Regelmäßig fragen wir hier die, die uns im Hörsaal die Welt erklären: unsere Professor*innen und Doktorand*innen. Können sie uns wohl auch alltägliche Fragen beantworten? Sag mal Prof, verlieren wir durch Navigationsgeräte unseren Orientierungssinn? Dieses Mal antwortet Professor Doktor Simon Eickhoff. Er leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.
Wer es sich leicht macht, könnte antworten: Es gibt keinen wirklichen Orientierungssinn. Deswegen kann dieser auch nicht verloren gehen. Diese Antwort wäre aber nicht sehr zufriedenstellend. Richtig ist: Einen Orientierungssinn, so wie es einen Geschmacks- oder Geruchssinn gibt, gibt es wirklich nicht. Für die Orientierung sind der Gleichgewichts-, der Sehsinn und die Körperwahrnehmung von Bedeutung. Der menschliche Körper verfügt über Sensoren in den Muskeln und in den Gelenken. Diese sagen dem Gehirn, wo sich der Körper gerade befindet und in welche Richtung er sich bewegt. Der Orientierungssinn ist demnach eine kognitive Fähigkeit, also eine Leistung unserer Wahrnehmung.
Im Kern gibt es zwei Varianten der Orientierung. Es gibt die Menschen, die sich Wege anhand von Landmarken einprägen – also zum Beispiel anhand von besonderen Gebäuden. Und es gibt jene, die sich auf der Grundlage einer mentalen Karte orientieren.
Diese beiden Orientierungs-Fähigkeiten sind bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Das hat zum einen mit der Veranlagung zu tun. Zum anderen ist es das Ergebnis regelmäßigen Trainings. Denn das Gehirn kann trainiert werden und passt sich gut an die Erfordernisse an.
Wenn wir Wege sehr gut kennen, kommt eine weitere Form der Orientierung hinzu. Wir gehen solche Wege aus dem Gedächtnis und müssen sie nicht mehr explizit abrufen. Wenn wir aber falsch abbiegen, kommt wieder die Karte im Kopf ins Spiel. Wir können in dem Fall diese Karte, sozusagen unser Weltmodell, abrufen, um auf den richtigen Weg zurückzufinden. Jeder Mensch hat sich im Laufe seiner Erfahrungen ein mentales Modell zurechtgelegt, auf das er zurückgreifen kann. Bei manchen Menschen ist dieses Modell besser, bei manchen schlechter.
Wenn wir den Weg nun aber nicht gut genug kennen und ein Navi verwenden, können wir das sehr unterschiedlich tun. Wir können uns nur auf das Navi verlassen und uns mit anderen Dingen beschäftigen. Das ist keine Herausforderung für unser Gehirn, weil es gar nicht versucht, ein Weltmodell zu erstellen oder sich Landmarken zu merken. Man kann das Navi aber auch nutzen, indem man sich die Route anschaut, nachverfolgt und damit einprägt. Dann ist das Navi nur noch eine Gedächtnisstütze. Wie sehr der Mensch seine Orientierungs-Fähigkeit trainiert, hängt also davon ab, wie aufmerksam er ist, ob er auf die Umgebung aufpasst und versucht, diese abzuspeichern.
Wie jede Fähigkeit muss auch die Orientierungs-Fähigkeit regelmäßig trainiert werden, damit sie weiter funktioniert. Dabei kann es nützlich sein, das Navi nur als Gedächtnisstütze zu benutzen. Wenn wir uns bei allen Wegen konsequent auf das Navi verlassen, dann trainieren wir unser räumliches Vorstellungsvermögen, die visuelle Aufmerksamkeit und das Verknüpfen von Landmarken nicht. Das Gehirn wird diese Ressourcen woanders verwenden. Der Mensch verfügt aber auch ohne Navi über ausreichend Basis-Orientierungssinn. Den Weg zur Bushaltestelle werden wir also trotz Navi nicht verlernen.
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