„Die Strukturen an deutschen Universitäten sind genauso kolonial wie vor hundert Jahren“

Foto: Mark Vorwerk

Wissen wird an deutschen Hochschulen aus europäischer Perspektive vermittelt. Schwarzes Wissen wird oft ignoriert. Das kann auch gesellschaftlich fatal sein, erklärt Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Dr. Natasha A. Kelly. Sie fordert Black Studies an deutschen Hochschulen.

Dr. Natasha A. Kelly ist Soziologin, Kommunikationswissenschaftlerin, Autorin, Künstlerin und Kuratorin. In ihre vielfältigen Tätigkeitsfelder bringt sie Engagement gegen Rassismus mit ein und reflektiert und forscht über die afrodeutsche Geschichte.

Warum brauchen wir an deutschen Hochschulen Lehrstühle für Black Studies?

Fangen wir mit der Einzahl an. Wir bräuchten erst mal überhaupt einen Lehrstuhl für Black Studies. Da spreche ich auch noch nicht von einem Institut oder Ähnlichem, das wäre schon ein großes Ziel. Ein Zentrum wäre etwas dazwischen, aber ein Lehrstuhl für Black Studies ist das Minimum. Ich würde sagen, den brauchen wir definitiv, ja.

Wir brauchen den Lehrstuhl, um die Perspektive zu wechseln. Viele Theorien, die Mitglieder marginalisierter Gruppen entwickelt haben, sind europäisiert worden und stammen eigentlich aus den Black Studies. Das gilt beispielsweise für die Diversitäts- und Intersektionalitätstheorie oder die postkoloniale Theorie. Da sind Black Studies die disziplinäre Basis.

Intersektionalitätstheorie
Intersektionalität beschreibt sich überschneidende, gleichzeitige Diskriminierungskategorien. Die Schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw verwendete den Begriff erstmalig Ende der 80er Jahre, als sie auf eine doppelte Diskriminierung Schwarzer Frauen im US-amerikanischen Firmengeschäft verwies.
Die Intersektionalitätstheorie nahm ihren Anfang in der Versklavung und wurde von Crenshaw weiterentwickelt, um den Ausschluss Schwarzer Frauen aus feministischer Theorie und Forschung zu adressieren. Davon ausgehend, dass zum Beispiel Gender und Race nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.
Postkoloniale Theorie
Ab Ende der 50er Jahre verbreiteten Wissenschaftler*innen of Color und Schwarze Wissenschaftler*innen wie zum Beispiel Frantz Fanon in ihren Werken eine kritische Haltung gegenüber der Kolonialisierungsgeschichte.
Als postkoloniale Theorie wird die kritische, wissenschaftliche Beschäftigung mit sozio-historischen Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen Ländern des globalen „Südens“ und „Nordens“ beschrieben.

An der Goethe-Universität Frankfurt am Main gibt es das Research Center for Postcolonial Studies. Die Universität Bremen hat das Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien.
Warum beschäftigen sich nur so wenige Hochschulen in Deutschland mit dem Thema?

Weil in der deutschen Forschung und Lehre eine Monoperspektivität herrscht und das ist der Eurozentrismus. Auch postkoloniale Studien werden aus dieser eurozentrischen Perspektive gelehrt und erforscht. Afrikawissenschaften, Lateinamerika-Studien, transkulturelle Studien, postkoloniale Studien – you name it. Selbst, wenn wir uns das „Schwarzsein“ ansehen, werten wir dies ausschließlich aus einer eurozentristischen Perspektive.

Wo setzen Black Studies an?

Black Studies werden aus einer afrozentrischen Perspektive gelehrt. Das heißt, die Grundlage sind die von Afrikaner*innen entwickelten Werte und Normen.
Hier ist es sehr wichtig, zu verstehen, dass der Afrozentrismus nicht dem Eurozentrismus gegenübersteht. Genauso wenig, wie Schwarz und weiß sich gegenüberstehen.
Das koloniale Machtverhältnis hat dazu geführt, dass der Afrozentrismus eine europäische Perspektive beinhalten kann, umgekehrt schließt sich das aus. Wir als Schwarze besitzen eine gewisse „double consciousness“ und das ist der wichtige Unterschied, der Black Studies einen Mehrwert gibt.

