich die Kinder beziehungsweise Jugendlichen an das Thema heran. Sie suchen die Inhalte häufiger und lernen einen gewissen Umgang damit. Es kann sein, dass sie das eklig finden, oder gut, oder sich lustig machen.

Für beide Gruppen braucht es unterschiedliche Vorgehensweisen. Für Kinder ist es wichtig, dass die Eltern einen guten Blick in Bezug auf den Medienschutz haben. Bestimmte Seiten sind für Kinder nicht gedacht. Begleitete Mediennutzung ist hier das Stichwort, damit Kinder auf für sie geeigneten Seiten sind. Wenn die Personen älter werden, suchen sie sich ihren Zugang, das kann man nicht verhindern. Dann gilt es, medienpädagogisch zu arbeiten. Dazu gehört zum Beispiel, zu besprechen, dass die Darstellungen bestimmte Ausschnitte von Sexualität sind, die nicht die Realität abbilden und dass die Körper häufig verschönert sind. Es ist auch wichtig, dass Altersgrenzen thematisiert werden. Bei Jugendlichen in einer Partnerschaft kann es adäquat sein, dass sie mal ein erotisches Bild austauschen. Das ist in dem Rahmen legal. Wenn ein solches Bild breiter geteilt werden würde, dann wäre es Besitz und Verbreitung von Kinder- bzw. Jugendpornografie. Warum das so ist, muss man jungen Leuten erläutern.

Was fehlt im heutigen Sexualkundeunterricht aus Ihrer Sicht besonders?

1968 hat die Kultusministerkonferenz verbindlich festgelegt, dass Sexualkundeunterricht oder insgesamt Sexualerziehung stattfinden soll. Seitdem ist auch festgelegt, dass nicht nur über negative Aspekte des Sexuellen gesprochen werden soll, sondern auch über positive Aspekte. Dazu gehört, dass Sex Spaß machen darf. Außerdem soll die Erziehung interdisziplinär in allen Fächern stattfinden. Heute sehen wir, dass sich fast alle Jugendlichen erinnern können, dass sie Sexualkundeunterricht hatten. Das war allerdings oft nur in Biologie. In Bezug auf die Inhalte spielen weiterhin nahezu ausschließlich negative Aspekte eine Rolle, zum Beispiel die Vermeidung von sexuell übertragbaren Erkrankungen oder von Teenager-Schwangerschaften. Ein Thema, woran man nicht vorbeikommt, sind Fragen zur Adoleszenz. Da geht es eher um körperliche Entwicklung. Hier haben wir das Problem, dass das Thema meistens zu spät behandelt wird – es gehört in die Grundschule, häufiger spielt es aber in der sechsten Klasse eine Rolle. Das ist bei vielen Kindern und Jugendlichen zu spät. Da müssen wir mutiger werden. Andere – positive – Aspekte der Sexualität fehlen hingegen, etwa wie Sexualität selbstbestimmt und grenzachtend gelebt werden kann.

Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, mehr über verschiedene Beziehungsmodelle aufzuklären?

Wir müssen unterschiedliche Familienmodelle besprechen können. Und das nicht erst ab der weiterführenden Schule, sondern ab der Kita und Grundschule. Themen, die zum Beispiel geschlechtliche sexuelle Vielfalt aufgreifen, tauchen nur bei ungefähr einem Drittel der Befragten auf. Wenn Lehrkräfte früh lernen, dass sie für das Thema zuständig sind, können sie schauen, wie sie es in ihre Lehre einbetten. Das kann zum Beispiel auch im Mathematikunterricht passieren. Da könnten Lehrkräfte über Alan Turing sprechen. Er war ein britischer Mathematiker, der den Verschlüsselungscode der Nazis entschlüsselt hatte. Er wurde wegen seiner Homosexualität in Großbritannien gefoltert. Tatsächlich finden sich in unterschiedlichen Themen Ansprechmöglichkeiten. Um zum Beispiel in einer Matheaufgabe Intersektionalität oder Diversität herauszustellen, können zwei lesbische türkeistämmige Frauen vorkommen, die Informatikerinnen oder auch „Hackerinnen“ sind. Für die Soziale Arbeit gibt es zu Vielfalt klare Vorgaben: Durch das Sozialgesetzbuch VIII ist festgehalten, dass auch Benachteiligungen – und die Gleichberechtigung – von transidenten, intergeschlechtlichen und geschlechtlich non-binären Personen zu berücksichtigen sind. Dasselbe gilt für unterschiedliche Familienformen.

Wieso ist es für Kinder und Jugendliche so wichtig, über diese Thematiken früh aufzuklären?

Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Kinder sich so schön finden, wie sie sind. Das bedeutet, dass sie einen guten Zugang zu ihrem Körper entwickeln, diesen akzeptieren und damit umgehen können. Wir brauchen eine Möglichkeit, dass auch Kinder, die nicht den stereotypen Normvorstellungen entsprechen, akzeptiert werden. Wenn wir uns aus einer sexualwissenschaftlichen Perspektive die psychosexuelle Entwicklung anschauen, dann wird eine Geschlechtsidentität zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr herausgebildet. Die Kinder wissen teilweise sehr genau, wann sie sich wie verorten. Darauf muss man eingehen. Da muss man vom Kind aus denken und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung umsetzen.

 

 

Beitragsbild: pexels.com/Anna Shvets

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