Thema Streit: Eine Frage der richtigen Balance!

Streitkultur. Ein Thema, das unweigerlich zum Streit führt. Doch ab wann sollten wir eine Grenze ziehen? Unser Autor glaubt, dass wir uns im Streit viel zu häufig nackt machen – ohne das zu merken.

Vor drei… Nein! Vor fünf Tagen erschien auf ZEIT-Online – oder warte, … im Spiegel-Magazin. Halt! Es kam auf Facebook, Twitter oder Instagram – dieser komische Clip, in dem der berühmte Technologie-Visionär (wie war noch gleich…?) davon schwärmt, dass wir bald alle unsere Gedanken per Computer werden auslesen und via Bluetooth gegenseitig übertragen können. Ob es vielleicht sogar per WLAN oder Infrarot, ZigBee, WiMAX oder Schlagmichtot war, vermag ich nicht mehr zu sagen.

Es soll in diesem Text auch nicht um Zukunftsvisionen gehen, sondern um die Situation, in die ich geraten bin, als ich mich mit meinem unverbesserlichen Freund Jonathan, der in der Realität so ähnlich heißt, über diesen absurden Technik-Clip unterhielt.

Ich frage mich nämlich ernsthaft, ob ich der Einzige bin, der sich in die absurdesten Diskussionen derart hineinsteigern kann. Bloß, um im Nachhinein feststellen zu müssen, dass vom Thema selbst nicht viel hängen geblieben ist – und ich die Nerven in sinnvollere Tätigkeiten hätte stecken können. Und es kommt mir so vor, als wäre ich nicht der Einzige. Als wäre die Streitlust in vielen Fällen größer als das Thema selbst. Das fällt mir auf, wenn ich auf Social Media unterwegs bin, durch die Zeitung blättere oder mit offenen Ohren auf dem Campus sitze. Die Leute streiten um Themen, die mir teilweise so schräg erscheinen. Aber wie kam ich nochmal darauf, dass das etwas Schlechtes sein muss?

Sind wir zu sensibel geworden?

Streitwütige Personen seien heutzutage noch empfänglicher dafür, sich angegriffen zu fühlen, als früher. Das ist eine These, die ich häufig lese, erst kürzlich wieder in der ZEIT. Dabei sei es egal, ob eine Person tief in ihrer eigenen Meinungs-Bubble stecke oder sich die Ansichten anderer nur „anziehe“ oder „überstülpe“, um streitwütig sein zu dürfen. Ich bin kein Fan von verallgemeinerten Aussagen, aber irgendwie ist da schon was dran. Es zeigt sich in sensiblen Zeiten, und das sind sie fast immer, wie schnell aus der Diskussion um ein vermeintliches Thema ein Streit werden kann. Streit, das ist für mich ein Interessenkonflikt, der die persönliche Ebene beim Gegenüber nicht ausspart. Da es dabei emotional zugeht, neigen wir schnell dazu, uns gegenseitig anzufeinden. Das kann mit Fragen beginnen, ob kreisrunder Haarausfall das Verteilen einer Ohrfeige rechtfertigt oder verflochtene Haare zum Ausschluss einer Demo führen sollten. Oder, wie in meinem Fall, ob unsere Spezies mehr ist als bloß Atome.

Zugegeben: Die Diskussionen zwischen meinem Freund Jonathan und mir sind kein Musterbeispiel für die politisch korrekte Auseinandersetzung. Wohl aber eines dafür, wie man eine Kleinigkeit unverhältnismäßig groß aufblasen kann. Was wiederum gut zum Thema passt. Um den Fall etwas anschaulicher zu gestalten, folgt hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Gedächtnisprotokoll zu Jonathans und meinem letzten Streit.

Let’s Streit – aber wie?