Double Consciousness
Den Begriff des doppelten Bewusstseins – „double consciousness“ – hat der US-amerikanische Soziologe W. E. B. Du Bois geprägt. Er beschreibt den Zustand, sich selbst durch die Augen anderer zu sehen und dadurch gewaltvolle, diskriminierende Normen im eigenen Selbstbild verinnerlicht zu haben. Daher sei es wichtig, dass Schwarze Menschen lernen, sich selbst jenseits dieser weißen Vorstellungen zu sehen. Das Konzept ist ein Ausdruck für die „innere Zweiheit“ der Identität, die Afroamerikaner*innen und andere rassistisch markierte Menschen aufgrund rassistischer Unterdrückung und Abwertung erfahren haben und es noch tun.

Der europäische Fokus hilft dem Diskurs also nicht weiter?

Wenn wir uns mit Schwarzer Identität, Kultur oder ähnlichem beschäftigen, kann dies nicht aus einer eurozentrischen Perspektive geschehen, da wir dann bei Stereotypen stehenbleiben. Bei Exotisierung stehenbleiben. Bei Erotisierung stehenbleiben. Und es nicht schaffen, jenseits dessen zu schauen.
Die Schwarze Erfahrung ist mehr als die Summe von Rassismuserfahrungen. Das ist es, was Black Studies vermitteln kann. Der Eurozentrismus kann das nicht.

Also haben die Forscher*innen im Prinzip schon falsch begonnen mit ihren bisherigen Versuchen, zum Beispiel Transkulturelle und Postkoloniale Studien einzuführen?

Ganz genau das ist meine Kritik. Der Bund hat zum Beispiel das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung mit neun Millionen Euro gefördert, damit die Mehrheitsgesellschaft sagt, dass wir ein Rassismusproblem haben? Das wirkt doch wie ein Witz. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das auch vorher wussten. Das war ein teures Ergebnis und das Geld hätte anders angelegt werden können.

Wie hätten Sie es eingesetzt?

Ich hätte Black Studies finanziert. Ein ganzes Institut. Mit dem Geld hätten sogar zwei realisiert werden können.

Im Jahr 2015 wurde die Forschungsgruppe „Black Knowledges“ aufgelöst, die zum Bremer Institut gehörte. Es gab Kritik an deren weißer Besetzung.
Woran kann es liegen, dass die Gruppe keine Poc und Schwarze miteinbezogen hat?

Weil sie versucht haben, Black Studies aus einer eurozentrischen Perspektive zu gründen.
Wenn wir die dekoloniale Theorie in den Blick nehmen, dann sind ihre drei wichtigsten Säulen Wissen, Macht und Körper. Und im Eurozentrischen sind Körper genormt. Nur bestimmte Körper sind politische Körper und der weiße Körper bleibt dabei neutral und bildet die Norm. Dies hat die Forschungsgruppe mit ihrem Vorgehen reproduziert.
Im Kontext der dekolonialen Theorie ist der Körper wichtig. Und das hat die Gruppe nicht berücksichtigt. Du kannst Wissen und Macht niemals vom Körper trennen. Black Studies sind an Schwarze Körper gebunden, an Schwarzes Wissen, Schwarze Perspektiven und Schwarze Erfahrungen. Eben, weil wir eine historisch begründete „double consciousness“ haben, die weiße Körper niemals haben werden.

Der Diversitätsbegriff wird in Deutschland viel verwendet und auch Hochschulen tragen ihn nach außen. Polieren sie so nur das Fremdbild auf, ohne wirklich strukturelle Veränderungen zu forcieren?

