“Der will doch nur spielen!” – zu Besuch bei einem Spieleautoren

Sie gehören zu verregneten, kalten Herbstnachmittagen wie ein heißer Kakao: Gesellschaftsspiele. Aber wer denkt sich die eigentlich aus? Unsere Autorin hat einen Spieleautoren besucht und mit ihm darüber gesprochen, wie er sie seit mehr als 30 Jahren Spiele entwickelt und was er an einem verkauften Gesellschaftsspiel verdient.

Mit Jörg sitze ich an einem sonnigen Nachmittag auf seinem Balkon. Vor uns auf dem Tisch ist ein Gesellschaftsspiel aufgebaut. Die dritte Runde beginnt. Wir würfeln und gucken von oben in unsere Würfelbecher. Die Becher in dem Spiel “Zock ‘n’ Roll” haben nämlich keinen Boden. Das Spiel funktioniert wie eine Mischung aus Kniffel und Poker und so können alle ihre eigenen Würfel sehen, ohne den Becher ständig anheben zu müssen und trotzdem alles vor den anderen verstecken. Diese Raffinesse hat sich Jörg von Rüden ausgedacht. Denn er ist nicht nur mein Mitspieler, sondern auch der Autor des Spiels.

Jörg von Rüden und unsere Autorin beim Spielen.
Der Spieleautor Jörg wirft einen Blick auf sein Würfelergebnis. Foto: Bettina von Rüden

Jörg ist 55 Jahre alt. Seine Brille hat keine Ränder und seine Haare werden langsam grau. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen lebt er in einem Mehrfamilienhaus in Dortmund. Er arbeitet in der IT-Branche und seit mehr als 30 Jahren begleitet ihn eine Leidenschaft: Gesellschaftsspiele. Davon stehen über 150 Stück in einer Schrankwand in seinem Wohnzimmer. Jedes Jahr kommen etwa zwei bis drei Spiele dazu.

Jörg hat schon in der Kindheit zu Hause mit seiner Familie oft gespielt. Gerade bei Monopoly haben sein Bruder und er sehr früh angefangen, eigene Hausregeln zu erfinden. “Das Spiel an sich wird sehr schnell sehr öde. Da packt man dann Dinge dazu, die einem besser gefallen”, erzählt er.

Wenn dir was nicht gefällt, mach’s anders

Während des Studiums dachte sich Jörg dann: “Warum nicht mal etwas ganz Eigenes?” Mit seinem Bruder und zwei Freunden gründete er seinen eigenen Kleinverlag. “Lords of Alban” hieß das erste veröffentlichte Spiel. “Wir sind immer von Dortmund zu meinem Bruder nach Krefeld zu Testabenden gefahren. Gegen Mitternacht sind wir völlig übernächtigt nach Hause gefahren, haben auf dem Weg noch die besten Ideen entwickelt, wie wir das Ganze variieren.” Bei diesem Verlag hat Jörg an drei Spielen mitgearbeitet. Inzwischen geht er den Weg der Veröffentlichung allein und schickt seine Spielideen an verschiedene Verlage.

Bevor Jörg ein Spiel bei einem Verlag vorstellt, entwickelt er eine Demo-Version. Von der Idee bis dahin kann es laut ihm “mal eine Woche, mal einen Monat, auch schon mal ein Jahr dauern”. Durch seinen Vollzeitjob kann er sich nicht immer voll auf seine Spielideen konzentrieren. Ideen bekommt er, wenn er in der Bahn sitzt oder durch die Felder in der Nähe seines Hauses spaziert. Manchmal fängt es mit dem Spielprinzip oder dem Ablauf an, wenn er zum Beispiel Bienen beim Pollensammeln sieht. Mal gefällt ihm ein Thema und er entwickelt daraus ein Spiel. Sobald die Grundidee da ist, öffnet Jörg einen Schrank in seinem Büro. Darin liegen unbedruckte Karten, verschiedenfarbige Würfel und Spielfiguren. So kann Jörg sich das Spiel schon früh vorstellen und damit arbeiten.

Die Demo-Version des Spiels "Zock 'n' Roll"
Schon in der Demo-Version von “Zock ‘n’ Roll” hatten die Becher keinen Boden. Foto: Rebecca Herrmann

Seine Prototypen gestaltet er “sehr nah am fertigen Spiel”. Sie seien also schon frei von Widersprüchen. Nicht immer gelingt das. “Von hundert Ideen verwerfe ich fünfzig, von fünfzig Spielen wird ein Spiel von einem Verlag veröffentlicht”, sagt Jörg. Die Spieleautor:innen bekommen kein festes Gehalt von einem Verlag ausgezahlt, sondern einen Anteil vom Nettoerlös. “Für ein Spiel wie ‘Zock ‘n ‘Roll’ kannst du grob etwa 30 Cent pro verkauftem Spiel rechnen. Bei einer komplett verkauften Auflage von 10.000 Spielen sind das dann 3.000 Euro.”

Test, Test, eins, zwei, drei

Wenn der Prototyp fertig ist, wird das Spiel in mehreren Runden so oft getestet, bis es verschiedene Anforderungen erfüllt. Der Spielmechanismus und die Spielregeln müssen verständlich und logisch sein, sodass alle es verstehen, selbst wenn Jörg nicht daneben sitzt und erklärt. Er hat sich im Laufe der Jahre einige Testpersonen zusammengesucht. Die sind in drei Personengruppen eingeteilt. Wenn ein Spiel allen Gruppen gefällt, stellt Jörg es einem Verlag vor.

