Der Fernsehtod ist weit aus der Luft gegriffen – ein Blick in die Gerichtsmedizin

Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner bestimmen den Todeszeitpunkt einer Leiche. So einfach wie es im Fernsehen aussieht, ist das in Wirklichkeit aber nicht. Ein Besuch im Sektionssaal der Uniklinik Essen.

Das Gefühl dafür, wie der Sektionssaal der Uniklinik Essen riecht, hat Dr. Philipp Markwerth schon lange verloren. Es ist eine Mischung aus Fäulnis, Krankenhaus und Lösungsmittel. Jeden Tag liegen tote Körper auf den zwei Sektionstischen in der Mitte des Raumes. Während der Sektionsassistent einen der Tische vom Blut der vorherigen Obduktion befreit, schiebt der Bestatter einen neuen Leichnam hinein. Durch die Fenster im Untergeschoss fällt an diesem trüben Tag nur wenig Licht, dafür erhellen die Deckenlampen den Raum.

Dr. Philipp Markwerth gehört zum Team der Gerichtsmedizin der Uniklinik Essen.

Philipp Markwerth ist groß und 30 Jahre alt. Er studierte Medizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Seit vier Jahren absolviert er seine Facharzt-Weiterbildung zum Gerichtsmediziner. Sein roter Pullover leuchtet unter dem weißen Kittel. Markwerth läuft ruhig durch den recht kleinen Sektionssaal, vorbei an den Kühlkammern in der linken Wand und lehnt sich schließlich an eine der Arbeitsflächen neben der Eingangstür. Der Sektionstisch ist jetzt sauber. Assistent und Bestatter werden den Leichnam gleich auf den Tisch heben. „Und, sieht er schlimm aus?“ – „Geht, er ist ein bisschen blau, Verkehrsunfall halt.“

Leichen sprechen ihre eigene Sprache

Markwerth hat den Blick für die Details an einer Leiche, wie sie im Fernsehen nicht dargestellt werden können: „Sie sehen körperlich so viel an einer Leiche, was in ihrem Leben passiert ist. Sie haben Einblicke in die Lebenswelt, das soziale Umfeld und den Lebensstil.“ So viel mehr als in den 90 Minuten eines Fernseh-Tatorts möglich sei, meint Markwerth. Irgendwie logisch. Was genau unterscheidet die Arbeit der Gerichtsmedizin im echten Leben von der im Fernsehen?

Die populärste deutsche Fernsehreihe – der Tatort – bringt es auf über 1100 Episoden. Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland gab es 2018 in den neuen Tatort-Folgen 96 Leichen – bei 37 Episoden macht das im Schnitt immerhin 2,6 Tote pro Episode. Und damit viel Arbeit für die Gerichtsmedizin. Sie sucht nach den Ursachen des Todes, so auch Dr. Philipp Markwerth.

Ratsch. Reißverschluss auf. Der Verkehrstote wird sichtbar, die Augen geschlossen. Die Haare sind nach hinten gekämmt. Der Mann verstarb an der Unfallstelle, erklärt Philipp Markwerth. Der Notarzt hatte noch versucht ihn wiederzubeleben. Hatte er Familie? War er auf dem Weg zur Arbeit? Mitten im Leben. Tod.

Markwerth macht sich für die Obduktion des Verkehrstoten bereit. Bei den ersten Obduktionen an diesem trüben Tag war er nicht dabei – zwei Frauen. Im hinteren Teil des Raumes stehen auf den Arbeitsflächen große Gläser mit Proben von ihnen. Proben aller wichtigen Organe, im Konservierungsmittel Formalin eingelegt. Die Lösung ist mit Blut getränkt. Lunge, Niere, Leber. Je ein Aufkleber ist auf den Deckeln der Gläser angebracht. Jahrgang: 1925. Die Frau hat mehrere Vornamen. Daneben ein zweites Gefäß. Jahrgang: 1954. Der Verkehrstote ist für Philipp Markwerth die erste Obduktion heute, und doch bleibt er einer von Tausenden, die ihm ihre Geschichte erzählen. Eine echte Geschichte des Lebens. Ein intimer, respektvoller Moment zwischen Mediziner und Leiche.

