Schon von Geburt an stehen Johannes Grassers Muskeln unter zu hoher Spannung. Mit dieser Behinderung müsste der 30-Jährige laut seinen Ärztinnen und Ärzten eigentlich den ganzen Tag im Bett liegen. Doch Johannes hat gekämpft. Anfang Juni hat er an den Hochschulmeisterschaften im Wellenreiten teilgenommen.
Nervös sitzt Johannes Grasser auf seinem Surfbrett. In der Ferne türmt sich eine dunkelblaue Welle immer weiter auf. Als sie auf Johannes zukommt, schlägt sein Herz schneller. So groß hatte er sie sich nicht vorgestellt, erzählt er später. Er stellt sich aufs Brett, hält sich an den Metallstangen fest, beugt sich leicht nach vorne und bleibt auf seinem Brett stehen. „Ich habe währenddessen nicht wirklich viel wahrgenommen. Ich habe mich so darauf konzentriert, nicht herunterzufallen“, sagt der 30-Jährige.
Eigentlich müsste er gerade im Bett liegen. So haben es die Ärztinnen und Ärzte nach seiner Geburt prognostiziert: Johannes hat eine Infantile Zerebralparese, besser bekannt als Tetraspastik. Eine Behinderung, bei der die Muskeln unter zu hoher Spannung stehen. Dadurch kann Johannes seine Arme und Beine nur schwer bewegen. Doch Johannes surft. Das erste Mal im offenen Meer. Damit ist er der erste Mensch mit Behinderung, der bei den adh-Open dabei war, den Surfmeisterschaften für Studierende im französischen Seignosse. Für seinen Wellenritt gibt ihm die Jury 2,1 Punkte. „Und damit war ich nicht mal der Schlechteste.“ Johannes kann es nicht glauben. Er hat es in die zweite Runde geschafft.
„Ich war 2016 das erste Mal bei den Meisterschaften in Frankreich als Zuschauer dabei und habe gedacht, dass ich auch irgendwann aufs Surfbrett will.“ Es dauerte ein Jahr, bis er seinen Plan konkreter machte. Schließlich suchte er sich surfbegeisterte Helfer. Johannes baute ein Skateboard. Auf ihm wollte er lernen, die Balance zu halten. „Ich habe mich noch am gleichen Abend hingesetzt und überlegt, wie dieses Skateboard aussehen müsste, damit ich damit fahren kann.“ Der erste Prototyp scheiterte. Also baute ein Schreiner der Kölner Sporthochschule einen Rahmen aus Holz, mit dem Johannes das Gleichgewicht auf dem Board halten kann. An einer Stange hält er sich fest. Mit diesem Skateboard fährt Johannes noch heute über den Campus. Das erste Surfboard folgte dann im Frühling 2019. Eine Firma in Portugal bietet ihm an, eine Spezialanfertigung zu bauen. Jetzt besitzt Johannes ein blaues Brett mit Metallstangen, an denen er sich festhalten kann. 500 Euro hat das Board gekostet.
Surfen ist für Johannes ein Wunder
Im Mai 1989 kam Johannes als Frühchen auf die Welt. Die Folgen: Eine Fehlstellung des Gehirns, die zu einer Störung des zentralen Nervensystems und zu einer zu hohen Spannung der Muskulatur führt. „Das heißt, dass ich eigentlich relativ verkrüppelt sein müsste. Meine Eltern haben mich aber schon als Kleinkind sehr in meinem Alltag gefordert.“ Er musste lernen, allein zu essen, sich anzuziehen, zu laufen oder Treppen zu steigen. „Das sind für andere Menschen banale Dinge, für mich waren es krasse Herausforderungen.“ Parallel dazu fuhr Johannes zu vielen Therapien. Immer noch hat er täglich Physiotherapie-Sitzungen.
Heute studiert er Sport und Gesundheit in Prävention und Therapie an der Sporthochschule Köln. Davor hat er bereits ein Studium in Sportwissenschaften und Exercice Science and Coaching abgeschlossen – als erster und einziger europaweit mit einer solchen Behinderung. Johannes‘ Behinderung ist die schwerste Form der Tetraspastik. „Dass ich heute überhaupt Sport studieren kann, hab ich meinen Eltern zu verdanken.“
„Die Helfer sind meine Arme und Beine“
Der 30-Jährige will immer mehr. Drei- bis viermal am Tag trainiert er: Rad fahren, klettern oder schwimmen. Dazu kommt ein Training an drei speziellen Geräten für Kraft, Ausdauer und Stabilisation. Jetzt gehört auch das Surfen dazu. Nur in den Tagen vor den Meisterschaften musste Johannes sein Training ausfallen lassen, beim Feiern hatte er sich das Brustbein geprellt. Selbst das Sitzen schmerzt bei solchen Verletzungen.
