Carolin Rüber ist Gynäkologin, arbeitet normalerweise in einem Bonner Krankenhaus. Mit der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitete die 31-Jährige in einer kleinen Stadt an der irakisch-iranischen Grenze daran, Schwangerschaften ein Stück sicherer zu machen. Ein Alltag zwischen Checkpoints und Sicherheitsbriefings, Musikabenden und Fußballspielen.
Carolin trägt Jeans, einen schwarzen Pullover und eine goldene Kette, daran baumelt ein kleines Herz. Wir treffen uns in einem Café in der Bonner Innenstadt, sie bestellt Holunderblütensaftschorle und das, was sie dann erzählt, passt so gar nicht zu dieser Situation mit Saftschorle im Café. Mit ruhiger Stimme berichtet sie von ihrem Einsatz im Irak. Sieben Monate lang war die 31-jährige Ärztin mit der Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ dort im Einsatz.
Eigentlich arbeitet die Gynäkologin im Bonner Marienhospital, aber vor einem Jahr flog die Bonnerin in den Irak. In Hanekin, einer kleinen Stadt nahe der iranischen Grenze, leitete sie als sogenannter „Expat“ ein Team mit fünf einheimischen Ärztinnen an.
„Da fehlt einfach Aufklärungsarbeit“
Ihr Einsatz fand in der Provinz Diyala statt, in die 2014 der Islamische Staat eindrang. Auch wenn die Besatzung bald wieder beendet war, hinterließ der IS eine zerstörte Infrastruktur. „Die Teams, die als Erstes da reingekommen sind, sind in Geisterstädte gekommen, wo nichts mehr vorhanden war, keine Infrastruktur, vor allem keine medizinische“, berichtet Carolin. Für „Ärzte ohne Grenzen“ ging es vor allem darum, eine Basisgesundheitsversorgung bereitzustellen. Carolins Schwerpunkt lag dabei auf der Schwangerschaftsvorsorge. „Wir haben versucht, die Schwangerschaften ein Stück weit sicherer zu machen“, erklärt sie. Dazu gehörte es auch, Frauen gerade bei einer Risikoschwangerschaft darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, in einem Krankenhaus zu entbinden. Auch die reguläre gynäkologische Vorsorge und das Thema Familienplanung gehörten zu ihren Aufgaben: Carolin und ihre Kolleg*innen leisteten Aufklärungsarbeit.
Dabei sind es gar nicht unbedingt die Notfälle, die Carolin nachhaltig beeindruckt haben. „Die sind gar nicht so anders als in Deutschland.“ Sie habe sich irgendwann auf den Bereich „sexual and gender based violence“ konzentriert, sich also um Fälle von Kinderehen und sexualisierter Gewalt gekümmert. Ein Fall, der sie besonders berührte, war der eines 14-jährigen Mädchens, das zu ihr kam. „Sie konnte seit zwei Jahren nicht schwanger werden und hat sich dann bei uns mit ,Unfruchtbarkeit’ vorgestellt. Das hat uns sehr beschäftigt“, erinnert sich Carolin. „Da fehlt einfach Aufklärungsarbeit.“
Um mit solchen Situationen umzugehen, sprachen die Kolleg*innen viel miteinander. Auch ihre Familie war in dieser Zeit eine wichtige Stütze für sie. „Meine Familie war weiter mein nächster Ansprechpartner, die ganze Zeit über“, erinnert sich Carolin. Die belastenden Situationen wandelte sie auch in Energie für die Arbeit vor Ort um. „Man bemüht sich dann noch einmal mehr und sagt sich: Dann müssen wir das besser erklären“, sagt sie. Das helfe ihr auch in Deutschland „Wenn ich in Deutschland etwas sehe, frage ich mich auch: Was kann ich da machen?“
Carolin und ihr Team behandelten im Irak aber nicht nur Patient*innen, sie organisierten auch Vorträge. Sie hielt zum Beispiel einen Vortrag zum Menstruationszyklus. „Viele Mädchen im Irak erschrecken sich total, wenn sie das erste Mal ihre Tage bekommen“, erklärt die Bonnerin. Am Anfang sei sie unsicher gewesen, wie die Veranstaltung aufgenommen werden würde, aber sie waren ein voller Erfolg: Bis zu 40 Frauen nahmen an den Sitzungen teil. „Solange keine Männer dabei waren, wurde in einer Offenheit über Frauenprobleme diskutiert, die mich komplett überrascht und berührt hat“, sagt sie.
„Ich hatte schon immer einen Zugang zur islamischen Welt“
„Ich habe mich schon immer für Medizin in anderen Kulturen interessiert und glaube, dass das aufgrund der aktuellen Flucht- und Migrationsbewegung aktuell super wichtig wird“, sagt sie. Sie habe zunehmend Patient*innen aus anderen Kulturkreisen. „Das bedingt immer, dass sie etwas anders mit Krankheit und Gesundheit umgehen“, sagt Carolin. Es habe sie daher immer interessiert, Sensibilität für diese anderen Sichtweisen und Verhaltensmuster zu entwickeln.
Ihr Aufenthalt im Irak war nicht das erste Mal, dass Carolin eine längere Zeit im Ausland verbrachte. Im Rahmen ihres Medizinstudiums lebte sie anderthalb Jahre in Istanbul, studierte dort, arbeitete in der Allgemeinen Chirurgie, lernte Türkisch. „Ich hatte daher auch immer einen Zugang zur islamischen Welt“, sagt sie. Doch damit nicht genug: Später, als Ärztin, fing sie an, berufsbegleitend Islamwissenschaften zu studieren und Arabisch zu lernen.
