Zahlreiche Medien berichten über rechtsextreme Einflussnahme auf die diesjährige Schöff*innenwahl. Dabei lenken sie von einer größeren Gefahr ab – und laufen direkt in die Falle von Querdenkern und Neonazis.
Ob sie dazu raten würde, Schöffe zu werden, fragt NPD-Vizechef Sebastian Schmidke seine Gesprächspartnerin in einem YouTube-Video. Sie, die Rechtsanwältin Nicole Schneiders, antwortet ganz nüchtern: Wenn jemand „politisch besonders engagiert“ sei, bei einer linken oder rechten Organisation, dann müsse man sich „natürlich Gedanken machen“, ob es Gründe zur „Besorgnis wegen Befangenheit“ gebe. Aber: Wenn jemand Schöffe werden wolle, rate sie dazu gern.
Das Video hat knapp 1.500 Aufrufe und wurde prominent auf Telegram geteilt, etwa vom Bundesverband der NPD (neuerdings Die Heimat) oder von Der Heimat Dortmund, einem parteigeschützten Sammelbecken der hiesigen Neonaziszene.
Aufrufe von rechtsextremen Gruppen, Querdenkern und AfD
Anwältin Schneiders ist aus Neonazikreisen bekannt, sie hat unter anderem Ralf Wohlleben im NSU-Prozess vertreten. Dass sie im Video dazu rät, sich für das Schöff*innenamt zu bewerben, ist nicht allzu überraschend. Von solchen Aufrufen gibt es einige. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Mike Monscek hat auf seiner Website dazu animiert, sich an der diesjährigen Schöff*innenwahl zu beteiligen, die Querdenker Markus Haintz und Christian Dahlmann auf Telegram, wo ihnen Zigtausende Menschen folgen.
In einer Telegram-Gruppe mit über 150.000 Abonnent*innen haben außerdem die rechtsextremen Freien Sachsen appelliert, Schöff*in zu werden: um „den grünen Richter zu überstimmen, der bei Neubürgern wieder einmal kulturellen Strafrabatt geben will“.
Und zumindest theoretisch könnten sie das tatsächlich. Schöff*innen sind Menschen ohne juristische Vorbildung, die bei Prozessen an Gerichten unterer Instanz eingesetzt werden (siehe Infobox). Dabei haben sie die gleiche Stimme wie Berufsrichter*innen. In der Konstellation des sogenannten Schöffengerichts, bei der zwei Schöff*innen mit einem*einer Berufsrichter*in urteilen, könnten sie diese*n sogar überstimmen.
Gerade am Amtsgericht gibt es einen ziemlich großen Entscheidungsspielraum. Da kann es um die Länge der Freiheitsstrafe gehen, aber auch um die Frage, ob es überhaupt Gefängnis sein muss oder doch nur eine Geldstrafe.
Gefahr durch hohe Entscheidungsfreiheit
„Der Rechtsstaat lebt von der Gleichberechtigung. Wenn Sie aber eine Ideologie der Ungleichwertigkeit haben, wird es dazu kommen, dass Sie das Grundprinzip der Gleichheit nicht aufrechterhalten können“, sagt der Dortmunder Rechtsextremismusforscher Dierk Borstel. „Dann werden Menschen unterschiedlich bestraft für die gleiche Tat im gleichen Kontext, weil sie zum Beispiel Migranten oder Jüdinnen oder schwul sind.”
Eine große Menge an Medien hat sich diesem Thema angenommen. Vom öffentlich-rechtlichen Sender bis zum Springer-Blatt warnen Journalist*innen vor dieser Gefahr.
Praktisch gibt es aber nur die Aufrufe. „Indizien für eine Unterwanderung gibt es nicht“, sagt Joachim Wagner, Jurist und Experte für rechte Richter*innen und Schöff*innen. Generell ist von einer tatsächlichen Gefahr kaum eine Spur. Das hat mehrere Gründe.
Keine Indizien für eine Unterwanderung
Für Rechtsextreme ist es gar nicht so einfach, tatsächlich Schöff*in zu werden. Viele sind schon dadurch ausgeschlossen, dass sie eine Strafakte haben. „Rechtsextreme Lebenskultur ist automatisch verbunden mit Formen von Gewalt, Propagandadelikten oder Widerstand gegen die Staatsgewalt“, sagt Borstel. Da straffrei durchzukommen, sei unwahrscheinlich.
Einzelne Bewerber*innen werden auch bei der Wahl herausgefiltert. Je ein Ausschuss der Gemeinde und des Amtsgerichts müssen mit Zweidrittelmehrheit über die Bewerber*innen abstimmen. Wer kommunal aus Neonazi- oder Querdenker-Szenen bekannt sei, werde nicht mit der benötigten Mehrheit auf die Vorschlagsliste gewählt, sagt Jurist Hasso Lieber, der seit 15 Jahren Kommunen auf die Schöff*innenwahlen vorbereitet. In Großstädten ist die Menge der Bewohner*innen und Bewerber*innen allerdings zu groß, um effektiv einzelne herauszufiltern.
