Will ich in die Zukunft schauen? Vor dieser Frage steht Carolin, als sie mit ihrer Familie am Küchentisch sitzt. Sie haben eine genetische Veranlagung zu Morbus Huntington, einer tödlichen Krankheit – ihre Oma schlägt deshalb Gen-Enschlüsselungen vor. Nur will man wirklich wissen, ob eine tödliche Krankheit in einem schlummert?
Sechs Jahre liegt es zurück, dass die Oma der heute 20-jährigen Studentin ihre Tochter und die beiden Enkelinnen zusammenruft: Sie möchte ihr Erbgut analysieren lassen, am besten sollen alle vier einen Gentest machen. Denn in Carolins Familie, die ihren Nachnamen hier nicht lesen will, wird eine unheilbare Nervenkrankheit vererbt: Morbus Huntington. Betroffene leiden unter unkontrollierten Bewegungen am ganzen Körper, schwächer werdenden geistigen Fähigkeiten und der Gewissheit, an dieser Krankheit zu sterben.
Eine Gen-Analyse würde Sicherheit geben
Carolin und ihre Familie haben Angst, wie die Urgroßmutter an Morbus Huntington zu erkranken. In Deutschland trifft diese Krankheit einen von 10.000 Menschen. Trägt jemand, so wie Carolins Uroma die Nervenkrankheit in den Genen, besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass sie vererbt wird.
Ein Gentest könnte klären, ob die Frauen daran erkranken werden. Denn die Veranlagung führt bei Morbus Huntington immer zum Ausbruch der Krankheit. „Es war schlimm zu sehen, wie meine Oma und meine Mutter einfach nicht weiterwussten.” Carolin verbindet mit der Zeit der Entscheidungsfindung ein Gefühl der Hilflosigkeit: “Ist Unwissenheit besser als ein Todesurteil?“
Entschlüsseln oder nicht entschlüsseln?
Carolins Oma hat die Familie mit ihrem Vorschlag überrascht. „Wir haben uns ein paar Wochen und Monate Zeit gelassen, bevor wir weiter darüber reden konnten“, erzählt die Studentin der Biomedizinischen Technologie. „Wie wird das sein, wenn wir eine Diagnose bekommen?“, fragen sich die vier Frauen.
Ein weißer Umschlag aus einem Labor könnte ihr Leben grundlegend verändern. „Es wurde stundenlang diskutiert. Mal dachte ich, es wäre entschieden, dann ging alles von vorne los“, sagt Carolin. Das Argument, endlich Gewissheit zu haben, stand der Angst gegenüber, tatsächlich zu erkranken.
Morbus Huntington ist sicher zu diagnostizieren. Meist brechen die ersten Symptome wie Bewegungs- und Sprachstörungen ab dem 40. Lebensjahr aus. Im Verlauf der nächsten zehn Jahre werden die körperlichen und geistigen Einschränkungen immer größer und enden schließlich tödlich.
Eine Therapie gibt es noch nicht. Wenn ein Mensch an Morbus Huntington erkrankt, kann man Medikamente gegen einzelne Symptome geben, um die Lebensqualität so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Wer Morbus Huntington in sich trägt, erkrankt daran. Bei anderen Krankheiten ist das nicht zwangsläufig so. Ein Beispiel dafür ist Brustkrebs: Erkranken können auch Menschen ohne genetisches Risiko. Im Schnitt liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Neumutation bei einem Neugeborenen bei drei Prozent.
“Ich wollte es einfach hinter mich bringen”
Auch wenn Carolin ihre Urgroßmutter nie kennengelernt hat, ist sie für den Gentest. “Ich wollte es einfach hinter mich bringen“, erzählt sie. Die Urgroßmutter der Familie ist im Alter von 53 Jahren erkrankt und elf Jahre später gestorben. Nach ihrem Tod denkt Carolins Oma über den Gentest nach, ihre Mutter war gegen den Test. Als Kompromiss geht zunächst die Großmutter zu einer Beratung.
Wenn der Gentest abgeschlossen ist, kennt zunächst nur die Labormitarbeiterin oder der Labormitarbeiter das Ergebnis. Soweit kam es jedoch bei Carolins Oma nie. Das Beratungsgespräch hat sie nachdenklich gestimmt. Nach dem Termin sitzen die Frauen erneut am Tisch.
Carolin kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis ihre Oma ansetzt: Sie sei alt geworden, 60 Jahre mittlerweile, und habe ein unbeschwertes Leben. Sollte sie das nicht auch ihrer Tochter und den Enkeltöchtern ermöglichen? „Sie hat davon gesprochen, was Familie für sie bedeutet: Zusammenhalt und Glück. Die Krankheit würde daran nichts ändern“, sagt Carolin, die beim Erzählen stockt: Die Erinnerung treibt ihr Tränen in die Augen. Seitdem haben die vier Frauen den Gentest nicht mehr erwähnt. In den vergangenen Jahren hat kein Familienmitglied seine DNA analysieren lassen. Und: Seit der Uroma ist niemand an Morbus Huntington erkrankt.
