Samstag, 27. Juni, 15.30 Uhr, zwischen Hamm und Bergkamen. Gewitter ziehen über Deutschland. Aus Sachsen werden später kaputte Strommasten und umgestürzte Bäume gemeldet. Am Chiemsee südlich von Bayern machen am nächsten Tag Bilder von völlig zerstörten Zelten auf einem Campingplatz die Runde. Tobias Mieseler, Christoph Schledorn und Jessica Gartz blinzeln.
Die drei Stormchaser sitzen auf weißen Plastikstühlen im Garten, während die Sonne ihnen durch den hölzernen Verschlag immer wieder in die Augen scheint. Ein Tablet liegt zwischen den dreien auf dem Tisch. „Entweder, es gibt gleich nur Regen“, sagt Tobias Mieseler, 31 Jahre alt. „Oder es knallt!“
Stormchasing ist die Jagd nach Gewittern, nach spektakulären Unwettern und spannenden Fotos. Sie sind dann noch draußen, wenn alle anderen längst Fenster und Türen geschlossen, Mülltonnen und Gartenmöbel in Sicherheit gebracht haben. Für den heutigen Samstag hat der Deutsche Wetterdienst mehrere Unwetterwarnungen herausgegeben. Tobias, Christoph und seine Freundin Jessica, die „das Hobby so mitmacht“, haben schon Tage vorher angefangen, Kartenmaterial zu büffeln.
Radarkarten zeigen, wie schnell und wohin sich Gewitterzellen bewegen. Modellkarten berechnen schon Tage vorher, wann ein Gewitter an welcher Stelle ist. Das ist wichtig für die Stormchaser, um den perfekten Zeitpunkt zu erwischen, loszufahren. Und um zu entscheiden, ob es sich überhaupt lohnt, loszufahren. Blitzanalysekarten zeigen vor allem eines: den Place to be für alle, die gerne Action haben wollen. Ein Foto mit Blitz und einer spannenden Wolkenfront – das Ziel eines jeden Chasers.
Quelle: Jörg Kachelmann, www.kachelmannwetter.com
Das perfekte Gewitter ist wie ein Sechser im Lotto
Um 14.30 Uhr zeigt das Regenradar mehrere Niederschlagszellen über Düsseldorf, Duisburg und Essen. Über Hamm scheint noch die Sonne. „Das Problem: Die Wettermodelle passen oft nicht zur Realität“, sagt Tobias. „Eigentlich müsste es hier schon um 13 Uhr volle Kanne abgegangen sein. Ist es aber nicht.“ Stormchasing ist tagelange Vorbereitung, Kartenrechnen, Routenplanung – und am Tag selbst dann doch ein Lottospiel. „Da sitzt du manchmal sechs Stunden vorm Rechner und dann passiert nichts. Da hättest du auch ins Kino gehen können.“ Ein Stormchasing-Kollege stehe auf der A1 bei Ascheberg, da regne es zumindest. Immerhin. 300 Chasings habe er schon gemacht, sagt Tobias. „Erfolgreich“ sei vielleicht jedes vierte gewesen.
Für Christoph Schledorn egal. “Das besondere ist, dass du Naturgewalten greifen kannst, kein Gewitter, kein Blitz sieht gleich aus,“, sagt der 33-Jährige. Manchmal gebe es nur eine einzige Chance, das perfekte Foto zu machen. Christoph engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr in Hagen, wo er 2007 und 2008 viele schwere Unwetter miterlebt hat. Seitdem sei die Faszination da. Mit knapp 80 Stundenkilometern bewegen sich die Gewitterzellen heute übers Land. Oft entwurzeln sie Bäume, schwere Windböen können Hausdächer zerstören.
Katastrophengeil seien die Chaser jedoch nicht – im Gegenteil. Über den Verein Skywarn melden die Chaser Stürme, Hagel oder schwere Gewitter direkt an den Deutschen Wetterdienst. Der kann so die Bevölkerung besser warnen, etwa über eine App. Tornados kann der Deutsche Wetterdienst anhand der Radardaten allein nicht erkennen. Stormchaser sind hier unerlässlich.
Dennoch: Ungefährlich ist das Hobby nicht: „So ein Blitz hat 30.000 Grad. Wenn der in ein Feld einschlägt, dann schmilzt da der Sand zu Glas. Ein Blitz kann jeden treffen, auch uns.“ Schon alleine deshalb sei Sicherheit das A und O. Respekt vor der Natur: Voraussetzung für sicheres Chasing. Tobias: „Als ich mit Stormchasing angefangen habe, bin ich noch mit dem Fahrrad raus auf die Felder gefahren. Ich meine, der Blitz hat 50 Meter neben mir eingeschlagen. Da habe ich die Wärme gespürt. Da bin ich zu weit gegangen.“
Tausende Kilometer zurücklegen – das Auto als Fluchtfahrzeug
Ein guter Chaser werde nicht nass und vor allem der Straßenverkehr bei der An- und Abreise sei als größte Gefahr nicht zu unterschätzen, aber gefährliche Situationen könnten auch die erfahrensten Chaser nicht immer absehen. „Das erste, was wir bei jedem Chasing machen, ist das Auto umzuparken, sodass wir direkt abhauen können, wenn es ernst wird. Das hat uns schonmal den Arsch gerettet“, sagt Tobias und zoomt auf seinem Tablet in die Wetterkarten hinein. Der Wind pfeift durch den Holzverschlag, die Sonne ist immer noch da. Es scheint einer dieser Tage zu werden, an denen die Blitze überall einschlagen, nur nicht am gewünschten Ort.
Wenn die Wetterlage gut und zuverlässig ist, sind die Chaser auch schon nach Belgien, Holland oder Luxemburg gefahren. 20.000 Kilometer sind in guten Jahren nichts Ungewöhnliches. Ohne ein Auto mit vollem Tank geht es nicht. Auf der Blitzortung-Karte blinkt es gegen 17 Uhr beinahe überall in Deutschland – außer in NRW. „Das NRW-Phänomen“, scherzt Christoph. „Man hat Spaß im Team, man ist lustig drauf, so kann man Niederlagen auch mal verarbeiten.“ Dann fangen dicke, kühle Regentropen an, im rhythmisch-beruhigendem Abstand die Luft, die Felder und Häuser in der Umgebung in ein trübes Grau zu tauchen. Die Botschaft der Natur scheint eindeutig: „Ich habe heute leider kein Foto für euch.“