Jonathan: Bullshit. Dein spirituelles Gehabe ist einfach Bullshit. Gedanken sind Informationen. Und Informationen kann man nachbilden, sofern die Auflösung stimmt. Daran arbeiten wir aktuell. Alles andere ist Bullshit. Ich: Sorry, ich weiß, es ist spät, aber du wirst doch zunehmend geisteskranker. Jonathan: Die Welt beruht auf Fakten, Daten. Und Daten kann man kopieren. Verändern. Verbessern. Das schließt Gedanken nicht aus. Ich: Ich hab gelesen, dass Elon Musk vor einer Woche im Berliner Bordell eine Party gefeiert hat. Was der sich wohl dabei gedacht hat? Jonathan: Nur weil du’s nicht wahrhaben willst, heißt das nicht, dass nicht alles Information ist… Ich: Aber du hast dich doch auch letztens gefreut, als du… Das war doch ein Gefühl. Ein richtiges GEFÜHL! Jonathan: Nimm mich doch einfach mal ernst jetzt. Auch so Sachen wie Gott. Das ist nur ein Gedankenspiel, eine Information, die man auslesen könnte. Und verändern. Alles eine Frage der Auflösung. Ich: Ich finde ja nicht nur, dass du zunehmend geisteskranker wirst, sondern auch unverschämter. Seit deiner Alles-ist-Information-Tour verstehst du auch keinen Humor mehr… Nur noch Fakten. Jonathan: Ist klar, dass du mit der Wahrheit nicht umgehen kannst, sondern nur zynisch reagieren… Aber du gewöhnst dich auch noch dran… Ich meine, dass alles Information ist. Ich: Wenigstens kann ich noch zynisch sein. Ein Computer kann das nicht. Und du bald auch nicht mehr. Jonathan: Was glaubst denn du, woraus ein Gedanke besteht? Ich: Darüber möchte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Habe schließlich noch ein Fünkchen Respekt vor der Menschheit…

Zwei Streittypen

Eigentlich ist es simpel. Ein Streitgespräch sollte im besten Fall für beide Seiten positive Energien erzeugen. Dazu braucht es Offenheit für neue Perspektiven. Ich habe dazu irgendwann mal die Beschreibung des „reinigenden Gewitters“ gelesen, die mir gut gefiel. Nun gibt es, möchte ich meinen, im Streit zwei Typen. Beide können es erschweren, dass sich die Wolken so richtig ausschütten.

Zunächst diejenigen, die sich dem logischen Argument zugunsten ihres Bauchgefühls entziehen. Was sich falsch anfühlt, muss falsch sein. Der Mensch ist auf der sicheren Seite, wenn er aus dem Bauch heraus argumentiert. Er hat schließlich ein bestimmtes Bild von sich und der Welt, und das gilt es, nach außen zu präsentieren. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die auf dem wissenschaftlichen Fakt beharren. Wer das tut, fühlt sich inhaltlich über jeden Zweifel erhaben.

Wenn nun die Person, die sich auf ihr Bauchgefühl verlässt, im Streit ein Argument hört, das ihr nicht gefällt, kann sie leicht sagen, das Gegenüber liege falsch. Der Typ ist ihr ohnehin nicht geheuer, warum ihn also nicht von vornherein disqualifizieren? Positive Energien? Eher nicht. Wenn man im Streit hingegen ausschließlich auf Fakten beharrt und die andere Seite diese Sicht kritisiert, ist es genauso leicht, das Gegenüber als unwissend abzustempeln. Empathie? Braucht es nicht, solange es Fakten gibt. Positive Streitkultur? Wieder: eher nein. Aber: Genügt diese Erwähnung von Streittypen bereits, um zu erklären, warum wir uns über ein absurdes Thema so leidenschaftlich streiten? Ich glaube, der Kern des Problems ist damit noch nicht freigelegt.

Klar ist nämlich, dass jede*r irgendwelche eigenen Wahrheiten benötigt, um sich in einer freien Welt zurechtzufinden. Da kann man an die Liebe glauben, auf Rationalität setzen oder den*die Einzelkämpfer*in geben. Hauptsache, Orientierung. Wird eine dieser Wahrheiten, die wir entweder von Familie und Freund*innen übernommen oder selbst gesucht und gefunden haben, angegriffen, läuten die Alarmglocken. Jetzt muss ich mich verteidigen, mich selbst erhalten. Ein Argument, das auf so einen persönlichen Punkt zielt, kann dem Gegenüber schnell die Farbe der Unsicherheit ins Gesicht treiben und zu glasigen Augen führen. Das ist häufig der Punkt, an dem aus einer Meinungsverschiedenheit ein Schlagabtausch aus Vorurteilen („Du bist eh konservativ, mit dir kann man nicht reden.“) und Ärger wird.