Die erste Gruppe nennt Jörg “professionelle Testgruppe”. Dahinter stecken andere Spieleentwickelnde, die zwar die professionelle, aber laut Jörg auch oft eine voreingenommene Sicht auf Spiele haben. Weil alle meinen, sie wüssten am besten, wie ein Spiel zu funktionieren hat, haben sie einen sehr kritischen Blick auf neue Spielideen.

Warum darf man eigentlich nur bis 99 Jahren bei Gesellschaftsspielen mitmachen?

Die Altersangabe “bis 99 Jahre” ist auf viele Verpackungen gedruckt.

Der “Amigo”-Spieleverlag erklärt: Bis in die 1970er Jahre waren Spiele hauptsächlich etwas für Kinder. Um trotzdem die ganze Familie anzusprechen, wurde deswegen “bis 99 Jahre” auf die Verpackung gedruckt. Es könnte zudem sein, dass die dreistellige hundert früher drucktechnisch nicht möglich war. Oder die 99 wurde aus ästhetischen Gründen gewählt. Warum genau die Grenze bei 99 Jahren gesetzt wurde, ist nicht mehr genau nachvollziehbar.
Damit niemand diskriminiert wird, gibt es heute fast nur noch das Mindestalter. Auch Jörg geht so vor. Das festzulegen, sei schon schwierig genug: “Es gibt Achtjährige, die werden mit dem Spiel zurechtkommen. Es gibt aber auch Zehnjährige, die das nicht begreifen.”

In der zweiten Testphase stellt Jörg sein Spiel in privaten Spielerunden vor. “Das ist halt auch nicht zwingend das Zielpublikum für mein Spiel. Meine letzte Veröffentlichung war beispielsweise BiberClan bei Amigo, also ein Familienspiel. Das kann ich zwar mit denen spielen, aber die haben als Vielspieler auch eine gewisse Erwartungshaltung.” Danach sucht Jörg sich eine Testgruppe, die der Zielgruppe des Spiels entspricht und ihn nicht kennt, also unvoreingenommen ist. Auf Spielemessen setzt er sich mit seinem Prototyp an einen Tisch und wartet auf Familien, die mit ihm spielen. “Da kann ich beobachten, ob das Spiel so ankommt, wie ich mir das vorstelle und ob sie Spaß am Spiel haben.” Manchmal funktioniert ein Spiel zwar von den Regeln her, aber löst nicht die gewünschten Emotionen aus. “Bei jeder Spieleentwicklung gibt es andere Hürden und Herausforderungen.”

Anschließend muss Jörg einen Verlag finden, dem die Idee und das Thema gefallen. Jörg geht dafür regelmäßig auf verschiedene Veranstaltungen. Beim Spieleautorentag in Göttingen treffen sich zweimal im Jahr etwa 100 Autor:innen und Redakteur:innen. In “Speed Dating”-Szenarien muss die Spielidee die Redakteur:innen überzeugen. “Selbst wenn sie das Spiel gut finden, kann es sein, dass sie es ablehnen, weil es jetzt gerade nicht ins Verlagsprogramm passt”, sagt Jörg. Wenn sein Spiel gut ankommt, wird es im Verlag ein letztes Mal getestet. “Dann gibt es noch den Feinschliff. Und irgendwann ist es so weit, dass es tatsächlich ins Programm passt und der Veröffentlichungstermin ansteht.” Der ganze Weg von der Idee bis zum fertigen Spiel dauere in der Regel drei bis fünf Jahre.

Tac und Tichu gehören einfach dazu

Digitalisierung ist auch in der Gesellschaftsspielszene ein großes Thema. Vor allem für Jörg als Informatiker. Aber er sieht in ihr keine Gefahr für traditionelle Gesellschaftsspiele. “Es ist einfach eine zusätzliche Option. In dem Sinne vielleicht eher eine Chance als ein Problem.” Für viele Spiele gibt es inzwischen Smartphone-Apps, die den Spielablauf unterstützen. Aber das, was Jörg an Gesellschaftsspielen so fasziniert, ist das gemeinsame Spielen am Tisch. Und das könne die Digitalisierung ihm nicht nehmen, sagt er.

Die Brettspiel-AG an der TU Dortmund

Für alle Spielebegeisterten gibt es an der TU Dortmund eine Brettspiel-AG der Fachschaft Informatik. Einmal pro Woche treffen sich dort alle, die Lust auf Gesellschaftsspiele haben. Während der Corona-Zeit wird hauptsächlich ein Simulator eingesetzt, mit dem Brettspiele online gespielt werden können. Die Fachschaft Informatik richtet gelegentlich auch Brettspielabende und -events aus.

Ein Lieblingsspiel hat Jörg nicht. “Das ändert sich ständig. Ein gutes Spiel muss für mich viele Emotionen wecken und auch Laune bringen.” Ob Würfel-, Karten- oder Brettspiel, ist dabei für Jörg nicht wichtig. “Aber es gibt Sachen, die immer wieder auf den Tisch kommen.” Das Brettspiel Tac und das Kartenspiel Tichu zum Beispiel. Wenn Jörg mal nicht an einer neuen Idee feilt, geht der 55-Jährige zu Spieletreffen der Brettspielunion in Dortmund. “Da ist alles auf dem Tisch, also für jeden etwas dabei.”

Beitragsbild: Rebecca Herrmann

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