Der sportliche Werdegang von Hans-Peter Durst war geprägt von Rückschlägen und Erfolgen. Er sammelte auf nationaler und internationaler Bühne unzählige Titel. Doch für Durst stand nicht immer bloß der Sport im Vordergrund.
Fawkam, England. 5. September 2012. Auf den Tribünen des Brands Hatch Circuit, 60 Kilometer südlich von London, tummeln sich Menschenmassen. Es ist der achte Tag der Paralympics, den Olympischen Spielen der Sportler*innen mit körperlicher Behinderung. Die Sonne knallt erbarmungslos auf den Asphalt. Die Stimmung ist trotz der drückenden Hitze gelöst. Eigentlich finden auf der Strecke Motorsportrennen statt, doch heute warten alle auf das Einzelzeitfahren der Rennradfahrer*innen der Klasse T2. Einer der Favoriten auf die Goldmedaille ist der Dortmunder Hans-Peter Durst – eigentlich.
Denn noch drei Wochen zuvor hatte der 54-Jährige einen Trainingsunfall am Phoenix-See. Ein betrunkener Radfahrer hat ihn mit drei Promille umgefahren. Ein dreifach gebrochener rechter Arm und eine Teilruptur des linken Daumens waren das Ergebnis. Fast genauso schlimm waren die Beschädigungen an Hans-Peters Rad, einer 17.000 Euro teuren Spezialanfertigung mit drei Rädern. Der Schock sitzt tief. Der Traum von den Paralympics droht zu platzen.
„Für mich war klar: Ich kann da nicht starten. Die Verletzungen waren zu groß. Mental war ich auch nicht bereit für einen Wettkampf“, blickt der heute 64-Jährige zurück. Doch sein Team ist auf ihn angewiesen. Immerhin ist er sowohl im Zeitfahr-, als auch im Straßenrennen trotz Verletzung Favorit auf eine Medaille. Bundestrainer Patrick Kromer legt mit drei weiteren Teamkollegen auf der Fahrt nach London einen Stopp in Dortmund ein, um seinen Schützling zu motivieren, doch bei den Paralympics teilzunehmen. „Als ich Hans-Peter dasitzen sehen hab, sahen die Verletzung schon sehr dramatisch aus. Aber wir haben ihm gut zugeredet und ihm gesagt, dass alles gut wird“, blickt Kromer zurück. Mit Erfolg. „Am Ende habe ich mir gedacht: Geht nicht, gibt’s nicht“, erzählt Durst.
Der Wendepunkt
Wie benebelt von den Schmerzen und vollgepumpt mit Medikamenten steht Hans-Peter ein paar Tage später an der Startlinie. Der Daumen eingepackt in einem dicken Verband und der Arm stabilisiert mit einer Schiene. Trotz der Umstände heißt es in dem Moment: abliefern. Einfach funktionieren und alles geben. Durst: „Im Nachhinein kann ich mich kaum an das Rennen erinnern. Aber viele Freunde aus der Heimat waren an der Rennstrecke und das hat mich motiviert, nochmal ein Mü mehr zu geben.“ Sensationell holt er Silber. Leid und Freude liegen an dem Tag eng beieinander. In einem Interview mit der Rheinischen Post erzählt er nach dem Rennen, dass er allerhöchstens mit dem fünften Platz gerechnet habe. Das Straßenrennen drei Tage später muss er wegen der Schmerzen unter Tränen abbrechen.
Kein Wunder: Durst kann in den Tagen davor noch nicht einmal allein auf die Toilette gehen. Dabei muss ihm seine Ehefrau Ulrike helfen. Sie fährt ihn während der Paralympics für Routinekontrollen und Verbandswechsel täglich in die Klinik. Eine*n externen Helfer*in kann der Verband aus Kostengründen nicht stellen. „Es war Abenteuer pur. In der Woche bei den Paralympics habe ich zusammengerechnet, wenn überhaupt, 30 Stunden geschlafen. Wir waren nonstop unterwegs“, erinnert sich Ulrike Durst.
Doch 2012 ist mehr als ein Abenteuer. Es ist ein entscheidender Punkt im Leben des Ehepaar Durst. Ulrike Durst: „Wir haben nach den Paralympics beschlossen, dass Hans-Peters Karriere unser gemeinsames Projekt wird.“ Dafür kündigt sie ihren Job und legt den Fokus vollkommen auf die Organisation und Unterstützung der Sportkarriere ihres Ehemanns.
Der gebürtige Bayer fuhr im Mai 1994 auf dem Weg zur Arbeit mit Tempo 160 auf einen Lkw auf, der plötzlich auf die Überholspur geraten war. Bis dahin war der Vater von zwei Kindern als Betriebswirt in einer Brauerei tätig. Fast zwei Jahre lang wurde er nach dem Unfall immer wieder operiert. Doch nicht alles konnte am Ende geheilt werden. Hans-Peter Dursts Sehfeld wurde durch den Unfall eingeschränkt und das Gleichgewichtsorgan ist seitdem gestört. Ohne Hilfsmittel kann er seitdem nicht mehr gehen. In der Reha hat er das Dreiradfahren für sich entdeckt.