Eigene Meinung oder Modeerscheinung?

Bevor wir dann eine Konterstrategie aus dem „Werkzeugkasten“ ziehen – die Auswahl ist riesig und reicht von Beleidigung über Zynismus bis hin zur aufgesetzten Opferrolle –, sollten wir uns ein wenig zurücknehmen und uns selbst auf den Prüfstand stellen.

Hat die momentane Wut tatsächlich etwas mit mir selbst zu tun? Was war der Punkt, an dem ich mir eine Haltung einverleibt habe – und warum? Was war zu diesem Zeitpunkt los in meinem Leben? Und ist das alles in Stein gemeißelt? Um kurz einen kleinen Günter Grass raushängen zu lassen, damit er anschließend für immer schweige: Viele der zeitgenössischen Streitthemen hängen ganz bestimmt mit Trends zusammen. Da ziehen wir uns eine (politische) Haltung an, und schauen wir sexy darin aus, stellen wir sie zur Schau. Ich meine, warum sonst habe ich 2018 für drei Monate mit dem Konservatismus geliebäugelt? Ja, klar, weil ich den französischen Schriftsteller und Provokateur Michel Houellebecq* auf so unangepasste Weise cool fand. Und ganz unmodisch ist meine kritische Haltung gegenüber dem Alles-ist-Information-und-sonst-nichts-Gedanken sicherlich auch nicht.

Aber was hat dieses Trendysein mit Streit zu tun? Das liegt im Grunde auf der Hand. Unter den Kleidern sind wir nackt. Und verletzlich. Und so zeigt sich Frau wie Mann bei weitem nicht jeder und jedem. Warum sollten das mit unseren eigenen Wahrheiten in ihrer ganzen Nacktheit also anders sein? Nein, dann lieber doch ein bisschen was überwerfen, ein bisschen trendy sein. Oder aber: ganz bewusst authentisch sein – und sich der Verletzlichkeit bewusst. Wenn ich gerade davon gesprochen habe, dass jede*r seine*ihre eigenen Wahrheiten hat, sollte das nicht bedeuten, dass das etwas Schlechtes wäre. Es heißt bloß, dass wir über unsere eigenen Wahrheiten nachdenken könnten. Auf eine persönliche Suche danach gehen. Wer dabei fündig wird, hat viel dazugewonnen.

Hat man es geschafft, bloße Zeiterscheinungen von der eigenen Grundhaltung zu trennen, ist das ein guter bis sehr guter Ansatz gegen unnötige gegenseitige Kränkung im Streit. Jetzt haben wir es selbst in der Hand, wie viel wir von uns preisgeben, wie viel Gedanke wir zeigen und womit wir uns kleiden wollen. Jede*r, wie es ihr*ihm gefällt. Wir laufen nicht mehr Gefahr, uns unverhofft aus der Reserve locken zu lassen.

Synthesen schaffen und sich von unnötigem Ballast trennen

Für Jonathan und mich hieße das, dass wir einmal ernsthaft in uns gehen sollten. Also jeder für sich genommen. Streiten wir nur, um uns unserer eigenen Grundhaltungen zu vergewissern? Also er naturwissenschaftlich und ich spirituell? Das wäre ein ziemlich unästhetisches Streitgebilde. Viel zu persönlich, viel zu privat. Viel zu hoch das Potential für Verteidigungsstrategien. Oder erleben wir das „reinigende Gewitter“? Durchaus, manchmal. Dann gehen wir mit einem guten Gefühl nach Hause. Was aber Themen wie die Gedankenübertragung angeht: Mindestens viel zu häufig haben wir uns nicht im Griff. Wir geben dann so etwas wie einen gedanklichen Ringkampf ab, den sich niemand vorzustellen braucht. Anschließend fühlen wir uns vor allem eines: verschwitzt und irgendwie unwohl. Am heutigen Mittwoch sind es 15 Grad Celsius. Als ich morgens Social Media geöffnet habe, kam mir die geistige Tagestemperatur höher vor. Da lag wieder mal Streit in der Luft. Trotzdem ziehe ich heute zur Sicherheit eine Jacke an, der Sommer ist schließlich noch nicht ganz bei uns angekommen.

*siehe: Michel Houellebecq (natürlich mit Zigarette)

Beitragsbild: Pixabay

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