An solchen Tagen ist Johannes noch stärker auf seine Helfer angewiesen, die ihn im Schichtdienst bei alltäglichen Aufgaben helfen. „Meine Helfer sind quasi meine Arme und Beine“, erklärt er.
„Sie machen alles, was ich nicht kann oder wofür ich zu langsam wäre.“ Der erste Helfer kommt morgens um sechs Uhr in Johannes‘ kleine Wohnung im Studentenwohnheim auf dem Campus. Um 14 Uhr ist Schichtwechsel. Allein ist Johannes erst wieder ab 22 Uhr. „Für mich ist es okay, den ganzen Tag jemanden um mich herum zu haben, ich bin es ja nicht anders gewohnt“, sagt Johannes.
Und so sind es auch Johannes’ Helfer Paul und Jonas, die den 30-Jährigen am Freitagnachmittag vor dem Start der Surfmeisterschaften abholen. Trotz der Prellung, Tabletten sollen beim Turnier gegen die Schmerzen helfen. Am Sonntag startet er dann im 28. Heat. Das heißt: Mit zwei anderen Surfern hat er 15 Minuten Zeit so viele Wellen zu surfen, wie er kann – die besten gehen in die Bewertung ein. „Für mich war das nicht viel Zeit, ich brauche ja schon super lang, um aufs Meer hinaus zu schwimmen“, sagt Johannes. Für ihn gibt es ein paar Sonderregeln: Paul und Jonas dürfen mit ins Wasser. Er stellt sich schon vor der ersten Welle aufs Brett und wenn diese kommt, schieben die beiden das Brett in die Welle.
Auch in der zweiten Runde steht er bei der ersten Welle fest auf dem Brett. Dann wartet er auf die zweite. Wieder sieht Johannes, wie sich die Welle in der Ferne auftürmt. Er stellt sich aufs Board und spürt den Anstoß der Helfer. Doch Johannes verliert das Gleichgewicht, kann sich nicht konzentrieren und fällt. Er schluckt viel Wasser, taucht dann wieder auf. Seine Helfer schwimmen mit ihm an den Strand. Score: 1,0. „Damit war ich raus. Aber ich hab ja nicht mal geglaubt, dass ich überhaupt auf dem Brett aufstehen kann. Dass ich dann sogar in die zweite Runde gekommen bin, war einfach nur geil“, sagt Johannes.
Durch Behinderung sozial allein
Johannes neigt zu außergewöhnlichen Aktionen. 2017 ist er samt Rollstuhl von einem siebeneinhalb Meter hohen Turm gesprungen – oder besser gesagt – gerollt worden. Für Johannes ist es nicht die Einschränkung im Alltag oder die ständige Hilfe, die ihn an seiner Behinderung nervt, sondern die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft. „Ich finde es schade, oder besser gesagt, es macht mich sogar traurig, dass man hier in Deutschland als Mensch mit Behinderung sozial so allein stehen gelassen wird.“
In größeren Gruppen ist Johannes auf seinen Rollstuhl und damit auch auf Hilfe angewiesen. Denn für den 30-Jährigen ist es körperlich anstrengender, seinen Rollstuhl selbst mit den Händen zu fahren, als zum Beispiel langsam zu laufen – das liegt an seiner fehlenden Muskelspannung im Rücken. Versucht Johannes, ein paar Schritte zu gehen, und fällt dann hin, lacht er. „Andere Menschen aber fühlen sich peinlich berührt und wissen nicht, wie sie in solchen Momenten reagieren sollen.“ Bei der Begrüßung sei es das Gleiche: Die Menschen würden sich seltsam verhalten und oft nur mit Johannes‘ Helfer sprechen. „Ich merke einfach immer wieder, dass Menschen extrem Angst haben, mit mir normal umzugehen.“ Auch bei Unternehmungen, die für andere in seinem Alter völlig normal sind, hat Johannes Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Zum Beispiel, wenn der 30-Jährige in einen Club geht. „Es dauert keine zwei Minuten und um mich herum sind zehn Meter Platz.“ Oder die Menschen stellen Fragen: „Die erste Frage ist, ob ich aus dem Club raus will, die zweite, ob ich Alkohol trinken darf, und die dritte Frage ist, ob ich mir sicher bin, dass ich hier richtig bin.“ Sicher ist sich Johannes dabei immer. Und er darf auch Alkohol trinken und macht es gerne. Eigentlich sei er für alle Schandtaten zu haben, sagt er.
Deswegen ist die Teilnahme an den Surfmeisterschaften in Frankreich erst der Anfang. Sein nächstes Ziel: die Paralympics in Tokio 2020. Dort wird es zum ersten Mal auch die Kategorie Surfen geben. „Mit dem Erfolg in Frankreich habe ich definitiv eine erste Hürde genommen.“
Fotos: Rehbock / privat