Für sie sei daher klar gewesen, dass sie gerne mit „Ärzte ohne Grenzen“ in den arabischen Raum gehen würde und im Januar 2019 war es dann auch soweit. „Ich war schon sehr, sehr aufgeregt, als ich dort hingefahren bin“, sagt sie. „Aber das schützt einen ja auch.“ Sie habe sich aber gut vorbereitet gefühlt: In einem Training vor dem Einsatz lernten sie und ihre Kolleg*innen, wie sie mit kritischen Situationen während des Einsatzes umgehen können. Dazu gehören Situationen, mit denen Carolin zuvor noch nie in Kontakt gekommen war, wie das Verhalten an Checkpoints. „Ich bin der ziemliche Durchschnittsbürger, der noch nie eine Kalaschnikow gesehen hat und habe mich dann auch erst einmal erschreckt“, erinnert sie sich. Vor Ort bekamen Carolin und ihr Team wöchentliche Sicherheits-Updates: Was hat sich in der Region verändert? Worauf müssen sie achten?
Fußball, Saftläden und Musikabende
Für Carolin gab es trotz allem nicht nur den Alltag in der Klinik. Doch auch für die Freizeit gab es strenge Regeln. Um 8 Uhr mussten sie und ihre Kolleg*innen zuhause sein und einen Dresscode gab es auch: Die Knöchel sollten bedeckt sein, an einem Standort wurde ein Kopftuch angezogen. Das sei aber eigentlich kein Problem gewesen: „Wir haben versucht, in den örtlichen Shops die Kleidung zu kaufen, damit hat man automatisch den Dresscode.“ In Städten war sie überrascht vom Ausmaß der Zerstörung und von der Militärpräsenz. „Natürlich weiß man das vorher, aber das zu sehen, ist nochmal anders.“
Auch wenn sie im Irak war, einem Krisengebiet, entwickelte sich doch nach und nach ein Alltag für Carolin. Sie berichtet von Erlebnissen, die so gar nicht nach Krisengebiet klingen, eher nach ganz normalem Alltag. „Die Irakis im Team waren sehr gastfreundlich, wir wurden oft eingeladen“, erinnert sich Carolin. Sie erzählt von Grillabenden, riesigen Tafeln beim Fastenbrechen im Ramadan, Mädelsabenden mit ihrem Team und Abenden auf der Dachterrasse ihres Wohnhauses. „Hanekin ist ein Schmelztiegel, wo verschiedene Kulturen zusammenkommen und jeder bringt seine eigene Musik mit“, berichtet Carolin. Sie saßen mit bis zu 30 Leuten zusammen auf der Dachterrasse, jeder sang etwas, einer spielte Gitarre und ein dritter begann einen Rhythmus zu klopfen. „Es war schon eine unglaubliche Lebensfreude da“, sagt Carolin.
Und an einen ganz bestimmten Ort erinnert sie sich noch besonders gut: „Unser Highlight war der Saftladen“, sagt Carolin und lacht. Am Wochenende hätten sie sich abends dort einen Saftcocktail bestellt. Auch ein Fußballteam gab es. „Das war ganz wichtig für uns und das wolltest du dann auch nicht verpassen“, erinnert sie sich. Trotz all dieser schönen Erlebnisse, es bleibt ein Krisengebiet. „Man lebt dort schon mit einer anderen Anspannung“, sagt Carolin.
Zurück in den Alltag
Nach sieben Monaten ging es für Carolin zurück in ihren Alltag in Deutschland. Eingewöhnen musste sie sich dabei kaum. Da sie viel mit ihrer Familie gesprochen hatte, musste sie nicht viel erzählen, alle wussten Bescheid. Und in manchen Bereichen liegen Deutschland und der Irak dann doch nicht so weit auseinander. „Frauen kriegen schließlich in Deutschland ihre Kinder wie auch im Irak“, sagt Carolin. Das Ziel und ihre Tätigkeit seien die gleichen – hier in Deutschland wie im Irak.
Mitgenommen aus ihrem Einsatz habe sie auch Sensibilität und Verständnis für andere Verhaltensmuster von Patient*innen. „Manche Patient*innen haben Biografien, die wir uns in Deutschland gar nicht vorstellen können.“ Insgesamt habe der Einsatz sie dankbarer und demütiger für das gemacht, was man in Deutschland habe. „Wir nehmen das als selbstverständlich, dass wir den bestmöglichen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben und das ist eben für ganz viele Menschen nicht selbstverständlich“, sagt sie.
Wenn sie jetzt an ihren Einsatz zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an die Menschen – Patient*innen wie Kolleg*innen. Viele Patient*innen von dort habe sie viel präsenter als ihre Patent*innen in Deutschland. „Ich kann mich an viele Patienten individueller erinnern, weil jeder eben seine Geschichte hat und für einen selbst auch alles noch neu ist“, sagt sie. Aber auch das Team sei ihr ans Herz gewachsen. „Wenn ich zurückdenke, denke ich auch immer mit einer gewissen Wehmut daran, weil ich die Leute wahrscheinlich auch nicht wiedersehe“, sagt Carolin.
Nach unserem Gespräch geht es für Carolin zur Spätschicht im Krankenhaus – sie ist zurück in ihrem Alltag in Deutschland.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über Frauen, die in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft etwas bewegen – entweder dadurch, dass sie sich für andere einsetzen oder dadurch, dass sie sich in Bereichen behaupten, in denen Frauen traditionell unterrepräsentiert sind. Ihnen allen wurde unter anderem die Frage gestellt, welche Rolle ihr Geschlecht in ihrem Alltag spielt. Weitere Gesprächspartnerinnen für diese Reihe waren eine Seenotretterin, eine Gründerin, eine Altenpflegerin und eine Schiedsrichterin.