Tatsächliche Gefahr sehr hypothetisch
Der wesentlichste Punkt aber ist: Selbst wenn es einzelne rechtsextreme Schöff*innen geben sollte, könnten sie viel weniger bewirken, als es auf den ersten Blick scheint. Sie haben zwar die gleiche Stimme wie Berufsrichter*innen, urteilen aber niemals allein. Um tatsächlich ein rechtsextrem motiviertes, ungerechtes Urteil durchzusetzen, müssten mindestens zwei Rechtsextreme in einem Prozess zusammenkommen. „Diese Situation habe ich bisher in der Bundesrepublik noch nicht gesehen“, sagt Lieber.
Da alle Schöff*innen zu Beginn eines Jahres auf die Termine ausgelost werden, können sich nicht zwei Rechtsextreme zusammentun. Auch können sie nicht beeinflussen, bewusst zu Verhandlungen potenzieller Freund*innen oder Feind*innen zu kommen. Lieber sagt deshalb: „Die Gefahr, dass rechte Urteile herauskommen und entweder Angeklagte deutlich benachteiligt oder bevorzugt werden, setze ich mit null an.“
Empörung und mediale Aufmerksamkeit beabsichtigt
Es ist anzunehmen, dass das auch vielen derer bewusst ist, die zum Schöff*innenamt geraten haben. Nicht nur Anwältin Schneiders, auch die Querdenker Haintz und Dahlmann sind nach eigener Aussage Juristen. Warum haben sie trotzdem aufgerufen? Eine mögliche Antwort darauf ist: weil sie genau wussten, wie viele Medien darüber berichten würden.
Die Aufrufe sind kein neues Thema. Auch bei der letzten Wahl vor fünf Jahren gingen sie durch die Presse. Damals hatte unter anderem die NPD aufgerufen – woraufhin nach Beobachtungen des NRW-Verfassungsschutzes kein*e einzige*r von ihnen Schöff*in geworden ist. Abgesehen von den Aufrufen habe es keine Aktionen gegeben, das zu bezwecken, sagt ein Sprecher auf Anfrage. Der NRW-Verfassungsschutz folgerte deshalb schon im Jahresbericht für das Jahr 2018, die NPD spekuliere mit den Aufrufen „auf öffentliche Empörung und damit öffentliche Wahrnehmung“.
Nun gibt es wieder solche Aufrufe und zahlreiche Medien schenken ihnen die gewünschte Aufmerksamkeit. Journalismusforscher Tanjev Schultz, der den medialen Umgang mit Rechtsextremismus untersucht hat, schreibt auf Nachfrage: „Das Schöffenthema war vielen als mögliche Problemzone vermutlich noch nicht bewusst. Daher erscheint es mir durchaus sinnvoll, wenn es dazu jetzt einige mediale Berichte gibt.“
Ablenkung von größerer Gefahr
Ein weiteres Problem der Medienberichte ist, dass sie von einer größeren Gefahr ablenken könnten. Durch die Berichte über rechte Schöff*innen dringen rechte Berufsrichter*innen gedanklich in den Hintergrund. „Natürlich“, schreibt Jurist Joachim Wagner auf Nachfrage, gehe von rechtsextremen Richtern eine größere Gefahr aus als von Schöffen. Auch Hasso Lieber und Andreas Höhne, der Präsident des deutschen Schöffenverbands, haben daran keine Zweifel.
Das liegt vor allem daran, dass die meisten Verhandlungen am Amtsgericht von Einzelrichter*innen durchgeführt werden. Die müssen niemanden überstimmen. Und sie müssen sich nicht absprechen. Dadurch werden rechtsextreme Einstellungen seltener entdeckt.
Schwieriger aus dem Amt zu bekommen
Wenn ein Schöffe als rechtsextrem auffalle, sei er relativ leicht aus dem Amt zu bekommen, sagt Jurist Lieber. Ein Richter hingegen genieße hohe Kollegialität. Ein Prozess, der einen rechtsextremen Richter des Amtes enthebe, sei wahnsinnig langwierig. Und selbst in Zusammenarbeit mit Schöff*innen haben rechte Richter*innen höhere Chancen, sich durchzusetzen, denn viele sprechen ihnen mehr Fachwissen zu.
„Dieses Hochjubeln des Themas rechtsextreme Schöffen hat zum Teil die Ersatzfunktion, dass wir über die Berufsrichter nicht reden müssen“, sagt Lieber. Und bezieht sich damit auch auf die Politik.
Erst vor Kurzem hat das Bundesjustizministerium erneut eine Gesetzänderung vorgeschlagen, die es verfassungsfeindlichen Schöff*innen im Amt schwieriger machen soll. Wie viel diese tatsächlich bringt, ist jedoch fraglich: Schon vor 15 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil klargestellt, dass auch Schöff*innen verfassungstreu zu sein haben.
Der Gesetzentwurf soll das, so schreibt es das Justizministerium in einer Pressemitteilung , „besser sichtbar“ machen. Ob er noch mehr bewirkt, sehen Experten unterschiedlich (siehe Infobox). Klar ist: Für das Ministerium ist die Gesetzänderung ein einfacher Weg, ein Zeichen gegen Rechtsextremismus in der Justiz zu setzen. Das mediale Interesse dafür ist groß genug.
Beitragsbild: Joscha Westerkamp [M] mit Bildmaterial von Wesley Tingey auf Unsplash