Sag mal Prof: Was ist das absolute Gehör?

Regelmäßig fragen wir hier die, die uns im Hörsaal die Welt erklären: unsere Professor*innen und Doktorand*innen. Können sie uns wohl auch alltägliche Fragen beantworten? Sag mal Prof, was ist das absolute Gehör? Dieses mal antwortet Prof. Dr. Markus Roth, Dekan und seit 2009 Professor für Musiktheorie an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

Durch das absolute Gehör können – vor allem professionelle Musiker*innen – Tonhöhen ohne jede Referenz zuverlässig benennen. Ein Beispiel: Ein Klavier hat 88 Tasten. Schlägt man eine beliebige Taste an, dann können Menschen mit absolutem Gehör den Ton im Idealfall sofort benennen.

Es gibt sehr zuverlässige Absoluthörer*innen, während bei anderen Menschen das absolute Gehör weniger stark ausgeprägt ist. Auf jeden Fall werden Menschen mit einem absoluten Gehör mit einer Veranlagung dafür geboren. Damit sich das absolute Gehör aber entwickeln kann, muss es trainiert werden. Dieses Training basiert häufig auf einer Form der Gehörbildungsmethodik, Solfège genannt. Bei dieser Methode stellt man sich Tonräume beziehungsweise Tonhöhen vor, indem man sie in Silben benennt und nachsingt. Studien belegen, dass in Ländern, in denen die Methode in der frühkindlichen Erziehung angewandt wird, die Anzahl der Absoluthörer*innen höher ist. In Deutschland ist die Solfège-Methode nicht stark verbreitet.

Prof. Markus Roth lehrt an der Folkwang Universität der Künste in Essen. (Foto: Privat)

Das absolute Gehör ist aber nicht so absolut wie es heißt: Es bezieht sich oft nur auf bestimmte Instrumente. Ein Mensch, der sein Gehör mit einem Klavier trainiert hat, mag dennoch Probleme haben, seine Fähigkeit auf die menschliche Stimme oder andere Instrumente zu übertragen. Denn damit Absoluthörer*innen Töne benennen können, sind sie von Parametern innerhalb eines Tonsystems abhängig. Das ist in unserer heutigen, europäischen Musikpraxis das sogenannte temperierte, gleichstufige System, bei dem man eine Oktave in 12 gleiche Teile teilt.
Absoluthörer*innen, die auf das Klavier im temperierten, gleichstufigen System fixiert sind, stoßen in anderen Musikpraxen an ihre Grenzen, denn dann „funktioniert“ das absolute Gehör nicht mehr. Und auch die Klangfarbe, das Timbre, ist für Töne wesentlich. Sobald diese sich verändert, hadern Absoluthörer*innen beim Erkennen der Töne.

Wichtig ist, sich die Definition eines absoluten Gehörs vor Augen zu halten: Es ist ein einfaches Benennen. Man muss sich die Töne nicht klar machen oder im Geiste optisch vor Augen führen.

Absoluthörer*innen können einfach sagen: „Ok, das ist ein eingestrichenes Gis.“, wenn sie den entsprechenden Ton hören. Und bestimmte Vorstufen oder bestimmte Grade davon kann man auch ohne Veranlagung erlernen, wenn man sich intensiv mit Instrumenten und Musik beschäftigt. Jemand, der*die Gitarre lernt und intensiv übt, wird später ohne Probleme den Klang bestimmter leerer – also ungedrückter – Gitarrensaiten sofort bestimmen können. Das ist auch eine Form des absoluten Gehörs.

Beitragsbild: Marius Masalar via Unsplash.

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