Für Carolin gibt es nur einen Grund für die DNA-Analyse
Carolin hat über die Zeit lange nicht mehr nachgedacht. „Es ist unschön, sich daran zu erinnern. Ich würde nicht sagen, dass ich es verdränge, aber ich lasse auch nicht meinen Alltag davon beherrschen“, sagt sie. Carolin ist mittlerweile froh, dass sie den Test nie hat machen lassen. „Ich will mich nicht ständig fragen müssen, ob ein zuckendes Gefühl im Bein ein erstes Anzeichen für den Ausbruch der Krankheit ist.“
Die Studentin fühlt sich sicherer damit, keine Gewissheit zu haben. Sie möchte ihr Studium beenden, arbeiten und leben, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Allerdings könnte das Thema sie noch einmal einholen. Carolin lebt in einer festen Beziehung, in der bereits das Thema Familienplanung aufkam. „Falls wir wirklich versuchen sollten, ein Kind zu kriegen, würde ich eine genetische Beratung machen.“
Fakten, Fakten, Fakten
Warum lassen Menschen ihre Gene entschlüsseln? Wie laufen humangenetische Beratungen ab und wie teuer ist sowas? Professor Jörg Epplen, Humangenetiker bei der Amedes Group in Dortmund, beantwortete unsere Fragen.
Kommentar: Meine DNA und ich
Bei online erhältlichen DNA-Tests stehen die Verbraucher ohne medizinischen Beistand da. “Ein Unding!”, findet Autorin Annemarie Zertisch.
Gentests können seit den 1980er Jahren unserem Erbgut seine Geheimnisse entlocken. Zur Familienplanung, bei Erbkrankheiten in der Familie oder auch zur Ahnensuche. Wem ich meine DNA anvertraue, bleibt mir überlassen. Aber weder die Gesetzeslage, noch die Durchführung eines Gentests sind klar geregelt.
Die Entschlüsselung der DNA war eine sensationelle Entdeckung, heute ist sie ein kommerzielles Verfahren für Unternehmen. Online bestellt man sich ein Formular und zwei Wattestäbchen, mehr braucht es nicht. Dann können alle erfahren, woher die Urahnen kommen, welcher Sport für die Ratsuchende oder den Ratsuchenden geeignet sein soll oder wie die perfekte Partnerwahl aussähe.
DNA-Analyse ist ein Service und der Mensch nur Kundin oder Kunde. Wer zum Beispiel erfährt, dass nicht nur britische Wurzeln im Erbgut versteckt sind, sondern auch mutierte DNA, ist auf sich allein gestellt. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) solcher Webseitenmachen das deutlich:
„Durch die Nutzung der DNA-Services erkennen Sie an, dass Sie (…) Informationen erhalten können, (…), die starke Emotionen hervorrufen können und das Potenzial haben, Ihr Leben und Ihre Weltanschauung zu verändern.“
Weiter zur Gesetzeslage: Die Unternehmen verschicken die DNA-Kits zwar nach Deutschland, müssen sich aber nur an die Gesetzgebung des Landes halten, in dem die Firma sitzt. Die europäischen Länder sind sich uneinig in dieser Hinsicht. Einheitliche Regeln gibt es in Deutschland nur für niedergelassene Ärzte in der Krankenversorgung bzw. bei Vaterschafts-/Abstammungstests.
Die Gesetzgebung ist in diesem Bereich zwar durchaus auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Seit 2010 gilt das Gendiagnostikgesetz in Deutschland. Das enthält den Arztvorbehalt: DNA-Tests dürfen nur von Ärzten, prädiktive, also vorhersagende Gentests, dürfen nur von qualifizierten Humangenetikerinnen und Genetikern mit entsprechender Aus- oder Weiterbildung durchgeführt werden. Hört sich gut an, ist bei näherer Betrachtung aber lückenhaft.
In Deutschland gibt es nur 191 Vollzeit-Fachärztinnen und -Fachärzte für Humangenetik. Im Vergleich dazu gibt es ungefähr 10.000 Gynäkologinnen und Gynäkologen. Und diese dürfen schon mit einer 72-stündigen Weiterbildung humangenetische Beratungen durchführen. Ob man nach 72 Stunden all das kann, was eine Fachärztin oder ein Facharzt in der fünfjährigen Ausbildungszeit lernt? Zweifelhaft.
Da es schlicht zu wenig Fachpersonal gibt, ist es logisch, dass andere Ärztinnen und Ärzte mit anpacken müssen. Weiter sieht das Gesetz vor, vor jedem Test die Menschen über „Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung“ aufzuklären, mit einer angemessenen Bedenkzeit. Wie genau die beratende Ärztin oder der beratende Arzt auf diese Punkte eingeht und was angemessen ist, bleibt allein ihr oder ihm überlassen. Carolins Oma wurde von einem Facharzt für Humangenetik beraten und hatte vier Wochen Zeit, sich der Konsequenzen der Untersuchung bewusst zu werden.
Ein solcher Test kann das Leben eines Menschen grundlegend verändern. Für eine so folgenschwere Untersuchung braucht es Gesetze mit klaren Regeln, damit alle Patientinnen und Patienten dieselben Möglichkeiten bekommen wie Carolin und ihre Familie.
Entscheidet man sich gegen die Onlinevariante und für eine medizinische DNA-Analyse, bleibt die Diagnose darüber hinaus heikel. Einige schwerwiegende Krankheiten können zwar durchaus sicher diagnostiziert werden. Eine Veranlagung zu verschieden Krebsarten zeigt aber zum Beispiel nur, dass man in Zukunft möglicherweise daran erkranken könnte – ohne jegliche Sicherheit.
Ohne fachgerechte Einordnung und angemessene Nachsorge können die Ergebnisse bei werdenden Müttern oder Familienmitgliedern zu großer Verunsicherung führen. Wollen wir das? Gentests sollten eigentlich dazu beitragen, Unsicherheiten zu nehmen. Mangelnde gesetzliche Regelungen und rücksichtslose Online-Unternehmen erschweren es, diesem Verfahren zu vertrauen. Mit ein paar klaren Richtlinien könnte dieser Missstand behoben werden.
Beitragsbild-und Teaserbild: Anja Hardt