„Wir haben es hier in Essen mit etwa 650 Toten im Jahr zu tun“, sagt er. Die wenigsten Leichen, die Markwerth obduziert, sind Opfer eines blutigen Mordes – anders als im Tatort. Die Medizinerinnen und Mediziner in Essen obduzieren im Jahr etwa 20 bis 30 Mordopfer. Das heißt: geplante Tötungsdelikte, brutalste Gewalteinwirkungen auf den Körper und Kindstötungen. In aller Regel weiß die Gerichtsmedizin aber vorher, ob es sich um einen Tötungsdelikt handelt. Fälle, die erst durch die Gerichtsmedizin als Tötungsdelikt eingestuft werden, machen einen geringen Prozentsatz aus.

Wir haben hier das Schlimmste vom Schlimmen.

Dennoch: „Wir haben hier das Schlimmste vom Schlimmen“, erzählt der Mediziner. „Das ist schon hart, man stumpft unheimlich schnell ab.“ Aber anders ginge es auch nicht, denn: „Letztlich ermöglichen wir Gerichtsmediziner den funktionierenden Rechtsstaat durch ein funktionierendes Justizsystem. Darum mag ich den Job auch so sehr, er ist vielseitig – von Gerichtsterminen bis zu toxikologischen Untersuchungen.“ Respekt vor den Toten, die sich nicht mehr wehren können, ihren letzten Kampf verloren haben, den müsse jeder behalten, erklärt der Rechtsmediziner. Aber: „Natürlich lachen wir und machen Witze, wir sind ja auch nur Menschen.“

Und das Vorurteil, Gerichtsmediziner seien durchgeknallt, hätten schwarzen Humor und eine abgeklärte Persönlichkeit? Wahrscheinlich hätten sich die Autorinnen und Autoren der Tatort-Drehbücher gedacht, wer einen solchen Beruf ergreift, müsse einen Knall haben, vermutet Markwerth. „Es ist schon ein gewisser Kreis, in dem sich Gerichtsmediziner befinden, wenn sie sich zum Beispiel mit Kindesmissbräuchen beschäftigen.“


Sonntagsabends ab 20.15 Uhr können alle die Arbeit der Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner im Tatort verfolgen. Philipp Markwerth findet besonders den Münsteraner Tatort sehenswert. „Aber nur, weil er so bescheuert ist, da der Humor im Vordergrund steht und nicht die echte Arbeit von uns.“ Denn eigentlich sei seine Arbeit nicht mit der von Boerne oder anderen aus der Fernseh-Gerichtsmedizin zu vergleichen. Der Charakter von Boerne sei absurd. Niemand würde nach dem Besuch der Oper zum Tatort fahren und „mal eben“ die Todesursache feststellen. Aber auch Markwerth muss, wenn er Bereitschaftsdienst hat, bei einem Leichenfund zum Tatort fahren.

So einfach wie im Fernsehen ist es aber nicht

Im Tatort übernimmt häufig die Gerichtsmedizin am Leichenfundort die Spurensicherung. Das stimme mit der Arbeit im echten Leben nicht überein. Dafür zuständig sind andere Abteilungen bei der Polizei. Und wieso die Spurensicherung immer als einzige einen weißen Overall und Handschuhe trägt, kann sich Markwerth auch nicht erklären. Am Tatort müssten alle entsprechende Schutzkleidung tragen. „Wenn das nur die Spurensicherung machen würde und alle anderen nicht, hätte es doch gar keinen Sinn.“

Auch bei den Angaben zum Todeszeitpunkt werde geschummelt. Erste Angaben werden im Film häufig noch am Tatort getroffen. „Das ist Quatsch, das geht gar nicht“, erklärt Markwerth. Tatsächlich könne man den Todeszeitpunkt meist nur durch aufwendige Tests herausbekommen und mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit auf fünf Stunden eingrenzen. Markwerth ist sich sicher: „Es wird zu langweilig, wenn alles echt wäre.“