Diversität ist einer der Begriffe, die aus dem Bereich der Black Studies herausgegriffen, vereinnahmt und auf den Kopf gestellt wurden. So wechselt er von einer afro- zu einer eurozentrischen Definition.
Es ist mir ein Rätsel, wie das funktionieren soll, denn aus einer eurozentrischen Sicht wird die Diversität nur im Außen gesucht. Das bedeutet, ich sehe eine Reihe von Menschen an und beurteile: Sie ist divers, er ist divers und so weiter. Divers bedeutet aber eigentlich, dass ich in meinem Inneren divers bin. So wird es jedenfalls aus einer Schwarzen, ursprünglichen Perspektive definiert. Dass wir als Schwarze Community divers sind in uns selbst. Dass wir facettenreiche Wesen sind mit mehr als einem Identitätsmerkmal.
Ich bin Frau, Mutter, Professorin. Das sind viele Dinge, die sich in mir einen, und das ist auch der intersektionale Gedanke. Genau für diese Diversität, die jede*r von uns mitbringt, muss Raum geschaffen werden.
Gemacht wurde daraus, dass ich ein Wesen bin, neben mir ein Wesen ist und diese Personen zusammen eine Diversität ergeben und da sind wir schon wieder an der Grenze zum „Tokenism“.

Tokenism
Tokenismus ist die kritische Bezeichnung für ein Handeln, das nur symbolisch Mitglieder marginalisierter Gruppen einbezieht. So hat die Symbolkraft einer „Quotenfrau“ beispielsweise keine Auswirkungen auf die sozialpolitische Gleichstellung der Gruppe.
Dekoloniale Theorie
Die dekoloniale Theorie stammt aus Südamerika und wurde durch Wissenschaftler*innen wie Walter D. Mignolo geprägt. Sie kritisiert den Postkolonialismus der westlichen Modernen und tritt zum Beispiel mit der kritischen Theorie des Postkolonialismus, den jüngeren Black Studies und den europäischen Ansätzen der Interkulturalität in den Austausch. Es geht darum, scheinbaren Postkolonialismus zu entlarven, dekoloniale Alternativen zu entwickeln und eine Machtkritik, die verschiedene Disziplinen vereint.

Welche Verantwortung trägt die Wissenschaft in Bezug auf strukturellen Rassismus?

Eine ganz große Verantwortung. Ich würde sogar sagen, dass Universitäten die Brutstätte des Rassismus waren, wenn wir uns Diskurse wie die Biologisierung der Rassenideologie anschauen. All das ist ja auf Basis einer Pseudowissenschaft erfolgt.
Große Dichter und Denker haben Afrika beispielsweise schon sehr früh seine Eigenständigkeit abgesprochen, seine Geschichtlichkeit abgesprochen. Daher ist die Verantwortung der Wissenschaft immens. Die wird aber leider nicht erkannt.

Für wie entkolonialisiert halten Sie den akademischen Betrieb in Deutschland?

Wir haben nach wie vor koloniale Strukturen an deutschen Universitäten. Postkolonialismus sagt nicht, dass wir in einem „danach“ angekommen sind, sondern, dass der Kolonialismus in Erkenntnis- und Repräsentationssystemen noch andauert.
Kolonialismus an sich ist zweierlei. Auf der einen Seite war er ein Macht- und Herrschaftssystem, das bestimmte Territorien „erobert“ hat. Diese Phase ist vorbei. Aber er hat ja auch unsere Denkstrukturen geprägt, unsere Sprache, unsere Sehgewohnheiten, hat Wissen erzeugt. Also alles, was an Universitäten produziert wird. Das geschieht ungehindert fort. Wir sind also noch lange nicht angekommen im „danach“ an Universitäten: Die Strukturen sind genauso kolonial wie vor hundert Jahren.
Es geht nicht nur darum, Geschichten aus der Perspektive Unterdrückter zu erzählen, sondern auch bereits vorhandenes, nicht-rassifiziertes Wissen einzubeziehen. Das wäre der nächste Schritt. Hätten wir an deutschen Universitäten solche dekolonialen Bestrebungen und postkoloniale Strukturen im wörtlichen Sinn, hätten wir Black Studies.

 

Einen Kommentar zum Thema Black Studies an deutschen Universitäten gibt es hier.

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