Nach vielen Jahren im Amateurbereich wurde er 2011 schließlich erstmals in die Nationalmannschaft berufen und im gleichen Jahr auch Weltmeister im Einzelzeitfahren sowie Deutscher Meister im Straßenrennen. Nach den Paralympics 2012 hat der Dortmunder noch acht Mal die Welt- und 19 Mal die deutsche Meisterschaft gewonnen. Dazu zweimal den Weltcup und 2016 bei den Paralympics in Rio de Janeiro (Brasilien) zwei Goldmedaillen. Außerdem wurde er dreimal Dortmunds Sportler des Jahres.
Eigene Prinzipien sind wichtiger als Erfolg
Immer mit dabei: Ehefrau Ulrike. Eine der, wenn nicht sogar die wichtigste Person, in der Karriere von Hans-Peter Durst. Ein untrennbares Duo, das jedes Jahr von April bis September weltweit gemeinsam unterwegs war. „Wir sind ein super Team. Das fing zum Beispiel da an, wenn wir das Auto für die Abfahrten gepackt haben. Das hat ohne Kommunikation funktioniert. Jeder von uns wusste genau, wo was hinmusste“, erzählt Ulrike Durst.
Kennengelernt hat sich das Paar in einer christlichen Gemeinde. Der religiöse Glaube ist für Ulrike und Hans-Peter ein ständiger Begleiter und wichtiger Teil ihres Lebens. „Der Glaube ist etwas, an dem man festhalten kann. In guten und auch in schlechten Zeiten. Wie eine Basis im Leben. Das hat mich immer gesettelt“, verrät Hans-Peter. Auch nach dem Unfall war es neben der Familie und Freunden der Glaube, der Hans-Peter nicht in ein tiefes Loch hat fallen lassen. „Vor dem Start eines Rennens habe ich als Ritual für mich, aber auch für alle anderen Teilnehmer, ein Gebet abgesendet: Lieber Gott, lass alle bitte heil im Ziel ankommen.“ Das war auch seinem langjährigen Bundestrainer Peter Kromer bewusst: „Als Sportler war Hans-Peter unglaublich ehrgeizig und hatte Biss. Er ist aber trotzdem fair und respektvoll mit der Konkurrenz umgegangen, hat sie schon fast wie Familienmitglieder behandelt.“
Fairness und Respekt. Zwei Werte, die dem Dortmunder sehr am Herzen liegen. Seine Prinzipien waren auch der Grund, weshalb Durst die Teilnahme an den Paralympics 2020 in Tokio (Japan) verweigert hat. 100 Tage vor dem Beginn der Spiele hat der Dortmunder die Entscheidung getroffen, nicht nach Asien zu reisen. Eigentlich sollte es der Abschluss seiner Karriere werden, doch die damalige Corona-Lage in Japan war ihm zu angespannt.
Inklusion: Eine Herzensangelegenheit
Ein Verband von knapp 6000 Ärzt*innen hatten im Vorfeld an die Organisatoren appelliert, die Spiele abzusagen. Ein Großteil der Bevölkerung war noch nicht geimpft und die Gefahr, dass eine erneute Infektionswelle ausbricht, war groß. Die Sportler*innen mussten isoliert in dem paralympischen Dorf leben. Zuschauer*innen waren bei den Veranstaltungen ebenfalls nicht erlaubt. „Die Japaner sind ein stolzes Volk und wie mit der Situation und den Menschen umgegangen wurde, fand ich einfach respektlos“, blickt Durst zurück.
Er hat sich mit anderen Paraathlet*innen zusammengeschlossen und unter anderem durchgesetzt, dass bei den Paralympics die Helfer*innen Masken tragen müssen und mindestens eine Impfung mit dem Stoff Johnson & Johnson erhalten. Doch auch der Fakt, dass keine Zuschauer*innen zugelassen waren, habe ihn gestört: „Die Paralympischen Spiele sind vor allem dafür da, einen Austausch mit der Bevölkerung zu erleben. In Japan leben Menschen mit Behinderungen weitestgehend isoliert und die Spiele sollten dafür genutzt werden, um zu zeigen, dass auch sie Teil der Gesellschaft sind. In Brasilien 2016 hat das zum Beispiel wunderbar funktioniert.
Rückblickend, erzählt er, wären die Paralympics 2016 der perfekte Zeitpunkt gewesen, die Karriere zu beenden. Der sportliche Ehrgeiz und Wille noch mehr zu erreichen, war aber größer. Nach einem weiteren Jahr ist Hans-Peter Durst im Juni 2022 in Köln sein letztes Rennen gefahren. Bei den deutschen Meisterschaften im Zeitfahren hat der Dortmunder den zweiten Platz belegt.
„Jetzt wird es definitiv ruhiger in meinem Leben. Ich will die Zeit im Ruhestand nutzen, um mich einfach mal hängen zu lassen und wieder mehr Zeit mit der Familie und Freunden verbringen.“ Dem Sport komplett den Rücken kehren wird Durst aber nicht. Zukunftspläne hat er genug: „Ich werde meine Erfahrungen im Radsportverband weitergeben und bei einer Stiftung aktiv bleiben, die sich für das Tragen von Fahrradhelmen einsetzt. Aber auch als Beauftragter der Stadt Dortmund für die sportliche Inklusion von Menschen mit Behinderung möchte ich einiges erreichen.“
Beitragsbild: Hans-Peter Durst