Um die Geschichten zudem möglichst dramatisch wirken zu lassen, müssen in vielen Fernsehkrimis Angehörige die Leiche identifizieren. Die Uniklinik Essen macht dies nur sehr selten, erzählt Markwerth. „Wir haben hier nicht den Platz und es ist in fast keinem Fall notwendig, da Fotos oder DNA-Tests ausreichen.“

Markwerths Urteil: „Wie der Tatort abläuft, ist das weit weg von der Realität.“ Dennoch freue er sich, wenn Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner im Tatort das Berufsbild angemessen präsentieren. Immerhin: „Dadurch ist das Fach ständig im Gespräch.“

Sybille J. Schedwill ist das weibliche Pendant zu Philipp Markwerth – nur eben im Fernsehen. Seit 2015 ist sie im Dortmunder Tatort die Gerichtsmedizinerin.

Was braucht es, um Gerichtsmedizinerin im Fernsehen zu werden?
Schedwill: “Wie bei allen Rollen ist die Vorbereitung das A und O. Als ich die Rolle der Gerichtsmedizinerin Dr. Greta Leitner im Tatort Dortmund angenommen habe, habe ich erst einmal mit Gerichtsmedizinern gesprochen und mir angeeignet, wie sie sich verhalten, welche Fachausdrücke es gibt und wie man mit einer Leiche umgeht. Diese Vorbereitung dauert unter Umständen auch mal einige Zeit. Schnell habe ich gemerkt, dass das Fach wahnsinnig interessant ist und es Spaß macht in einen solchen Charakter zu schlüpfen. Ich glaube, wenn man selbst die Rolle mag, dann kann man sie authentischer spielen.”

Wie gehen Sie als Dr. Greta Leitner an einem Tatort vor?
 Schedwill: “Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Als erstes stelle ich meist die Leichenstarre fest, messe die Temperatur, schaue nach Leichenflecken, gucke mir die Gelenke an und drücke die Haut ein. Das dient zur groben Feststellung des Todeszeitpunkts. Dann suche ich nach Hämatomen, Ödemen oder Gewalteinwirkungen, wodurch ich den Kommissaren eine erste Einschätzung zur Todesursache geben kann. Man betrachtet die Leiche als Ganzes und schaut, welche Informationen man bekommt. Alles natürlich so wie es das Drehbuch vorgibt. Im Sektionsaal sind dann häufig die Kommissare vor Ort und ich erkläre ihnen die Ursache des Todes. Bei Nahaufnahmen müssen die Darsteller der Leichen übrigens häufig die Luft anhalten, weil es sonst im Fernsehen unrealistisch aussieht.”

Tatort-Erfinder Gunther Witte vom WDR sah drei Erfolgsfaktoren der Reihe: ein im Mittelpunkt stehender Kommissar, Regionalität und realistische Darstellungen. Sind das auch heute noch die Maßstäbe, nach denen ein Tatort gedreht wird?
Schedwill: “Natürlich bilden wir nicht die Realität eins zu eins ab, wir machen spannende Unterhaltung. Trotzdem wird ein höchstmöglicher Grad an realistischen Darstellungen und Glaubwürdigkeit angestrebt. Szenen von mir in der Gerichtsmedizin werden zwar derzeit in einem Studio gedreht und nicht in einer Klinik, aber durch die aufwendige Requisite, Ausstattung und natürlich das Schauspiel, bleibt die Darstellung realistisch. Die Kritik am Dortmunder Tatort, es würde zu wenig in Dortmund gedreht werden, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Die meisten Außenaufnahmen werden in Dortmund und Umgebung gedreht, viele Innenaufnahmen in Köln. Aber da man in Innenräumen nicht sehen kann, wo das ist, entstellt es auch nicht die Geschichte. In Dortmund stehen Kommissar Faber und sein Team definitiv im Vordergrund. Sie haben eine sehr starke Setzung mit viel privatem Hintergrund. Mit diesen Figuren polarisiert der Krimi. Meine Rolle ist dabei professionell und ruhig gehalten.”

 

 

 

Fotos: Magnus Terhorst, Thorsten Esser; Quelle Grafik: Statistisches Bundesamt 

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